Mark Jenkins neuer Film Bait macht es dem Publikum nicht leicht, dennoch vermag er beim Großbritannien-Schwerpunkt des Europäischen Filmfestivals zu überzeugen. Mit eigenwilligen Figuren, extravaganter Ästhetik und einer Prise Humor verhandelt der Film hochaktuelle Themen.
Von Fabio Kühnemuth
Das traditionsreichste Filmfestival Niedersachsens feiert runden Geburtstag: Einst aus den »Länderfilmtagen« hervorgegangen, findet das Europäische Filmfestival Göttingen in diesem Jahr zum 40. Mal statt. Traditionell gibt es beim Europäischen Filmfestival einen Länderschwerpunkt; 2019 widmet man sich dem aktuellen Filmschaffen in bzw. aus Großbritannien. Die Filme des Schwerpunkts belegen wieder einmal, dass politische und ökonomische Krisenzeiten nicht selten mit einer wahren Explosion kreativen Outputs einhergehen. Dabei reicht die Spanne an Filmemacher*innen von Altmeister Ken Loach (Sorry We Missed You) bis hin zu Neuentdeckungen wie Adrian Shergold, dessen Film Funny Cow in Göttingen seine Deutschlandpremiere erlebt. Eine dieser Entdeckungen ist seit seiner Erstaufführung bei der diesjährigen Berlinale auch Bait von Regisseur Mark Jenkin.
Gentrifizierung der ProvinzDer Film spielt in der tiefsten Provinz der südwestenglischen Grafschaft Cornwall (aus der Jenkin selbst stammt) in einem kleinen Fischerdorf. Euphemistisch könnte man dieses ›verschlafen‹ nennen, ›abgehängt‹ wäre aber ehrlicher. Das Leben dort ist, wenn man Glück hat, geprägt von harter, körperlicher Arbeit. Wenn man Pech hat, gibt es überhaupt keine Arbeit – und kein Geld. Elliptisch und durchaus humorvoll werden Miniaturen dieser Arbeits- und Perspektivlosigkeit gezeigt; banale Alltagssituationen in außergewöhnlicher, zugleich rauer Ästhetik, die später ausführlich betrachtet und gewürdigt werden soll. Seit kurzem, so erfährt das Publikum bald, tut sich allerdings ein neuer Wirtschaftszweig auf: der Tourismus. Doch der vermeintliche Segen bringt selbstverständlich auch Probleme mit sich: Die einst so eingeschworene Dorfgemeinschaft wird gespalten. Es stehen sich so nicht nur alteingesessene Dorfbewohner*innen und neureiche Eindringlinge gegenüber, sondern auch opportunistische Profiteur*innen der »Modernisierung« und jene, die der Entwicklung kritisch bis ablehnend gegenüberstehen.
Exemplarisch wird dieser Konflikt anhand der Beziehung zweier Brüder illustriert: Martin Ward (Edward Rowe) und Steven Ward (Giles King) stehen für die zwei Wege, mit der Situation umzugehen. Der bärbeißige, aber auf seine Art durchaus sympathische Fischer Martin führt den Fischfang seines verstorbenen Vaters fort. Das Geschäft ist allerdings wenig einträglich, da Martin über kein Boot verfügt. Das väterliche Fischerboot nämlich ist inzwischen im Besitz seines Bruders Steven, der es zweckentfremdet und damit Rundfahrten für (zumeist betrunkene) Touristen anbietet. Ein »Ausverkauf«, den Martin ihm nicht verzeihen kann. Doch auch Steven kommt gerade so über die Runden. Im Grunde sind beide Brüder die Leidtragenden einer Form von Tourismus, von der nur die allerwenigsten vor Ort profitieren.
Einerseits ist diese Geschichte von zwei Brüdern allgemeingültig und erinnert dadurch beinahe an ein biblisches Gleichnis. Allerdings begnügt sich Bait nicht mit dieser Allegorie, sondern wird auch ausgesprochen konkret. Das Gespenst des Brexit schwebt nicht nur implizit über dem Fischerdorf, sondern wird auch mehrfach wörtlich erwähnt. Und auch wenn der Firmenname nicht genannt wird, wissen alle im Publikum, über welches Portal die urbane Hipster-Kleinfamilie ihre urige Ferienunterkunft gebucht haben dürfte. Gerade aus dieser direkten Konfrontation von Tradition und Moderne (Stichwort Gentrifizierung) schöpft Bait sein komödiantisches Potenzial. Absurde, aber dennoch sehr realistische Situationen wirken unwillkürlich komisch, etwa wenn der Vater besagter Kleinfamilie (natürlich mit obligatorischem Man Bun) sich ausgerechnet über die lärmenden Fischkutter beschwert. Oder wenn die Vermieter*innen der Ferienwohnung das zuvor vollkommen normale Wohnzimmer mit pseudo-authentischen Fischereiutensilien, wie etwa Haken und Seilen, ausstaffieren, sodass es Martin eher an »some kind of sex dungeon« erinnert.
Pures KinoEin gewisses Augenzwinkern ist überdies auch in der Ästhetik des Films erkennbar. So bedient Jenkin sich mit einer unverkennbaren Spielfreude quasi sämtlicher filmischer Ausdrucksmittel, die ihm zur Verfügung stehen. Das Arsenal der verspielten Bildsprache beinhaltet Match Cuts, Zeitlupen
Gleichsam ist Jenkins Herangehensweise gewissermaßen ›pures‹ Kino, insofern sich seine Methodik direkt auf die stilistischen Ausdrucksmittel des frühen, expressionistischen Kinos bezieht und diese zitiert. Wer schon einmal eine Vorlesung in Filmgeschichte über sich ergehen lassen durfte, wird unwillkürlich an das russische Revolutionskino und insbesondere Sergei Eisensteins »Montage der Attraktionen« denken müssen. In unzähligen Nahaufnahmen wird die Aufmerksamkeit der Zuschauenden auf alltägliche Details wie Fischernetze oder Knoten, aber auch auf menschliche Gesichter gelenkt. Im Zusammenspiel mit den genannten Stilmitteln und einer oft surrealen Lichtsetzung entwickelt Bait eine ganz eigene Ästhetik, die sich von den filmhistorischen Vorbildern emanzipiert. Der Kontrast zwischen den anachronistischen Techniken und der ausgesprochen zeitgenössischen Thematik erzeugt im Zusammenspiel mit einer Prise Humor ein einzigartiges Filmerlebnis. Wer mit dem Versprechen auf einen leicht verdaulichen Kinobesuch geködert wurde, wird das Anbeißen nach 88 Minuten Bait vermutlich bereut haben. Wer aber Vergnügen an einem innovativen Stück Filmkunst hat, für die*den war dieser Abend im Lumière ein dicker Fang.