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Poetikvorlesungen 2016
Die eigene Arbeit gegen Tabus

Als Habermasianerin beherrscht sie den Perspektivwechsel: Die Inhaberin der diesjährigen Göttinger Lichtenberg-Poetikvorlesung Carolin Emcke verriet im Gespräch mit Jana Wolf, wie sie als Autorin, Journalistin und Intellektuelle über die gesellschaftlichen Konfliktlinien in der Öffentlichkeit spricht.

Von Jana Wolf

Jana Wolf: Die Briefe aus Von den Kriegen waren ursprünglich nur an Freunde adressiert, nachträglich haben Sie sie noch veröffentlicht. Wie kam es zu der Entscheidung, mit diesen privaten Texten an die Öffentlichkeit zu gehen?

Carolin Emcke: Jemand aus meinem Freundeskreis hat die Briefe an einen Verlag geschickt. Ich habe das gar nicht selbst gemacht und hatte es auch nicht vor. Natürlich hätte ich da noch sagen können, dass ich das nicht will. Doch ich habe an den Reaktionen der Freundinnen und Freunde gemerkt, dass sie anders auf die Briefe reagiert haben, als auf meine journalistischen Texte. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich in den Briefen sehr viel mehr mit den Gegenden befasst haben, über die ich geschrieben habe, als in den klassischen journalistischen Formaten. Das gefällt einem zunächst einmal nicht, weil man denkt, journalistische Texte müssten reichen. Trotzdem war die Reaktion bei vielen Freunden: ‚Das habe ich gar nicht gewusst, das habe ich gar nicht geahnt‘. Insofern hatte ich den Eindruck, dass es einen Mehrwert gibt durch diese andere Form zu erzählen, und das hat mich dazu bewogen, es zu veröffentlichen.

Die Briefe sind persönlicher, intimer, an manchen Stellen auch unmittelbarer als journalistische Texte. Kann der Journalismus davon etwas lernen?

Nein, ich würde um Gottes willen nicht empfehlen, dass immer und überall die eigene Stimme sichtbar sein soll und ich würde auch auf gar keinen Fall empfehlen, immer subjektive Texte zu schreiben. In diesem Fall entstanden die Briefe und diese Form aus dem Gefühl, versagt zu haben, schreiberisch das zu vermitteln, was Krieg bedeutet. Die Briefe waren eine Antwort auf diese eigene Not, dieses Unbehagen am eigenen Schreiben. Ich glaube, was sich journalistisch daraus lernen lässt, ist nur, dass man immer und immer wieder neu darüber nachdenken muss, wie sich diese Distanz überbrücken lässt, die Menschen zunächst empfinden, wenn sie Geschichten aus ganz anderen Regionen lesen; und wie es gelingen kann, dass sie sich trotzdem dafür interessieren. Das ist im Moment auch nochmal sehr viel schwieriger geworden, weil es zeitgleich so viele Informationen und Konflikte in der Welt gibt, und in gewisser Hinsicht muss man auch realistisch sein und sagen: Natürlich ist es auch eine moralische Überforderung, sich mit jeder Region gleichermaßen identifizieren zu wollen oder zum Mitleiden oder zur Solidarität aufgerufen zu sein.

Sie sagten in Ihrer Poetikvorlesung, dass Sie Ihre Texte stark daraufhin abklopfen, ob es stimmt, was Sie schreiben, ob es wahr gesprochen ist. Passiert das in Briefen auch?

Auf einer Ebene natürlich ja. Man fragt sich beim Schreiben immer, ob es angemessen ist, ob es stimmt, ob es die eigenen Einschätzungen und Wahrnehmungen richtig und präzis genug übermittelt. Aber bei den Reportagen, also bei dem Schreiben über andere Menschen und Regionen, treibt einen schon stark die Angst um, dass man Fehler macht, dass man sich irrt, dass man jemandem glaubt, der vielleicht nicht glaubwürdig ist, dass man zwar so vielfältig versucht, verschiedene Perspektiven aufzunehmen und abzufragen, vielleicht aber trotzdem etwas versäumt oder etwas nicht wahrnimmt. Diese Sorge habe ich speziell bei Reportagen, weil sich so großer Schaden anrichten lässt, wenn etwas nicht zutreffend ist. Trotzdem würde ich sagen, ich kann nicht immer ausschließen, dass ich mich irre. Das habe ich viel weniger, wenn ich subjektiv über meine eigene Situation oder einen philosophischen Essay schreibe. Da ist es klug oder nicht klug, gut argumentiert oder nicht. Das ist ärgerlich, wenn es schlecht oder nachlässig argumentiert ist. Aber da beschädige ich nur mich selbst. Nicht andere.

