Erstmals wurde die Lichtenberg-Poetikvorlesung von einer Journalistin gehalten. Carolin Emcke, Kriegsberichterstatterin, promovierte Philosophin und Essayistin, gab einen sehr persönlichen Einblick in ihre Arbeit und verdeutlichte mit analytischer Schärfe, dass der Begriff des Schreibens im Kontext ihres journalistischen Publizierens schwerlich ein literarischer sein kann.
Von Johanna Karch
Die Wahl der diesjährigen Preisträgerin ist nicht nur angesichts der Tatsache, dass die öffentliche Diskussion um Objektivität und Befangenheit des Journalismus in Deutschland in den letzten Monaten immer lauter geworden ist, eine sehr glückliche. Dass sie auf Carolin Emcke fiel, ist auch deshalb erfreulich, weil von den letzten 15 Poetikvorlesungen in Göttingen gerade einmal zwei, mit Carolin Emcke drei, weiblich besetzt wurden. Der gewichtigste Grund war aber ihre Befähigung – als hochgelobte Publizistin und Autorin über Literatur und das literarische Moment im Journalismus nachzudenken.
Stil- und themengerecht begann sie ihre Ausführungen mit einem sehr poetischen, szenischen-romanhaften Einstieg, der in ihrem Elternhaus beim aufgebahrten, toten Körper ihres Vaters endete.
Ich war 38 Jahre alt und dies war der erste Tote, den ich sah, der nicht lebendig hinter einem Wagen her geschleift, der nicht gefoltert und gequält, nicht erschossen, mit Benzin überschüttet und verbrannt, der erste Leichnam, den ich sah, der nicht von Schrapnellen durchfurcht, nicht aufgebläht, nicht von Hunden angefressen oder in anderer Weise bis zur Unendlichkeit verunstaltet worden war.
Ein schockierender Anfang, für den sie sich sogleich entschuldigte, der aber ihre Bedenken verdeutlichen sollte, ob sie wirklich die Richtige für diese Poetikdozentur sei. »Wenn von der Poetik als eine schaffende, hervorbringende Kunst gesprochen wird«, präzisierte sie, »dann muss zu Beginn meiner Vorlesung mindestens ein Zögern stehen«. Hatte man sich bei der Wahl für den Lichtenberg-Preis geirrt? Traditionellerweise werden doch Literaten oder Dichterinnen ausgezeichnet. Sie selbst, so Emcke, sei eine Publizistin, die sich unterschiedlicher Formen des Dokumentarischen bediene, mitnichten also eine Person der kreativen Sprachverwendung. Vielmehr sei ihr Schaffen gekennzeichnet von der konkreten Begegnung mit Gewaltopfern, vom realen, nicht fiktiven Bezeugen dessen, was in seiner unverblümten Darstellung wiederum dem Genre des Horrors, dann aber sicher nicht in poetischer Absicht, zuzuschreiben wäre. Wie sollte jemand wie sie eine Poetikvorlesung halten?
Es muss geschrieben werdenDer metareflexive Diskurs über das Schreiben, der zweifelsohne einen Großteil des literaturwissenschaftlichen Betriebs in Gang halte, münde oftmals in der existenziellen Frage »warum schreiben?«. Diese Frage stellt sich für Carolin Emcke nicht. Das Schreiben sei für eine Journalistin, im Gegensatz zu einer Autorin des Fiktionalen, kein »überschüssiges Privileg«, sondern eine fraglose Notwendigkeit: in ihrem Falle die Notwendigkeit, von den humanitären Katastrophen und Einzelschicksalen in Kriegsgebieten, von überfüllten Flüchtlingsheimen oder desolat ausgestatteten Krankenhäusern zu erzählen. Der Diskurs um die Funktion von Literatur als ästhetische Kategorie der Unterhaltung wird an dieser Stelle obsolet, das Schreiben auf die Ebene der Nützlichkeit zurückgeholt, denn, so unterstrich die Rednerin, »es muss geschrieben werden«.
