Entführung, Vergewaltigung, Mord: Taten, die nicht verurteilt wurden. Bis der Täter alles daran setzt, endlich seine Strafe zu bekommen. Nino Haratischwilis Die Katze und der General erzählt von Schuld und Sühne. Dabei bedient sich der Roman einer wahren Begebenheit und läuft Gefahr, ein fürchterliches Ereignis zu marginalisieren.
Von Valerij Laufer
Die siebzehnjährige Nura wünscht sich nichts mehr als ein Leben fern ihres Dorfes in den kaukasischen Bergen, in dem die jahrhundertealten Traditionen der Ahnen wichtiger sind als das Glück eines jungen Mädchens. Ihre einzige Flucht vor den Blicken und Erwartungen der alten Frauen sind ihre Tagträume, in denen sie jemand anders sein darf. Doch ihre Träume werden zerstört, als es in der Nacht unruhig wird und sie erfahren muss, dass jetzt Krieg herrscht.
Der junge Alexander wächst im Schatten seines Vaters auf, der in zwei Kriegen Medaillen gesammelt und Ruhm erlangt hat, doch er will nicht in die Fußstapfen des Kriegshelden treten. Sehr zum Leidwesen seiner patriotischen Mutter. Trotz seiner Bemühungen, seinem Schicksal zu entkommen, findet er sich schließlich als Soldat in einem tschetschenischen Dorf wieder. Er träumt von seiner Rückkehr, doch sein Leben erfährt eine scheußliche Wende, als er im Dorf auf ein einheimisches Mädchen trifft.
Über 20 Jahre später erhält eine georgisch-stämmige Schauspielerin, die von allen nur »Katze« genannt wird, das Angebot, in einem Video mitzuspielen. Der Auftraggeber sei ein reicher und mächtiger Oligarch aus Russland, und eigentlich habe sie keine Chance, nein zu sagen, versichert ihr der Überbringer des Angebots. Es sei wichtig, dass ausgerechnet sie in diesem Video mitspiele. Als ihr ein altes Bild eines Mädchens zugesteckt wird, das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist, spürt Katze, dass sich hinter dem dubiosen Angebot mehr verbirgt, als sie sich vorstellen kann.
Auf 750 Seiten lässt Nino Haratischwili die Schicksale unterschiedlicher Charaktere aufeinanderprallen, um eine moderne Version eines bekannten Themas zu ersinnen. Damit schaffte es die georgisch-stämmige Autorin auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018. In ihrem Schuld-und-Sühne-Roman will Alexander Orlow endlich Gerechtigkeit für eine Tat, die niemals bestraft werden konnte. Im ersten Tschetschenienkrieg klagt er sich selbst und seine Kameraden an, ein tschetschenisches Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben. Doch das russische Militärgericht will kein schlechtes Licht auf die Soldaten des eigenen Landes fallen lassen, und so erhält der Fall einen unbefriedigenden Ausgang. Als Orlow im Jahr 2016 – inzwischen reich, mächtig und von allen ehrfürchtig »der General« genannt – in Berlin das Gesicht des ermordeten Mädchens wiederzuerkennen glaubt, sieht er die Zeit seiner Sühne gekommen.
Ein hochspannendes Thema – mit problematischer UmsetzungBis man erfährt, wie die verschiedenen Einzelschicksale zusammenhängen, vergeht einige Zeit, denn der Roman erzählt kapitelweise die Geschichten verschiedener Personen, deren Leben auf komplizierte Weisen miteinander verwoben sind. Die Kapitel springen zwischen Protagonist*innen und Schauplätzen hin und her, und sparen am Ende wichtige Informationen aus, um mit einem Cliffhanger zu enden. Das bietet sehr viel Potential für einen spannenden Pageturner.
Schon im Prolog wird deutlich, dass die Informationen über die Charaktere durch ihre Gedanken und Erinnerungen vermittelt werden. Wenn die zentralen Figuren etwas unternehmen, erfahren wir viel über ihre Vergangenheit und wenig über ihre Handlungen in der Gegenwart. Vielmehr dienen diese oft als Aufhänger für eine neue Erinnerung. Diese Rückblenden helfen, die Dialoge und Entscheidungen der Charaktere nachzuvollziehen. Vor allem, weil sich die Handlung des Romans weniger in den Dialogen entscheidet als in den Gedanken der Protagonist*innen. Leider enden die Dialoge damit oftmals als gezwungene Lückenfüller und lesen sich wie Smalltalk. Gleichzeitig wirken die Handlungen wie konstruiert, um neue Erinnerungen zu rechtfertigen. Nicht selten kommt es vor, dass man zehn Seiten zurückblättern muss, um sich der Geschehnisse vor der Erinnerungsflut der Figuren zu entsinnen.
