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Eine Reise im Kinosessel

Dieses Jahr startete das Europäische Filmfestival im Lumière in Göttingen direkt mit zwei Reisen quer durch Italien. Das ist kein Zufall, denn Italien stand 2012 im Mittelpunkt – vielmehr das Filmland Italien. Und wenn es schon ein ganzes Filmland zu sehen gibt, so sollte sich doch auch einer die Mühe machen es zu bereisen. Ein Reisebericht.

Von Till Deininger

Das Festival beginnt mit zwei Reisen durch das Land, in denen sich die Künstler auf sehr persönliche Weise mit ihrer Heimat auseinandersetzen. Zum einen ist es ist die Eröffnung der Fotoausstellung von Emiliano Mancuso. »Stato d‘Italia – Italien heute« heißt sie und der Fotojournalist begegnet dem eigenen Land darin sehr kritisch. Er will aber auch nicht zeigen, was funktioniert, das funktioniert ja so wie so. Er will zeigen was nicht funktioniert. Drei Jahre ist Mancuso in einem Fiat Punto ohne festen Reiseplan von den Ereignissen durchs Land getrieben worden. Er zeigt in seinen s/w Fotographien unter anderem friedliche und gewaltsame Proteste von Studenten in Rom, afrikanische Migranten auf Lampedusa, ärmliche Verhältnisse im Süden, gerade entlassene Arbeiter – und das letzte Bild zeigt Berlusconi bei einem Vertrauensvotum im Parlament. So berichten die Fotos auch über das Land, an dem die 20 Jahren seiner Regierung nicht spurlos vorüber gegangen sind. Und nicht einmal die Fotos von spielenden Kindern oder vom Sprung eines Arbeiters ins Meer erhalten noch eine positive Konnotation. Die Geschichte ähnelt sehr der Geschichte des ersten Filmbeitrags des Festivals. Gustav Hofer und Luca Ragazzi sind dafür sechs Monate durch Italien gefahren. Von Turin nach Sizilien haben auch sie das Land beobachtet und dabei leere Fabrikgebäude, verseuchte Umwelt und tiefe Gräben zwischen Anhängern und Gegnern Berlusconis vorgefunden. Ihr Film über diese Reise ITALIA: LOVE IT OR LEAVE IT stellt die Frage: »Darf ich gehen oder muss ich bleiben und helfen das Land wieder aufzurichten?« Das Land, glaubt man den beiden Darstellungen, scheint in ziemlich schlechter Verfassung zu sein. Das Filmfest bietet Gelegenheit sich selber umzusehen und sich eine eigene Meinung zum Status quo zu bilden.

Vom Norden…

Die Reise beginnt im Norden und Mailand ist der erste Stopp. Triste Stimmung, wenig Grund zu Lachen: Monica ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau, aber als ich sie treffe, beginnt sie ihr Leben gerade umzustellen – und zwar radikal. Ihr Partner hat sich von ihr getrennt. Sie hat es als letzte erfahren und nun ist er schon für einen Job in Paris. Ihren Vater hat sie zwar auf dem Land immer mal wieder besucht, aber der Kontakt war schwierig. Er war allein und verbittert auch weil seine Frau ihn vor langer Zeit verlassen hat und mit einem anderen Mann nach Griechenland abgehauen ist. Der Flucht der Mutter hatte Folgen für Monica. Zu allererst hat sie sie vor allem schmerzlich vermisst, als sie aber Jahre später wieder im Dorf aufgetaucht ist, hat sie die Mutter ihren Schmerz spüren lassen – und mit ihr das ganze Dort. Die Mutter mit neuer Tochter findet keinen Halt und der soziale Abstieg folgt. Zu der Halbschwester habe sie noch Kontakt, sagt sie, auch weil sie deren Sohn mag. Sie hilft den beiden finanziell. Sie nimmt den Jungen sogar bei sich auf. Aber der Vater stirbt und die Halbschwester entreisst ihr den Jungen wieder. Als ich Monica treffe scheint sie von alldem nichts mehr wissen zu wollen, sie will alles hinter sich lassen. Unsere Wege trennen sich ebenso rasch wie sie sich gekreuzt haben, sie fährt mit dem Zug zum Flughafen. Sie erzählt noch, dass sie in der Wahlheimat ihrer Mutter erstmal als Reiseführerin arbeiteten will. Auf der Postkarte, die ich einige Wochen später von ihr bekomme, ist die Akropolis zu sehen. Man erkennt die Touristengruppen und Monica hat ihren Namen über den der Leiterin geschrieben. Auf der Rückseite steht nur: IL MIO DOMANI – Die Zukunft liegt vor mir!

