»Der Puppenmeister No. II«: Der wunderbare Massenselbstmord erzählt vom Charme des Kollektivsuizids und der Suche nach dem Sinn des Lebens, Neville Tranters stattet seine Klappmaulfiguren in Punch and Judy in Afghanistan mit tiefschwarzem Humor aus und jagt sie durch die Wüste. Zwei Stücke für Erwachsene.
Von Simon Sendler
Auf der Bühnenmitte des Northeimer Theaters der Nacht steht eine mit Tarnnetz verhängte Stellwand, am Rand der Bühne zieren Mohnblumen das Bild. Doch trotz des Titels beginnt Punch and Judy in Afghanistan nicht in Afghanistan. Stattdessen ist der junge Niederländer Emil Kandidat in einer Realityshow, die Menschen zweite Chancen gibt. Um einer Haftstrafe zu entgehen, soll Emil den Puppenspieler Nigel (Neville Tranter, der das gesamte Stück auf Englisch präsentiert) als Assistent nach Afghanistan begleiten, wo dieser die Soldaten der westlichen Staaten unterhalten soll. Als Nigel dort ein Foto von Emil auf einem Kamel macht, erschrickt sich dieses vor dem Blitz der Kamera und nimmt mit Emil auf seinem Rücken Reißaus. Nigel verfolgt die Spur seines Assistenten bis zum Anwesen der Familie Bin Laden, wo er nur knapp seiner Enthauptung entkommt. Nach seiner Rückkehr nach Europa wird Nigel von den Medien als Held gefeiert, da er das Versteck der Bin Ladens entdeckt hat. Ihn plagt jedoch das schlechte Gewissen, dass er Emils Schicksal nicht klären konnte.
Punch and Judy in Afghanistan bietet wirklich gute Unterhaltung. Das ist insofern erstaunlich, weil sich der Grundton des Stücks durchaus als böse, düster und sogar ein wenige verstörend beschreiben ließe. Dabei orientiert sich Neville am traditionellen englischen Handpuppenspiel Punch und Judy, ein Zwei-Figurenstück, das, vergleichbar mit dem deutschen Kasperletheater, den übermütigen, mitunter gewalttätigen Punch in den Mittelpunkt stellt. Schon in der ersten Szene wird klar, dass diese Version von Punch and Judy nichts für sanfte Gemüter ist. Die Charaktere, auf die Nigel während seiner Suche trifft, wirken ähnlich überzeichnet und derangiert wie Emil, wohingegen Nigel der straight man ist, der trotz aller Bedrohungen nicht von seinem Vorhaben ablässt, Emil zu finden. Die meiste Zeit trifft Nigel dabei auf klassische Punch and Judy-Charaktere: das Krokodil tritt als opportunistischer Geschäftsmann auf, der den Afghanistankrieg als eine wunderbare business-Möglichkeit erkennt, dort Leichensäcke verkauft. Mit von der Partie sind außerdem ein Skelett, der Teufel und ein Baby. Punch selbst ist sogar gleich zweimal vertreten: einmal als der unethische Journalist, der Nigels Erlebnisse für eine große Story ausschlachten will und einmal als Bin Laden persönlich, dessen Frau die Judy gibt. Dass ausgerechnet der Anführer der Terroristen und ein Journalist aus der gleichen Figur entspringen ist gar nicht so abwegig: in ihrer Grausamkeit stehen sie einander in nichts nach, auch wenn der Journalist nie körperliche Gewalt anwendet.
Die reale Gefahr wird nicht nur durch die Bedrohungszenarien, die Nigel durchleben muss, evoziert. Die Lebenswelt sämtlicher Figuren ist von dem Motto »Töten oder getötet werden« bestimmt. Und so kommt auch nie Hoffnung auf, dass Emil noch leben könnte. Wenn das Krokodil seine Leichensäcke mit dem Argument anpreist, dass Nigel sie noch brauchen werde, ist das tatsächlich noch eine der dezenteren Anspielungen auf den Ausgang des Stücks. Als Nigel zuletzt das Versteck der Bin Ladens entdeckt, häufen sich die Indizien für den Tod Emils durch Enthauptung. Die Ungewissheit über seinen Verbleib wird dann noch durch sprachliche Zweideutigkeiten in der Schwebe gehalten. Die Bin Ladens verwechseln mit Vorliebe »meet« und »meat«, während »Emil« nicht zufällig wie »a meal« klingt. Tranter schafft hier eine einzigartige groteske Stimmung, während er gleichzeitig die Konventionen des Genres bedient, dessen Humor oft auf sprachlichen Missverständnissen beruht.
