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Vernissage
Über Doku-Kunst zur Diskussion

In Göttingen bilden Kunst und Wissenschaft schon lange kein Gegensatzpaar mehr, sondern vielmehr spannende Zwischenräume, die zum diskutieren einladen. Das Queerstanbul-Kollektiv liefert schlagfertige Argumente, warum (Kultur-)Wissenschaft mehr sein sollte, also nur ein Text in einer Schublade.

Von Franziska Weidle

Sei es die Erforschung des Alltagslebens hier oder die sozialer Strukturen da – die Vertreterinnen der Vielnamenfächer sind spätestens seit der Repräsentationskrise nicht nur darum bedacht, wie sie ihre Erkenntnisse generieren, sondern auch darum, wie sich diese darstellen lassen. Komplexe kulturwissenschaftliche Zusammenhänge, die sich durch eine hohe Gesellschaftsnähe aus- und eine subjektive Wahrnehmung abzeichnen und zugleich dem wissenschaftlichen Objektivierungszwang unterliegen, stellen eine echte Herausforderung für die Vermittlungsarbeit dar.

Die Ausstellungspraxis ist auf diesem Gebiet wohl die gängigste Alternative zur schriftlichen Publikation und hier in Göttingen vertreten durch die aus 17.000 Ethnographica bestehende Ethnologische Sammlung der Universität. Diese ermöglicht den Studierenden erste Erfahrungen im Bereich der Museumspraxis zu sammeln und der breiten Öffentlichkeit Einblicke in die kulturellen und künstlerischen Praktiken außereuropäischer Ethnien zu geben.

Ausstellung

Queerstanbul im Überblick
7.12. – Vernissage
8.12. – Vortrag: »Männliche Sexarbeiter unterwegs – Ethnografische Skizzen zu einer multilokalen Lebensform«
10.12. – Tea & Talk: Die Ausstellungsorganisatorinnen berichten von ihren Feldforschungserfahrungen in Istanbul und von ihrer Ausstellungsarbeit.
12.12. – Filmabend My Child (Türkei 2013)
13.12. – Kinder-Malstunde
14.12. – Finissage Foto-Präsentation Isn’t it love? der Künstlerin Ceren Saner (Istanbul)
Alle Veranstaltungen finden im Gewölbekeller des Künstlerhauses Göttingen in der Gotmarstr. 1 statt. Der Eintritt ist frei.

 
 
Jüngst feierte darüber hinaus die Ausstellung Haunted Thresholds im Alten Rathaus Vernissage, die der Kunstverein in Kooperation mit dem hiesigen Forschungsnetzwerk DORISEA auf die Beine stellte – ein Verbund aus WissenschaftlerInnen, die deutschlandweit in verschiedensten Teilprojekten die Dynamiken von Religion in Südostasien erforschen. Hier fusionierten unter der künstlerischen Leitung der australischen Kuratorin Lauren Reid Forschungserkenntnisse des Netzwerks, Ethnographica der Sammlung und indigene Kunstobjekte zu einem öffentlichen Happening.

Das Institut der Kulturanthropologie probiert sich in diesem Bereich auch nicht erst seit gestern aus. Integraler Bestandteil des Lehr- und Forschungsprogramms ist der Schwerpunkt Curriculum Visuelle Anthropologie. Hier haben die Masterstudierenden die Möglichkeit, sich auf die Theorie und Praxis des kulturwissenschaftlichen Films zu spezialisieren – einem Medium, das in sich selbst eine Synthese aus Wissen und ästhetischer Bearbeitung markiert. Dabei entstehen im zwei-Jahres Turnus Kurz- und Langfilmprojekte, die meist im lokalen Programmkino Lumière zu sehen sind oder wie bei dem Lehrforschungsprojekt 2011-2013, Movements of Migration, als Videoinstallationen Teil einer Ausstellung werden können.