Man merkt der Autorin ihren Hintergrund als Dramatikerin an. Zahlreiche Metaphern und Anaphern lassen einen an Dramentexte denken, wenn sie bildhaft und sprachgewaltig erzählt, um hier und da besonders atmosphärische Momente zu schaffen. Schonungslos beschreibt sie die Kriegsrealität mitsamt Mord und Vergewaltigung. Ausführliche Biografien und reiche Gefühlswelten können Figuren glaubwürdig und lebendig machen, doch genau diese Elemente haben bei Katze einen gegenteiligen Effekt: Ausschweifende Erzählungen über Katzes Vergangenheit mit einem Wiener Komponisten und über ihre Familienverhältnisse sorgen in einem Großteil des Romans für Ermüdung beim Lesen. Ihre Vergangenheit wirkt künstlich und nur für den Zweck erschaffen, ihre Figur mehrdimensional werden zu lassen, die sich schließlich mit unlogischen Handlungen selbst widerspricht: zum Beispiel, als die sonst immerzu grübelnde Frau spontan einen Flug nach Moskau antritt. Doch nicht nur die Figur Katze leidet darunter, dass ihre Biografie zu ausführlich beschrieben wird. Jede neue Figur bekommt einige Seiten Rückblende, in denen ihre Vergangenheit erzählt wird. Spätestens, als die Tochter einer Freundin von Katzes Mutter beschrieben wird, darf man sich fragen: Wo ist der Bezug zum eigentlichen Thema?
Realitätsnah und erschreckend aktuellDabei ist der Hintergrund des Romans hochbrisant, denn er basiert auf einer wahren Begebenheit – die zudem erschreckend aktuell ist. Im zweiten Tschetschenienkrieg wurde die achtzehnjährige Elsa Kungajewa von einem russischen Offizier entführt, vergewaltigt und ermordet. Wie auch im Roman sei das Mädchen offiziell eine Scharfschützin gewesen. Es gab Vertuschungsversuche seitens der Regierung und unsaubere Ermittlungen. Die Autorin beschreibt sogar das Attentat auf den Anwalt der tschetschenischen Familie, der auf offener Straße erschossen wurde – was in Wirklichkeit erst 2009 geschah.
Gerade wegen des wichtigen Hintergrundes ist es besonders schade, dass der Roman viel Potential verschenkt, indem das Kriegsverbrechen und der Prozess zeitweise fast vergessen und zum Teil nur erwähnt werden, um ausführliche Beschreibungen der Gefühlswelt der Protagonist*innen anzufertigen. Besonders der Handlungsstrang um Katze vernachlässigt das eigentliche Thema. Dass gerade hier sprachliche Bilder oft klischeehaft werden, macht die Sache nicht besser: Hoffnungen blättern ab »wie alte Farbe von den Wänden«, Lieder handeln von »nach Hustensaft schmeckender Bitterkeit«, und Empörung kann »etwas Scharfes und zugleich Süßliches ausströmen – wie Limonade mit Pfeffer«. Bei der fünften Wiederholung wirken die »schweren Flügel der Schuld« leider nur noch kitschig. Die Katze und der General liest sich in weiten Teilen wie eine Buch gewordene Telenovela.
Dennoch schneidet die Geschichte um Nuras Ermordung einige wichtige Fragen an: Wie wird Schuld gesühnt? Muss sie überhaupt gesühnt werden? Kann ein Täter ohne Sühne noch ein normales Leben führen – vor allem wenn Frau und Kind nach eben diesem verlangen? Und was bringt das alles dem Opfer? Ab dem zweiten Teil verwandelt sich der Roman mit einem raschen Erzählstil und den spannenden Geschehnissen in Tschetschenien doch noch in einen Pageturner. Hier wird die Geschichte durch Dialoge und Handlungen vorangetrieben. Wer es bis hier durchhält, wird mit wichtigen Fragen zum Nachdenken belohnt. Schlussendlich hätte dem Roman eine Kürzung gutgetan. Mit einer schlankeren Handlung und weniger konstruierten Figuren wäre Die Katze und der General ein stärkeres Buch geworden, das mehr für ein wichtiges Ereignis hätte sensibilisieren können, anstatt es durch Abschweifungen zu marginalisieren.