Die Journalistin im Gespräch mit Studierenden, die den Kurs »Journalistische Formen der Gegenwart« von Peer Trilcke (r.) besuchten.

Sie sprechen von moralischer Überforderung bei der Masse an Berichten über ferne Regionen und Krisen- und Kriegsgebiete. Ist dem Leser in dem Moment, in dem er solche Reportagen liest, immer bewusst und gegenwärtig, dass dahinter eine Realität steht und das Beschriebene echt ist?

Das glaube ich schon. Das kenne ich von mir selbst und da bin ich glaube ich nicht anders als andere Leserinnen und Leser. Nehmen wir als Beispiel Fernsehnachrichten: Ich bezweifle nicht, dass das Geschichten über die Wirklichkeit sind und auch nicht, dass das dokumentarisch ist. Aber ich merke an mir selbst, dass ich manchmal Informationen, die keinen Kontext haben und nicht eingereiht oder länger beschrieben werden, sondern nur wie Flashs daher kommen, keine Bedeutung gebe. Der Klassiker ist, wenn es in den Nachrichten heißt: Bagdad, Sprengstoffanschlag auf dem Markt, 20 Tote. Da merke ich – nicht, dass ich es für unwahr oder fiktiv halte – aber dass es sich nicht mit einer Wertigkeit auffüllt oder auch nur mit Bildern. Es bleibt ungeheuer abstrakt. Das habe ich bei Texten nicht. Ich habe bei den Reaktionen auf Texte nicht den Eindruck, dass die Leserinnen und Leser die Geschichten einfach wie einen Roman oder eine Fiktion lesen, sondern schon als einen Bericht aus einer wirklichen Region. Und ich muss auch sagen, es gibt ganz tolle Leserinnen und Leser, die sich melden und fragen, ob sie in dem konkreten Fall aus einem Text etwas tun können. Ich habe einmal eine Geschichte über ein schwer misshandeltes Kind in Kenia geschrieben und es haben sich Leute gemeldet, die fragten, ob sie dieses Kind irgendwie unterstützen oder adoptieren können. Insofern gehe ich schon fest davon aus, dass sie es als wirklich und wahr lesen, und auch, dass sie sich dazu ins Verhältnis setzen und gerne etwas tun wollen. Ich bin sehr beeindruckt von den Reaktionen vieler Leser.

Gleichzeitig gibt es auch den Vorwurf der »Lügenpresse«. Dahinter steht eine große Skepsis demgegenüber, was medial verbreitet wird. Das setzt wiederum schon voraus, dass ein Teil des Publikums das nicht für bare Münze nimmt oder darin eine Verzerrung sieht.

Moment, da sollte man schon unterscheiden zwischen den aufgeklärten Leserinnen und Lesern, die neugierig und kritisch darauf achten, was und wie Medien berichten. Sie werden oftmals auch unterschätzt in ihrem eigenen Wissen oder in ihrem Reflexionsgrad und sind viel schlauer und haben auch höhere Erwartungen, als das, was dann oftmals in den Medien bedient wird. Bei diesen Zuschauerinnen und Zuschauern oder Leserinnen und Lesern bin ich dankbar, wenn sie einen auf andere Perspektiven oder auch auf Themen hinweisen. Ich bekomme manchmal Briefe, in denen Leute fragen, ob ich nicht mal über ein bestimmtes Thema schreiben könne, über das zu wenig gemacht werde. Ich glaube, es gibt diese aufmerksamen Bürger, die genauso kritisch gegenüber Journalistinnen und Journalisten sind wie gegenüber anderen Berufsgruppen. Das finde ich auch völlig berechtigt, wenn es höflich und respektvoll ist. Denn: natürlich machen wir Fehler und das ist wahnsinnig ärgerlich und peinlich für einen selber. Man schämt sich in Grund und Boden. Aber Journalisten und Journalistinnen sind eben genauso unperfekt und unvollkommen wie andere Berufsgruppen auch. Gelegentlich wäre es sicherlich günstig, wenn Journalisten das auch selbst ausstrahlen und zugeben würden.

