Die dramatische Lesart der Welt – der Autor und Dramaturg John von Düffel hatte als Göttinger Poetikdozent seinem ersten von zwei Vorträgen in der Aula am Wilhelmsplatz einen ziemlich hochgegriffenen Titel gegeben. Dazu auch noch schwarzer Denker-Rollkragen Pulli, Intellektuellen-Brille und die Hand in Denkerpose zum Kinn geführt – auf den ersten Blick erschien der Vortrag eine jener Veranstaltungen zu werden, bei denen 90 Minuten lang mit unverständlichen Begriffen um sich geschmissen wird, um das Publikum dann mit einem großen Fragezeichen im Gesicht zu entlassen.
Von Verena Zimmermann
Doch falsch gedacht: John von Düffel bezog seinen zunächst etwas kryptisch klingenden Vortragstitel tatsächlich auf etwas ganz Simples: Etwas, das in dieser Web 2.0-Welt immer seltener wird: Erfahrung.
»Bei der dramatischen Lesart der Welt geht es um sinnliche Qualitäten, den Moment der Wahrnehmung. Kurz: Das, was ein Geschehen wirklich ausmacht«, erklärte er. Das Theater sei einer der wenigen verbleibenden Orte der Erfahrung. »Das Publikum macht eine gesellschaftliche Erfahrung, man sitzt gemeinschaftlich vor dem Vorhang und bevor sich dieser hebt, schreibt jeder der Zuschauer in Gedanken sein eigenes Erwartungsstück.«
Das Publikum nehme aktiv an dem Theaterabend teil und sei dadurch so etwas wie der zwölfte Mann im Fußball, reduzierte der Autor das komplexe Thema auf ein einfaches Beispiel. Diese Fähigkeit, diffizile Gedankengänge in einfachen Metaphern des täglichen Lebens auszudrücken, prägte seine Lesung. Selbst wem Brecht, Aristoteles oder Lessing vor der Veranstaltung völlig fremd waren, konnte den anschaulichen Erklärungen des – trotz Bohèmien-Rollis – ziemlich sympathischen Schriftstellers leicht folgen. Beweisstück A: John von Düffels Erklärung des Faktors »Zeit« im Theater: »Man gibt als Zuschauer die Hoheit über die eigene Zeit ab. Das beginnt ganz banal beim Ablegen der Mäntel an der Garderobe«. Eine weitere Besonderheit: Die Zeit im Theater sei eine analoge, keine digitale Zeit. »Im Theater kann man nicht weiterzappen«, begründete er in seiner nonchalanten Art.
Ich schaute um halb zehn auf die Uhr und es war erst Viertel nach acht»›Sie haben gehustet‹ – wenn ein Schauspieler diesen Satz nach einer Aufführung sagt«, so von Düffel weiter, »ist so ziemlich das Schlimmste passiert: Es ist nicht gelungen, das Publikum in die eigene Zeit des Stückes zu ziehen und dadurch ist es auf seine biologische Uhr zurückgeworfen«. Seien die Zuschauer nicht völlig von einem Stück gefangen, falle ihnen plötzlich auf, dass sie ein Kratzen im Rachen hätten und dringend husten müssten. Die Körper der Zuhörer wehrten sich gegen die unbequemen Sitze und es komme geradezu zu »orthopädischen Verschiebungswellen« im Publikum.
Doch wie kann man die Zuhörer in das Geschehen bannen? Die Antwort: Aus dem Hier und Jetzt im Erzählen des Theaters werde das Hier und Jetzt des Zuschauerraums, wenn man dem Theatererlebnis das Moment der Gefahr hinzufüge. »In Gefahrensituationen erreicht man einen Zustand extremer Gegenwärtigkeit«, legte er dar. »Wir sehen im Theater beispielsweise Menschen am Abgrund. Das erschüttert uns, weil uns bewusst wird, wie wenig genügt, um unsere eigene Existenz ins Wanken zu bringen.«
Deshalb sei Schwarzfahren eigentlich ein ideales Theaterstück. »Wenn man ein Mal ohne Fahrkarte fährt, verdächtigt man plötzlich jeden, der die U-Bahn betritt, als potentiellen Kontrolleur. So sollte es auch im Theater sein: Jeder der auftritt, kann eine potentielle Gefahr für die Figur dastellen«, sagte er unter Lachen des Publikums. Ja, es durfte gelacht werden. Zwar kein vollhalsiges Losprusten, aber doch ein amüsiertes Glucksen, noch dazu unsiono: 20-jährige Germanistikstudenten lachten gemeinsam mit 70-jährigen Rentnern. Keine geringe Leistung – noch dazu beim Vortragsthema Die dramatische Lesart der Welt.
Checkliste für den Theatergenuss»Erinnern Sie sich alle noch an die gelben Reclamheftchen?«, fragte John von Düffel schließlich sein Publikum. »Ein solches Heftchen ist lediglich eine Gebrauchsanweisung. Die eigentliche Erfahrung kann nur im Theater gemacht werden, nicht beim Lesen«, unterstrich er. Idealerweise solle der Theatereautor jedoch das Theatererlebnis antizipieren. Dies erfordere eine bestimmte Schreibweise: Es gelte, Konflikte entweder in der Situation oder im Charakter zu suchen. »Ich persönlich suche den Konflikt eher in der Situation und spüre der Figur in einer maximalen Situation der Gefahr nach.«
Das Publikum begleite den Charakter letztlich bei einem Prozess, »einer Reise«, so von Düffel. »Auch die Zuschauer sollten sich auf eine Reise begeben, die sie hoffentlich am Ende zu anderen Menschen macht, als sie es vorher gewesen sind.«
Hier hätte sein Vortrag enden können, doch John von Düffel schob am Ende der Veranstaltung noch eine Art Zusammenfassung seiner dramatischen Lesart der Welt nach. Die klang dann doch stark nach einem Kriterienkatalog für »gutes« oder »schlechtes« Theater:
1.) Das Theater muss die Zuschauer aktiv mitmachen lassen. Check.
2.) Das Publikum muss eine Reise erleben, an deren Schluss es »irgendwie anders denkt« als zuvor. Check.
3.) Es soll hier und jetzt im Theaterraum etwas entstehen, das nur mit den anwesenden Menschen einmalig so möglich ist. Check.
Fazit: Drei Mal Haken dran = gelungener Theaterabend?
Eine schwierige Thematik einfach darzustellen, ist gut und schön, aber eine Checkliste für die Höhe des Theatergenusses aufstellen zu wollen, ist dann doch ein wenig ZU vereinfacht.