Das wohl gewichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen dem dokumentarischen und literarischen Schreiben, das Emcke in ihrer Vorlesung ausmachte, ist der beschränkte Zugriff auf das Material. Das Moment des Artistischen, Magischen, Überbordenden, dessen sich die Literatur bedienen dürfe, verbiete sich beim Schreiben über reale Erfahrungen. 1 Das Genre des Dokumentarischen gehe hingegen mit dem Versprechen einher, Nicht-Erfundenes abzubilden, womit auch die Forderung verbunden sei, präzise zu arbeiten. Jede Form der kreativen Unschärfe, die literarischen Texten ihre Eleganz und poetische Kraft verleihen könne, verbiete sich bei dem Material, das aus der sogenannten Wirklichkeit entstamme. Es gehöre der Autorin nicht einmal, es sei ihr bloß anvertraut worden. Dass man »sich selbst als Material immer dabei habe«, wie sie, Monika Rinck zitierend, anführt, gelte für ihren Schreibbereich nur bedingt. In ihren Reportagen und Texten, die aus Gesprächsdokumenten mit Gefolterten oder Kriegstraumatisierten resultieren, möchte sie sich als Autorin, und damit ihre Stimme, weitestgehend zurücknehmen und alles vermeiden, was dem Gegenüber etwas nehmen oder aufdrängen könnte. Das Material sei also keinesfalls ihr Besitz. »Es gehört anderen«, machte sie deutlich, »es sind ihre Leben, ihre Schmerzen, ihre versehrten Körper, ihre ausgelassenen Hochzeitsfeste, ihre Sehnsüchte, ihre Erzählungen, die mir angeboten oder aufgetragen werden, damit ich sie aufnehme, annehme, mit meiner Sprache in meinen Texten aneigne, ohne sie mir zu eigen zu machen.«
Dabei gelte es, sich die eigene Position als Weiße mit deutscher Vergangenheit, als privilegierte Europäerin, als Frau oder geoutete Homosexuelle bewusst zu halten und stets selbstkritisch zu hinterfragen, ob die historische, persönliche oder ideologische Disposition die Intention des Gegenübers und ihr Material verfärben könnte. Doch wie verfahren, wenn das Sprechen der Opfer sich als Lückenerzählung, in Wortfetzen oder unvermittelten zeitlichen Sprüngen artikuliert, die irreal wirken, absurd oder verwirrt?
Im zweiten, theoretischen Teil der Vorlesung schärfte Emcke den Blick für die poetischen Dimensionen und Techniken ihres Arbeitens. Welchen hermeneutischen Strategien kann eine Journalistin folgen, um den dahinter liegenden Sinn einer bruchstückhaften Erzählung zu ergründen? Eine Strategie, die sie Freuds Traumdeutung entlehnt, könnte eine Auswertung des Sprachmaterials nicht en masse, sondern en detail sein, da dieses Vorgehen erlaube, verschiedene Bezugs- und Referenzebenen, einzelne Motive und Bilder gesondert zu betrachten und einer Einzelanalyse zu unterziehen. Man könne Menschen mit Traumata in ihren verschiedenen Zeitlichkeiten denken und verstehen lernen. Darüber hinaus wagte Emcke den Vergleich, diese Form des diskontinuierlichen Sprechens, das freilich in diesem Kontext auch das Ergebnis eine psychologischen coping-Strategie ist, mit Roman Jacobsons Beschreibung der poetischen Sprache als normverletzende Abweichung von der Alltagssprache engzuführen. Allerdings, so schränkt sie selbst ein, ist es natürlich fraglich, ob Opfer bewusst mit einer poetischen Technik operieren würden.
Deskription und ReflexionEmcke ist eine ruhige und genaue Rednerin, die von Berufswegen jeden Satz, jede Wendung auf die exakte Bedeutung und Stimmigkeit abklopft. Ihre Wortwahl ist treffsicher und präzise, das bedächtige Sprechtempo entfaltet eine außerordentliche immersive Kraft: das Publikum in der an beiden Vorlesungstagen übervoll besetzten Aula am Wilhelmsplatz war begeistert und lauschte gebannt. Die ungeschminkten und expliziten Schilderungen brutaler Vergehen, die sie, ohne den Gestus der Effekthascherei, in ihren Vortrag integrierte, wurden immer begleitet von einem analytischen Blick auf das Ganze, der nebenbei auch dafür sorgte, dass die Zuhörerschaft emotional nicht überfordert wurde. Dies, das Zeigen des konkreten Entsetzens und das gleichzeitige intellektuelle Hinterfragen desselben, in der Waage zu halten, ist genau das, was sie von dem Vorwurf des Betroffenheitsjournalismus freispricht.