Das ist die eine Seite. Und dann gibt es ein Phänomen, das gar nichts mit kritischer Leserschaft zu tun hat, sondern das einfach etwas mit einer verschwörungstheoretischen, wirklich ressentimentgeladenen, auch manipulativen, populistischen Bewegung zu tun hat. Das sind diejenigen, die mit dem ekelhaften Wort von der »Lügenpresse« operieren, als hätte das nicht eine Vergangenheit. Diese Gruppierungen wollen Hass und Misstrauen gegenüber allen möglichen gesellschaftlichen Gruppen schüren. Sie haben die Absicht, Misstrauen in all die Institutionen und Bevölkerungsgruppen zu tragen, die eine Demokratie braucht. Dazu gehört die Presse, dazu gehören natürlich Politiker, dazu gehören alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche. Das hat keinerlei Bezug mehr zur realen Arbeit von Journalistinnen und Journalisten. Das hat auch nichts zu tun mit den realen Fehlern, die wir begehen. Das ist eine Denunziations-Kampagne, die gespenstischen Schaden anrichtet. Dabei geht es um eine Ablehnung der rechtsstaatlichen, demokratischen Verfasstheit dieser Republik. Sie schüren das Misstrauen gegen Richter, gegen Anwälte und gegen alle Zahnräder einer Demokratie – dazu gehören eben auch Journalisten. Das ist enorm aggressiv und auch kränkend. Es gibt Menschen, die können das so abtun, das gelingt mir nicht so gut. Aber ich glaube, diese verschiedenen Sorten von Kritik (und Personengruppen) muss man wirklich auseinanderhalten.

In einem Ihrer Vorträge haben Sie von Zuschreibungen und Stigmatisierungen gesprochen, die zunehmen. Etwa: »Mann, dunkelhäutig, muslimisch, gewalttätig«, »Frau, schwach, unterlegen, Opfer«, »Journalistin, Lügnerin«. Was hält man dem entgegen?

Ich glaube, man kann dem nur die eigene Arbeit entgegenhalten, das Bemühen um Genauigkeit, die Zartheit der Sprache. Grundsätzlich kann ich sagen, das Fatalste wäre, jetzt aufzuhören, sich mit Sorgfalt und Fleiß an die eigenen Geschichten zu machen und zu versuchen, so genau wie möglich zu differenzieren. Die Gefahr dieser Sorte von Vorwürfen besteht natürlich darin, dass sich diese Zuschreibungen und dieser Hass verfestigen. Es werden zur Zeit wieder ganze Muster der Ablehnung, Muster des Hasses hervorgeholt, die es historisch alle schon einmal gab: was Pegida und die AfD artikulieren, ist zutiefst fremdenfeindlich und rassistisch, aber es ist auch homophob, anti-intellektuell und hat einen anti-elitären Gestus. Dieser Hass geht nach oben wie nach unten, er geht in zwei Richtungen. Und ich glaube, er beschädigt uns alle.

Sie sprachen auch von »dissidenten Strukturen« im Schreiben, die Sie versuchen in Texten zu etablieren. Was wäre ein konkretes Beispiel aus Ihrer Arbeit, in der das besonders gut gelungen ist?

Dozentur

Die Göttinger Poetikvorlesungen wurden von Heinz Ludwig Arnold begründet. Sie werden jährlich vom Literarischen Zentrum Göttingen und dem Seminar für Deutsche Philologie ausgerichtet und vom Georg-Holtzbrinck-Verlag und der Stiftung Niedersachen gefördert. Zu den Poetikdozentinnen und -dozenten der vergangenen Jahre gehörten neben Navid Kermani Autorinnen und Auoren wie Daniel Kehlmann, Felicitas Hoppe, Eckhard Henscheid, Feridun Zaimoglu oder Marcel Beyer. Nach zweijähriger Pause wird die Poetikvorlesung seit 2014 unter dem Namen ›Lichtenberg-Poetikvorlesung‹ fortgeführt.
 