Von Mailand nach Rom geht es ganz schnell. Nur drei Stunden brauch die Frecciarossa, der Schnellzug, für die Strecke zwischen den beiden Zentren. Rom atmet noch immer antike Luft. Der Gestank der Kloaken ist durch Abgase des Verkehrs ersetzt. Auch im Theater sind die alten Themen noch immer aktuell. Sie spielen CESARE DEVE MORIRE von Shakespeare in der berühmt gewordenen Aufführung im Gefängnis der Stadt. Berühmt, weil die Brüder Taviani einen Film darüber gemacht haben, der dieses Jahr die Berlinale gewonnen hat. Die Vorführung ist beeindruckend. Aber von Anfang an verkrampft sich einem der Magen, denn das Schauspiel ist nur eine kurze Pause aus dem tristen Alltag im Gefängnis und auf den ohrenbetäubenden Applaus am Ende der Vorführung folgt die umso größere Stille in der Zelle. Die Realität der Insassen ist immer präsent, denn sie spielen nicht nur die Figuren von Shakespeare, sie spielen auch sich selbst. Themen wie Verrat, Mord, aber auch Loyalität und Liebe kennen sie aus ihrer eigenen Vergangenheit. Und die Laiendarsteller lassen hinter jedem noch so kleinen Bruch auf der Bühne viele emotionale Ausbrüche während der Proben erkennen. »Erst seitdem ich die Kunst kennen gelernt habe, ist aus der Zelle ein Gefängnis für mich geworden«, wird einer der Schauspieler auf dem Flyer zitiert, der auf meinem Platz gelegen hat. Dieser Satz hält mich gefangen – nie zuvor habe ich mehr Mensch in den Tätern eines Hochsicherheitstrakt gesehen. Die Gedanken hängen mir noch lange nach, aber die Reise gibt mir genügend Zeit, um über das Gesehene nachzudenken. Die Fahrt von Rom nach Altamura am nächsten Mittag dauert sieben Stunden. Die Verbindung am Vormittag wäre zwar eine Stunde kürzer gewesen, aber ich will den Vormittag in Rom verbringen, um die Liebe zur Patria, wie sie in der Vorstellung so präsent war, verstehen zu können.

… in den Süden

Die Fahrt bringt mir dann die Ruhe, die ich nach zwei Metropolen nötig habe, um in der kleinen Stadt anzukommen. Die ersten Eindrücke bestätigen die Erwartungen an das Städtchen: Ein Schuhmacher sitzt mit seinem Sohn vor dem Geschäft. Sie unterhalten sich über ihr Handwerk. Es gäbe nicht mehr viele ihres Fachs, ganz allgemein scheine das Handwerk auf dem Rückgang, erzählen mir die beiden auf Nachfrage. So ergehe es nicht nur ihnen so, sondern auch den Sattelmachern, Metzgern und Bäckern. Sie würden durch Fabriken und Supermärkte ersetzt. Das damit mehr als nur der Beruf verloren geht, sondern auch Tradition und Kultur ist für sie offensichtlich. Aber zumindest macht eines ihnen Hoffnung: Der McDonald´s, der vor einiger Zeit aufgemacht hat, musste wieder schließen. Die Kunden sind lieber zu der dem Focaccia-Bäcker gegangen, der aus Protest direkt gegenüber aufgemacht hat. Ein McDonald´s passe einfach nicht in die Stadt, finden die beiden. Der 18 Meter hohen Werbeturm des Fastfood-Restaurants allein bestätigt ihre Skrupel, ganz abgesehen, dass die Geschwindigkeit des Lebens hier mit Fastfood nicht zu verbinden ist. Außerdem habe Dante, der örtliche Gemüsehändler, dem extravaganten Manager die Freundin ausgespannt und das sage ja mehr als alles andere, so der Vater und der Sohn stimmt lachend zu. Sie kennen Dante und empfehlen mir noch bei ihm vorbei zu schauen, bevor ich weiterfahre. Dort gebe es das beste Obst und Gemüse der Region, weil er es alles selber von den Bauern hole. Vom McDonald´s jedoch fehlt jede Spur und ich kann ihn mir auch nicht vorstellen in den engen Gassen der Altstadt, aber die beiden beharren darauf, dass es sich wirklich so zugetragen habe. Sogar die New York Times soll davon berichtet haben. Bei Dante decke ich mich dann ein mit Proviant für die Fahrt nach Neapel. Außerdem hat er neuerdings auch eine CD im Angebot den FOCACCIA BLUES. Ich kaufe sie und hoffe so für die Fahrt beschäftigt zu sein. Immerhin sind es erneut sieben Stunden, obwohl die Strecke nur halb so lang ist, wie von Rom hierher, aber schnelle Züge fahren hier nicht.