Queerstanbul will sichtbar machen, was hinter Institutstüren oft verschlossen bleibt

Jenseits dieser filmischen Ausrichtung probieren sich Göttinger KulturanthropologInnen nicht selten an neuen und innovativen Formaten, um ihre Forschungserkenntnisse aus dem Institut hinaus an die Öffentlichkeit heran zu tragen. So nun auch das Kollektiv um das ethnografisch-künstlerische Ausstellungsprojekt Queerstanbul, bestehend aus den Kulturanthropologinnen Susanne Klenke, Margaux Jeanne Erdmann und Laura Stonies sowie dem Architekturstudenten Dave Tkaczyk., der die drei bei der Austellungsgestaltung unterstützt. Den entscheidenden Impuls lieferte das von Prof. Dr. Sabine Hess und Dr. Gerda Heck im letzten Wintersemester angebotene Forschungsseminar zur Thematik Global City Istanbul. Während die Gesamtheit der daraus resultierenden Einzelprojekte auf einer digitalen Ausstellungs-Webpage präsentiert werden wird, basieren die Ergebnisse der zwei Exkursionen nach Istanbul, die es ab diesem Sonntag im Gewölbekeller des Künstlerhauses zu bestaunen und entdecken gilt, auf reiner Eigeninitiative der drei Forscherinnen.

Im Zentrum des Projekts stehen die Alltagserfahrungen sogenannter LGBTIQ-Personen (Kürzel für Lesbian, Gay, Bisexual und Trans, Intersexual and Questioning) in Istanbul, wie sie sich besonders am Beispiel der Pride Week verdichten und dort erforschbar werden. Dabei handelt es sich um ein internationalisiertes Movement der queeren Szene voller friedlicher Demonstrationen, Panels und Workshops auf den Straßen von Istanbul. Im Interview bei gemütlicher Atmosphäre im Göttinger »Küchenbüro« berichten mir Susanne, Margaux und Laura von ihrem Vorhaben, Aufklärung zu betreiben, Berührungsängste abzubauen und ihren Beitrag zum Diskurs um Liebe, Sexualität und Geschlecht auch unabhängig von Istanbul so zu reproduzieren, dass er nicht nur gesellschaftlich sichtbar, sondern auch zu einer alltäglichen Diskussion werden kann. Auf die Frage nach ihrer Motivation, sich solch eines Mammutprojekts anzunehmen, entgegnet Margaux:

Es war ein düsterer Februarabend, nachdem man alle Hausarbeiten abgegeben hatte und sich dachte: Oh Gott, was mache ich mit meinem Leben? Ich brauche etwas Sinnstiftendes!

Dieses »Sinnstiftende« manifestierte sich schnell in Form eines Ausstellungskonzepts, das für Margaux auch eine Antwort auf die von ihr identifizierte Schieflage des jahrelangen Kulturanthropologie-Studiums zeitigte: die Forschungsergebnisse zur öffentlichen Diskussion stellen zu können, anstatt diese wie so viele Bachelor- und Masterarbeiten in einer Schublade verschwinden zu lassen. »Die Absurdität besteht doch darin«, ergänzt Susanne, »das Alltagsleben von Menschen zu erforschen, aber nicht mit dem, was man tut, selbst Alltag von etwas werden zu können«. Die erfolgreiche Teilnahme am Studierendenwettbewerb Kreativität im Studium der Universität lieferte schließlich den letzten (nicht ganz unerheblichen finanziellen) Anstoß, mit Hilfe der Ausstellung einen Raum zu schaffen, in dem verschiedenste Expertise und Materialien aufeinandertreffen und die Relevanz und Weiterverwertbarkeit der Forschungsergebnisse im öffentlichen Diskurs überprüft werden können.

V. l. n. r. Dave Tkaczyk, Margaux Jeanne Erdmann, Laura Stonies und Susanne Klenke

Die drei Studentinnen schritten diesem Unterfangen nicht ganz unbedarft entgegen: Margaux absolvierte bereits unter anderem das Volontariat am Literarischen Zentrum Göttingen und Laura unterstützte die Organisation von Jugendprojekten und Veranstaltungsreihen im Rahmen ihres FSJs Kultur in der Gedenkstätte. Dass die Begegnung von künstlerischem und wissenschaftlichen Interesse für die involvierten Parteien eine echte Herausforderung darstellen kann, erlebte Susanne während ihrer Teilnehme am letzten Lehrforschungsprojekt des Instituts, das in Zusammenarbeit mit dem Jungen Theater Göttingen in dem Dokumentartheaterstück Schön, dass ihr da seid! mündete. Wer bei der Premiere des Stücks dabei gewesen ist, hat sicherlich etwas von den Diskrepanzen dramaturgischer und kulturanthropologischer Ansprüche gespürt.