Briefe


Carolin Emcke
Von den Kriegen
Briefe an Freunde
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004
320 Seiten, 8,95 €

 

Essay


Carolin Emcke
Wie wir begehren
Sachbuch
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012
256 Seiten, 19,99€

 
 
In dem Buch Wie wir begehren zeigt es sich darin, überhaupt das Tabu abzulehnen; abzulehnen, dass die eigene Form zu lieben beschwiegen werden soll; abzulehnen, dass man sich schämen sollte, wenn man homosexuell ist; abzulehnen, dass es nicht genau so glücklich oder unglücklich, einfach oder kompliziert ist, zu lieben und Beziehungen zu leben, die homosexuell sind, wie welche, die heterosexuell sind. Das geschieht in diesem Buch in einer Form, die sich an alle richtet. Es ist kein Buch, das nur für Homosexuelle relevant sein könnte. Sondern in Wie wir begehren geht es um eine Denkbewegung: nämlich sich zu fragen, wie entsteht das eigene Begehren eigentlich, welche Texte, Filme, Bilder und Erfahrungen waren es, die mir in meiner Schulzeit ermöglicht haben, mein eigenes Wollen überhaupt zu finden. Diese Frage können sich alle stellen, nicht nur Homosexuelle. Das ist ein Text, der insofern dissident ist, als er viele Konventionen unterwandert, wie in welchen Gruppen gedacht werden darf oder geschwiegen werden soll. Da ist es für mich unter allen meinen Texten am besten erkennbar, wo es poetische und dissidente Strategien gibt.

Das führt nochmal auf den Leser, für den man schreibt, oder zumindest, an den sich das Veröffentlichte richtet. In Ihrer Reflexion über Ihre eigenen Text zeigt sich ein enormes strukturelles Wissen darum, dass es Tabus gibt und wo diese Tabus liegen, und dass es bestimmte Normen gibt, die es vermeintlich einzuhalten gilt.

Wenn Sie mich fragen, ob ich darüber nachdenke, in was für einem gesellschaftlichen Diskursfeld wir leben und was die größeren Konfliktlinien sind, in die ein Text hineingerät und in die ich auch als Intellektuelle in der Öffentlichkeit hineingerate, würde ich sagen: Ja natürlich! Natürlich verstehe ich mich in der Hinsicht als eine Autorin, die auch an solche philosophischen Traditionen anschließt. Ob das jetzt Albert Camus ist oder andere Figuren – Camus ist ein ganz gutes Beispiel, weil er einerseits diese Welthaltigkeit hatte und andererseits auch das Nachdenkliche, Reflektierende, Philosophische. Dabei denkt man natürlich darüber nach, welche Sorten von Tabus, Verboten und Normen es gibt.

Genau. Wie sehr sollte man dieses Wissen um die Strukturiertheit dieser Gesellschaft und Öffentlichkeit ins Schreiben einfließen lassen? Wie sehr sollte man die Tabus und auch die Sorgen der Menschen ernst nehmen und im Schreiben berücksichtigen?

Da würde ich sagen, ich bin Habermasianerin. Ich komme also aus der philosophischen Schule einer Diskursethik und bin darin trainiert, dauernd Perspektivwechsel zu vollziehen und zu überlegen, welche Einwände es gegen das gibt, was ich sage. Welche Argumente bräuchte es, um jemanden zu überzeugen oder etwas zu vermitteln? Was muss ich herstellen, erklären und erläutern, um auch Leute überzeugen zu können, die ganz andere Erfahrungen haben, anders denken, anders aussehen, anders lieben oder anders glauben als ich. In dem Sinne gehört es natürlich zu meinem eigenen Denken dazu, beständig immer wieder Zweifel an mich selbst zu richten und immer wieder zu überlegen: Stimmt das auch für Menschen, die nicht weiß sind, die jüdisch sind oder Linkshänder oder was auch immer. Darüber denke ich die ganze Zeit nach und dann muss man natürlich trotzdem noch eine Entscheidung treffen, wie ich meine eigene Stimme, meine eigene Ästhetik, meine eigene Perspektive behalten und vermitteln kann. Dabei werde ich auch nicht zu den anderen oder nehme andere Identitäten an. Nehmen wir das Wie wir begehren-Buch. Es muss überzeugend für diejenigen sein, die so begehren wie ich, aber möglicherweise auch anschlussfähig und interessant sein für die, die nicht so eine Erfahrung gemacht haben. Das gehört dazu.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 13. Februar 2016
 Titelbild von Andreas Labes; Bild im Text von Urte Schröder (Lit. Zentrum)
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