Mit Erzähltheorie. Eine Einführung unternehmen Tilmann Köppe und Tom Kindt den Versuch, ein neues Standardwerk vorzulegen. Wie sich das Buch im narratologischen Diskurs – vor allem gegenüber den bisherigen ‘Platzhirschen’ – positioniert und welche Perspektiven es für Studierende eröffnet, erklärt Kevin Kempke.
Der vielbeschworene Methodenpluralismus macht auch vor der Narratologie nicht halt. Nachdem lange Zeit das strukturalistische Paradigma maßgeblich war, floriert seit einigen Jahren besonders die postklassisch ausgerichtete Erzähltheorie, die eine Ausweitung des Gegenstandsbereiches propagiert und nicht nur textuelle, sondern auch kontextuelle Aspekte des Erzählens betrachtet. Während dieses Gebiet noch relativ wenig kanonisierte Werke aufweist und daher eher unübersichtlich ist, herrscht auf der klassischen Seite zumindest in einem Punkt vergleichsweise große Einhelligkeit: Zwar nicht ohne Kritik, aber doch größtenteils wohlwollend rezipiert, hat sich die Einführung in die Erzähltheorie von Matías Martínez und Michael Scheffel als Standardwerk in der Forschung und vor allem in der Lehre etabliert. Der 1999 erstmals erschienene Einführungsband befindet sich inzwischen in der 9. Auflage und ist ein Fixpunkt in Bachelor-Studiengängen von Kiel bis Koblenz. Kaum ein Studierender, der in den letzten Jahren nicht durch die von Gérard Genette inspirierte strukturalistische Schule von Martínez/Scheffel gegangen ist. Auch wenn die Einhelligkeit im Fach damit nur einen kleinen Bereich umfasst, ist sie in ihrer Wirkung doch nicht zu unterschätzen. Denn für diejenigen, die sich nicht primär mit narratologischen Problemen beschäftigen, ist das durch Martínez/Scheffel popularisierte Begriffsinventar zum Standardwerkzeug für die Textanalyse geworden.
Die Gliederung des Buches ist von überzeugender Klarheit. Es umfasst vier große Kapitel, die jeweils sinnvoll untergliedert sind und durch aussagekräftige Zwischenüberschriften das präzise Ansteuern bestimmter Fragestellungen ermöglichen. Köppe und Kindt folgen in der Anlage ihres Bandes dabei größtenteils einer im Genre der narratologischen Grundlagenbücher gängigen Einteilung. Nach einer Klärung des Gegenstandsbereiches der »Erzähltheorie« in Kapitel 1, widmen sie sich im zweiten Kapitel den grundlegenden Begriffen »Erzählung« und »Fiktionalität«. Das dritte Kapitel beschäftigt sich unter dem Titel »Aspekte des Erzählten« mit der Handlung, den Figuren und den Ebenen des Erzählens, während im vierten und letzten Kapitel schließlich die »Darstellung der Erzählwelten« mit Unterkapiteln zur Zeitstruktur, Mittelbarkeit, Perspektive und (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählten besprochen wird. Ähnlich wie etwa bei Martínez/Scheffel, lässt sich bei dieser Gliederung eine Orientierung an der klassischen Unterscheidung von »Was« und »Wie« des Erzähltextes erkennen, auch wenn Köppe und Kindt die entsprechenden Begriffe (ebenso wie etwa »histoire« und »discours«) vermeiden.
GrenzziehungenDie Autoren gehen also mit einem für Einführungswerke vergleichsweise großen selbstreflexiven Aufwand vor. Vor allem das erste Kapitel, in dem sie ihr Verständnis von Erzähltheorie darlegen, setzt deutliche methodische Akzente. Nach einer etwas knappen Skizze der Geschichte ihres Gegenstandes nähern sich Köppe und Kindt der Erzähltheorie zunächst wissenschaftstheoretisch. Es werden zwei im Fach vorherrschende Tendenzen benannt, die Funktion der Narratologie zu bestimmen: Sie diene einerseits der »deskriptiven Erfassung des Gegenstandes«, andererseits liefere sie einen »heuristischen Beitrag zum Umgang mit dem Gegenstand« (S.30). Diese teils als Gegensatz verstandenen Funktionszuschreibungen werden von den Autoren als miteinander kompatibel angesehen. Auf Grundlage dieser Bestimmung des Gegenstandes sprechen sich Köppe und Kindt für ein klassisches Narratologieverständnis aus. Sowohl die Ausdehnung des Gegenstandsbereiches auf alle möglichen Formen des Narrativen abseits der Literatur wie auch die Erweiterung der Narratologie zu einer Interpretationstheorie werden abgelehnt. Auf plausible Weise plädieren die Verfasser für ein »modulares« (S. 36) Theorieverständnis, das die Koexistenz verschiedener zweckgebundener Theorien der Tendenz zu expansiven Theoriekonzeptionen vorzieht. Die Autoren schließen ihr propädeutisches Einleitungskapitel mit einem Abschnitt zu Begriffen und Begriffsbestimmungen, der gleichsam das methodische Programm des Buches auf den Punkt bringt. Die Verfasser wollen im Folgenden Äquivalenzdefinition geben (S. 38f.), also Definitionen, die notwendige und hinreichende Bedingungen angeben, während sie sich den Ansprüchen nach der Begriffsexplikation verschreiben. Mit Rudolf Carnap werden Begriffsexplikationen dabei als Präzisierungen von bislang undeutlichen oder uneinheitlich verwendeten Begriffen verstanden (S.40).