Durch Feingefühl auf Augenhöhe

Da die Idee der Ausstellung von Beginn an das Forschungsdesign prägte, reihten sich zu den klassischen Feldforschungsmethoden in Istanbul, teilnehmende Beobachtung oder narrative Interviews, Methoden der visuellen Anthropologie. Dabei stand neben dem Fokus auf wissenschaftliche Fragestellung der sensible Umgang mit Foto- und Videokamera auf der Tagesordnung, nicht nur weil das sowieso zu den ethischen Grundvoraussetzungen kulturanthropologischen Handwerkszeugs gehört, sondern auch weil viele der LGBTIQ-Personen in der Türkei noch nicht geoutet sind, auch wenn sie sich auf der Pride Week vielleicht so präsentierten. So ging es auch nicht darum, den »coolsten Bildern hinterherzujagen«, sondern entsprechend den individuellen Gegebenheiten aus dem Repertoire an Audio-, Foto- und Videoaufzeichnungsgeräten, aber auch dem traditionellen Notizblock jeweils das entsprechende Medium auszuwählen. »Das Herz, das die TeilnehmerInnen der Pride Week in uns erkannt haben, haben wir in Form eines herzlichen Willkommensgefühls zurückbekommen«, erzählt Susanne und deutet dabei auch darauf, wie die Kamera in der Hand allmählich zum Türöffner wurde.

»The movement needs people«

Entgegen meiner naiven Vermutung, die eigene Sexualität könne eine entscheidende Rolle für den Zugang zu diesem Feld spielen, erwidert Margaux mit den Worten von Merwe, die Protagonistin einer der Filme, der während der Forschung entstand: »The movement needs people«. Es geht nicht nur darum, allein für seine Rechte einzutreten, sondern darum, gesamtgesellschaftlich anzuerkennen, dass es sich hier um ein Menschenrecht für sexuelle Vielfalt und Freiheit handelt. »Es ist schon eine traurige Form der Homophobie«, ergänzt sie, »wenn man Angst hat, sich mit der Gruppe zu solidarisieren, weil man dadurch als nicht-heterosexuell markiert werden könnte«. Ein viel größerer Spiegel der Selbstreflektion und Selbstverortung wird den drei Studentinnen in Form ihrer Herkunft vorgehalten: Nicht selten sahen sie sich mit der Frage konfrontiert, ob sie aus dem Orientalismus-Gedanken heraus ihre Forschung nach Istanbul verlegt hätten. Nichts läge ihnen ferner, ao beteuern die Forscherinnen, als einen wertenden Vergleich zwischen einem »uns« und einem »euch« zu machen.

Der Mehrwert liegt im Zwischenraum

Das Ausstellungsdesign soll diese Facetten aufgreifen und vor allem im ersten Raum des Gewölbekellers des Künstlerhauses die Visualität und Körperlichkeit der Feldforschungserfahrung in einem »Spaziergang durch den Pride March« nach Göttingen holen. So werden die gezeigten Fotografien auch von einer Soundcollage begleitet sein, die die Schlachtrufe der DemonstrantInnen wiedergeben. Der zweite Raum, »das Wohnzimmer«, lädt zum Verweilen ein. Hier werden Filme gezeigt, aber auch, wie am Mittwoch, den 10.12.2014, bei Tea&Talk Diskussionen eröffnet. Die künstlerische Bearbeitung steuert dazu den entscheidenden Mehrwert bei, denn hier wird keine abgeschlossene, lineare und objektive Arbeit präsentiert. Es geht vielmehr darum, verschiedene Lesarten aufzumachen, Anstöße zu liefern und eine Plattform des regen Austauschs zu schaffen. Vor allem aber geht es darum, den Alltagserfahrungen der Akteurinnen gerecht zu werden und ihnen ihre eigene Stimme zu lassen. Das gelang beispielsweise mit gefilmten Interviews, aber nur bei der Begegnung auf gleicher Augenhöhe und der Einladung zur Partizipation, wie die Forscherinnen berichteten. So werden auch die Werke der zwei türkischen Künstlerinnen Ceren Saner und Elif KK Teil der Ausstellung.

Queerstanbul…

…das ist für mich schon jetzt ein weiteres vielversprechendes Projekt in der Göttinger Kulturlandschaft, das Reflexionen über die Synergie von Wissenschaft und Dokumentarkunst anregt. Queerstanbul, das ist in den Worten der Ausstellungsmacherinnen »weder der Anfang, die Mitte noch das Ende, sondern der Moment von Kontakten jeglicher Art«. Wer sich für mehr interessiert, der sollte teilnehmen – ab heute, den 7.12.2014 um 11 Uhr.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 7. Dezember 2014
 Kategorie: Misc.
 Ausschnitt aus dem Veranstaltungsplakat des Queerstanbul-Kollektivs
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