Bei der Entscheidung, wieviel Grausames gezeigt, beschrieben, erzählt werden darf, will sich Emcke nicht von sozialen Tabus oder medialen Konventionen leiten lassen, die ihrer Meinung nach mittlerweile in restriktiver Weise von der Bild- auf die Textebene übertragen wurden. Die Darstellungen von Gewalt nicht zu beschreiben, sie auszulassen, hält sie für eine radikale Maßnahme, der die Gefahr eines kontraproduktiven Sakralisierens innewohne. Die Entscheidung bemesse sich auch nicht am Lust- oder Ekelempfinden der Leserinnen und Leser. Es gehe in erster Linie um die Betroffenen, und darum, ob das Erzählte auch und gerade für sie zumutbar sei.
Diese Betroffenen stellte sie mit Ausrufezeichen ins Zentrum ihres Nachdenkens. Sie waren Ausgangspunkt ihrer Reflexion, so über die hermeneutischen Bedingungen eines Gesprächs mit einer Vergewaltigten oder über die folterindizierte Persönlichkeitsspaltung junger Männer in Abu Ghraib. An die Opfer des Unrechts wurden letztlich alle, auch ihre abstraktesten Reflexionen zurückgebunden, Reflexionen etwa über die eigene Fehlbarkeit bei der Einschätzung von Geschichten oder über die Verwendung von dissidenten Sprachverfahren, die Gewalt unterwandern, oder eben über das Wagnis einer ungewollten ästhetisch-literarischen Reproduktion von Gewalt.
Von der AngstAll die Ausführungen über Unrecht und Gewalt, die sie in undenklichen Formen und nahezu überall hat zutage treten sehen müssen, brachten die Publizistin während ihres Vortrags kaum aus der Fassung. Als sie Foucaults Begriff der parrhesia, des Wahrsprechens, das sie auch als ein Sprechen gegen das Tyrannische und Oktroyierende verstanden wissen möchte, mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Stimmung in Deutschland zusammen denken wollte, geriet sie ins Stocken. Sie, die sich dem Wahrsprechen verpflichte, hadere momentan damit. Riskante Reisen in Kriegsgebiete machten ihr selten Angst; anders sei es jedoch beim Wahrsprechen »in dieser verrohten, polarisierten Öffentlichkeit, in der es antidemokratische Rechtspopulisten gibt, mit ihrem Hass und ihrem Ressentiment, mit ihrer Ablehnung von Menschen, die anders lieben, anders glauben, anders denken als sie selbst; wer das Wahrsprechen gegen diese autoritären, brutalisierten Bewegungen wagt, der riskiert tatsächlich etwas.« Das halte sie nicht davon ab, weiter zu machen. Aber eine Heidenangst habe sie, verriet sie sichtlich ergriffen, »vor Überfällen, Angriffen, physischer Gewalt. Angst davor, Angst haben zu müssen.« An dieser Stelle gewährte Emcke einen ungewöhnlich intimen Einblick, nicht nur in ihr Denken, sondern auch in ihr Fühlen. Am ärgsten fürchte sie, die Contenance und objektive Kühle zu verlieren und sich dem Zirkel der Eskalation, »aus dem jeder und jede nur geschädigt und entstellt hervorgeht«, womöglich nicht entziehen zu können.
Und doch kann Carolin Emcke der Gewalt durch die Rekonstruktion ihrer Genese und das Aufdecken der Kausalitäten, durch das selbst- und andere bestärkende Wahrsprechen und durch das laute Schweigen, wenn überall nichtssagend gebrüllt wird, sehr wohl schreiberisch, ästhetisch etwas entgegensetzen.
Hier stand nicht nur eine brillante Rednerin und luzide Analytikerin am Pult, sondern auch eine inspirierende Philanthropin. Eine, die viel gereist ist und viel gesehen hat. Wie, so fragt man sich, erträgt, verarbeitet man all das Leid, das zu bezeugen man sich zum Beruf gemacht hat? Was bringt eine dazu, immer wieder in die gefährlichsten Krisengebiete der Welt zu fahren (oder sich in die eskalativen Debatten der ›Heimat‹ einzumischen), um von der Not, dem Leid, der Unterdrückung anderer zu berichten? Ihr Ansinnen ist so edel wie simpel. Denen, die nicht gehört, die marginalisiert, sanktioniert, stigmatisiert werden, denen das Subjektsein abgesprochen wurde, eine Stimme zu geben, sie zu vergewissern: ja, das, was dir geschehen ist, war unrecht!