Dieser wissenschaftstheoretische Vorspann mag dabei für Studienanfänger, die vor allem an den heuristischen Aspekten einer solchen Einführung interessiert sein dürften, etwas lang geraten sein, hat aber programmatischen Charakter: Sowohl die genaue Darlegung der eigenen Ziele wie auch die Überlegungen zur Wissenschaftlichkeit mit ihrem Schwerpunkt auf begrifflicher Schärfe und klarer Argumentationsweise lassen sich dabei als Plädoyer an Studienanfänger interpretieren, den vorgestellten Idealen nachzueifern. Und nicht zuletzt mag darin auch eine Spitze gegen Positionen, die es an der eingeforderten begrifflichen Präzision fehlen lassen, zu finden sein. Deutlich wird jedenfalls die zum Distinktionsgewinn gegenüber anderen Ansätzen doppelte Abgrenzung der Autoren: zum einen von einer postklassischen Narratologie, zum anderen von Vorgängern im eigenen Bereich.
Vor dem Hintergrund des eben Skizzierten und der Positionen, die Köppe und Kindt bisher in narratologischen Debatten vertreten haben, überrascht es nicht, dass sich die Autoren in ihrem Einführungsbuch häufig auf Vertreter der angloamerikanischen analytischen Kunstphilosophie beziehen, wie etwa Peter Lamarque. Während die analytische Orientierung in ihrer Haltung zum Gegenstand das ganze Buch durchzieht, hat sie inhaltlich vor allem im zweiten Kapitel Bedeutung. Im Anschluss an John Searle und weiteren Vertretern der pragmatischen Richtung geben sich Köppe und Kindt als Vertreter eines institutionellen Fiktionalitäts- und Literaturbegriffs zu erkennen (S. 84-90 bzw. 97-102). Was Fiktionalität ist, lasse sich also nicht absolut oder anhand textueller Merkmale bestimmen, sondern beruhe auf Konventionen und Regeln. Besonders in der daran anschließenden These, dass keineswegs jede fiktionale Erzählung einen fiktiven Erzähler habe, entfernen sich die Autoren am stärksten von Martínez/Scheffel und anderen häufig vertretenen narratologischen Positionen. Während hier also im Vergleich zu anderen Einführungen eine distinktive Akzentuierung zu bemerken ist, folgen Köppe und Kindt in den Kapiteln 3 und 4 hingegen in vielen Punkten Genette bzw. Martínez/Scheffel, auch wenn sie dabei immer wieder – dem Programm der Begriffsexplikation folgend – Ergänzungen und Präzisierungen vornehmen. Stärker als bei Martínez/Scheffel wird etwa auf die Interpretationsabhängigkeit der Bestimmung von Fokalisierungen aufmerksam gemacht (S. 213) oder der Begriff der erzählerischen Iteration geschärft (S. 190f.).
Auch wenn das eingangs erklärte Ziel der Autoren, zwischen Eigenem und Bewährten zu vermitteln, auf diese Weise grundsätzlich erfüllt ist, kommen die Diskussionen verschiedener Positionen manchmal etwas kurz. Das ist im Rahmen einer Einführung, die ja vordringlich vor der Aufgabe steht, Studierenden eine Heuristik an die Hand zu geben, zwar verzeihlich, führt aber dazu, dass über einige in der Sekundärliteratur häufig verwendete Begriffe keine Auskunft gegeben wird. Klassiker wie etwa »histoire« und »discours« werden mit Hinweis auf ihre uneinheitliche Verwendung nicht weiter diskutiert (S.108). Das Buch von Köppe/Kindt ist daher weniger dazu geeignet ist, sich über narratologische Positionen in der Breite zu informieren. Das geht anderswo besser: Für die Kombination ausführlicher Forschungsabrisse mit der Entwicklung eigener Positionen ist unter den Überblicksdarstellungen etwa besonders Wolf Schmids Elemente der Narratologie (Berlin 2005) hervorzuheben.