Bei einer Zusammenschau der einzelnen Elemente ist es fast verwunderlich, dass Punch and Judy in Afghanistan nicht einfach nur böswillig, zynisch und abartig daher kommt. Durch Tranters hervorragendes Spiel mit den farbenfrohen Klappmaulfiguren erhält das Stück einen ganz eigenen Reiz. Die eher lose Aneinanderreihung der Szenen und die Absurdität des gesamten Verlaufs machen Punch and Judy zu einem bösen Traum, aus dem man trotz aller Widrigkeiten nicht aufwachen möchte. Das mag nicht für jeden das Richtige sein, aber wer einen Sinn für das Makabre und schwarzen Humor hat, wird bestens unterhalten.
Mittsommer-SuizidÄhnlich schwarzen Humor bietet auch Der wunderbare Massenselbstmord, nach dem gleichnamigen Roman des finnischen Autors Arto Paasilinna. Das Bühnenbild wirkt auf den ersten Blick irritierend freundlich, alles scheint für eine Mittsommerfeier bereit zu sein: der Ort ist bunt dekoriert, ein Grill und ein Servierwagen stehen bereit. Letzterer beherbergt vor allem Alkohol, denn eine der größten Freuden der Finnen ist anscheinend das Trinken.
Einen besonderen Reiz bekommt das Stücks dadurch, den erwarteten guten Ausgang der Handlung für die meiste Zeit in Frage zu stellen. Die Puppenspielerinnen Stella Jabben (Theater Blaues Haus) und Anne Swoboda (Theater 7Schuh) stellen so etwas wie Schicksalsgöttinnen dar, deren Kontakt zur »Zentrale«, von der sie ihre Anweisungen bekommen, kurz bevor der Bus am Nordkap im Meer versenkt werden soll, abreißt. Die gesamte weitere Handlung stellt den Wunschverlauf der zwei Göttinnen dar, dass die Reisegruppe von ihrem Selbstmordplan ablässt.
Roadmovie in MiniaturformatDie verschiedenen Handlungsebenen – die der Schicksalsgöttinnen und die der Selbstmordinteressierten – verstricken sich dabei immer wieder. Zusätzlich werden immer wieder mehr oder weniger authentische finnische Mythen in die Geschichte verflochten, die zeigen, wie die Finnen mit der Dunkelheit des Lebens im hohen Norden umgehen. Dieses ineinandergreifen der Szenen baut eine beizeiten sehr komplexe Erzählung auf. Da sie aber gleichzeitig sehr gut ausgearbeitet ist, kann man der Handlung zu jedem Zeitpunkt und unabhängig vom Trubel, der beizeiten auf der Bühne herrscht, stets gut folgen.
Bei dem abwechslungsreichen Geschehen ist es fast erstaunlich, dass Der wunderbare Massenselbstmord die Zeit findet, die TeilnehmerInnen der Reisegruppe, auf die sich die Erzählung konzentriert, so ausführlich und liebevoll vorzustellen. Das ist allerdings bitter nötig, denn wenn die Charaktere weniger ausgemalt worden wären hätte das Publikum weder einen Anreiz, mit ihnen mitzufühlen, noch würde man verstehen, wieso am Ende alle von ihrem Selbstmordplan ablassen.
Ohne TrivialisierungsverdachtDas Stück glänzt nicht nur durch die vielgestaltige Komposition, sondern auch durch seine technische Umsetzung. Die Reisenden werden überwiegend durch Stabfiguren dargestellt. Immer wieder wird aber auch der Tisch eines Servierwagens zur Spielfläche. Mal mit kleinen Tischfiguren, wenn eine Massenszene dargestellt wird, mal als Unterlage, auf der Fotos präsentiert werden, um den Verlauf der Reise zu dokumentieren. Finnische Mythen werden gezeichnet, indem die durchsichtige Tischplatte mit Sand bestreut und von unten beleuchtet wird.
Die auf dem Tisch gespielten Massenszenen werden zudem von einer Kamera aufgenommen und per Beamer auf die Bühne projiziert. Die Technik ist hier sehr effektvoll eingesetzt. Durch die Einspielungen von Fotos und durch die Sequenzen, in denen der Bus einfach nur über die Bühne fährt, erhält das Stück den Charakter eines Roadmovies. Letztendlich ist Der wunderbare Massenselbstmord nämlich genau das: ein Roadmovie im Format des Figurentheaters, das durch skurrilen Humor und die Suche nach einem Sinn in ihrem Leben genrekonform perfekt gemacht wird.
Die wohl beeindruckendste Leistung ist aber, dass es das Stück schafft, das Thema Selbstmord mit viel schwarzen Humor greifbar zu machen, ohne es zu trivialisieren. An keinem Punkt kommt der Eindruck auf, die Menschen der Reisegruppe seien lediglich einsam und missverstanden und verständnisvolle Freunde seien alles, was ihnen gefehlt hätte. Die Beziehungen, die sie während der Reise knüpfen, sind natürlich nicht bedeutungslos, aber letztendlich hat jeder Charakter eigene Probleme und später unterschiedliche Gründe, von seinem oder ihrem Selbstmordplan abzulassen. Somit schafft es auch Der wunderbare Massenselbstmord, seine düstere Thematik äußerst ansprechend und unterhaltsam aufzubereiten