FazitFestzuhalten bleibt, dass Tilmann Köppe und Tom Kindt mit ihrer Einführung in die Erzähltheorie ein empfehlenswertes Werk vorgelegt haben, das die Erwartungen an einen Einführungsband gut erfüllt und zu sehr großen Teilen auch den eigenen Ansprüchen gerecht wird. Ob sie die bewährte Einführung von Martínez/Scheffel verdrängen kann, bleibt freilich abzuwarten, nicht zuletzt weil hier auch die Unwägbarkeiten fachinterner Dynamiken zu beachten sind, etwa wie sich das Verhältnis von klassischer zu postklassischer Erzähltheorie entwickeln wird. Eines lässt sich aber sicher sagen: Marktstrategisch ist das Buch von Köppe und Kindt in der bewährten »grünen Reihe« von Reclam bestens positioniert und mit 9,80€ ist es das zurzeit günstigste Einführungswerk in die Narratologie. Die Chancen, dass Köppe/Kindt bei Studierenden genauso zu einem stehenden Begriff wie Martínez/Scheffel wird, stehen also vielleicht nicht so schlecht.
Wie verträgt es sich eigentlich mit den Standards hier, wenn ein Göttinger Student (?) in einem Magazin, das irgendwie wohl zu einem Göttinger Institut gehört, ein Buch eines Göttinger Professors und eines ehemaligen Mitarbeiters dieses Instituts rezensiert? Das fragt man sich auch, weil hier außerdem schon Publikationen/Veranstaltungen von den Mitarbeitern dieses Magazins besprochen wurden (immer überschwänglich bis devot). Zudem sollten Student*Innen vielleicht nicht über Personal schreiben, von dem sie evtl. noch geprüft werden…
Lieber Gast,
vielen Dank für diesen Kommentar. Die von Ihnen angesprochenen Aspekte sind auch uns wichtig. Dass es bei Litlog zu den von Ihnen angemahnten Konstellationen kommen kann, bei denen Studierende (allerdings in seltenen Fällen) auch über Dozierende schreiben, bleibt leider bei einem solchen Projekt (das immer auch eine Übungsplattform für kulturjournalistisches Schreiben ist) nicht aus, zumal Texte für Litlog auch immer mal wieder aus Seminarveranstaltungen heraus entstehen. Dass sich daraus bisher eine irgendwie unausgewogene Berichterstattung ergeben hätte, sehen wir allerdings nicht, und dass auch deshalb, weil die Redaktion der Artikel in solchen Fällen nicht in den Händen der jeweils Involvierten liegt, mehr noch aber, weil wir durchaus zu trennen wissen zwischen dem regulären Unibetrieb und dem Projekt hier.
Publikationen von Litlog-Redaktionsmitgliedern oder -Herausgebern sind, soweit wir sehen, bisher nicht auf Litlog besprochen wurden. Dass, wie in diesem Artikel der Fall, die Einführung eines Göttinger Professors (der mit Litlog nichts zu tun hat) besprochen wird, sehen wir ebenfalls nicht als grundsätzliches Problem – wir haben auch schon andere Einführung in die Erzählttheorie besprochen (z.B. http://www.litlog.de/ein-weites-feld-gut-bestellt/); zudem ist die hier besprochene Einführung durchaus ein Standardwerk, das insbesondere für das studentische Publikum von Litlog sehr interessant sein kann.
Litlog ist, das vielleicht zum Schluss, ein Magazin, das eng mit dem universitären wie studentischen Leben Göttingens verzahnt ist – und sich gerade auch Göttingen-bezogenen Ereignissen widmet. Wir sehen das auch als Teil des Publikationsprofils. Dabei kann es selbstverständlich auch zu Rollenüberlagerungen kommen. Wir achten sensibel auf das, was da passiert. Und werden, auch mit Ihrem Kommentar im Hinterkopf, weiterhin sensibel sein. Nichts liegt uns ferner als Tendenzberichterstattung. Und wenn Ihnen, nebenbei, ein einzelner Text tendenziös vorkommen sollte, räumen wir Ihnen – hier in den Kommentaren oder in Form eines Einzelartikels – gern die Möglichkeit ein, eine begründete Gegenposition zu formulieren.
Mit freundlichen Grüßen
Die Litlog-Redaktion