Mörder auf menschlichen Abwegen

Mein Stopp in Neapel ist nur kurz. Die letzten Tage waren anstrengend und ich will zurück. Aber die Bahn streikt und da ich nicht fliegen, sondern was vom Land sehen will, versuche ich zu trampen. Und tatsächlich finde ich zwei junge Italiener, Diego und Edoardo, die nicht nur Richtung Norden, sondern sogar bis nach Wiesbaden wollen. Nach wenigen Stopps für Espresso passieren wir erst die Grenze zur Schweiz und dann sind wir schon in Deutschland. Ein schnelles Auto, eine rasante Fahrweise, der Espresso und andere Aufputschmitteln machen es möglich. Das Ziel ist ein Restaurant mit ein paar Zimmern und ich bin für ein paar Tage eingeladen bei ihnen zu bleiben. Wenn ich es richtig verstanden habe, aber für ihr Italienisch bräuchte ich eigentlich Untertitel, gehört es dem Onkel von Diego. Vor Ort stellt sich die Situation aber ein wenig angespannter dar, als ich gedacht hätte. Die beiden Jungs verschwinden immer wieder und der Onkel Rosario wird immer nervöser. Mir scheint es hat mit den Jungs zu tun, denn eigentlich, sagt er, habe er hier ein ruhiges Leben – UNA VITA TRANQUILLA. Aber die Dinge wandeln sich schnell:

Lumière Kino

Das Lumière ist ein kommunal gefördertes Programmkino, das sich als Alternative zum kommerziellen Kino sieht. Oftmals werden Veranstaltungen mit anderen Kultureinrichtungen und Initiativen aus Göttingen zusammen durchgeführt. Zwei Filmfestivals stehen jährlich im Programm im Oktober das Kinderfilmfestival und im November das Europäische Filmfestival
 
 
An einem Abend gehen wir noch zusammen ein Bier trinken, denn Edoardo will Doris treffen. Er erobert ihr Herz dann auch prompt – auch oder obwohl er sie Boris nennt. Sie ist ganz offensichtlich angetan von ihm und seiner rigorosen Herangehensweise. Frisches Blut im blutarmen Dorf. Dass noch weit mehr Blut geflossen ist als nur aus der Nase von Doris Exfreund, habe ich erst später erfahren und ich kann es kaum glauben. Aus der Zeitung erfahre ich jedoch von unglaublichen Ereignissen: vom kaltblütigen Mord an einem Fabrikvorsteher, dem Verschwinden von Rosario, von einer glimpflich verlaufenen Kindesentführung und von zwei Toten jungen Italienern, einem sogar im Kühlhaus von Rosario.

In den Zeitungen heißt es nur, dass die Mafia aus Neapel ihr unmenschliches Spiel getrieben hat, für jedoch mich waren alle die ich kennengelernt habe Menschen. Wenn ich aber zurück sehe, habe ich auch vorher bereits Mörder auf einer Bühne gesehen, die wunderbares Theater gespielt haben. Und hier war es eben umgekehrt: wunderbare Menschen, die ein mörderisches Theater aufgeführt haben. Aber weil sie dabei leider nur die Figuren gespielt und nicht den Plot geschrieben haben, können sie den Zwängen ihres Lebens nur in den kleinen Pausen entkommen. Nur in diesen Pausen können sie den Luxus genießen ein freies Leben zu leben und sie selber sein – zum Beispiel als der eiskalte Killer Edoardo in seiner Unbeholfenheit seine Doris immer nur Boris nennt. Oder als Monica sich entscheidet nach Griechenland zu gehen, und damit ihre Zukunft selber in die Hand nimmt.

Filme für Europa

Nach der Reise stehe ich wieder im Foyer der SUB. Ich gucke mir noch einmal die Fotos von Emiliano Mancuso an. Es ist erstaunlich, wie viele Verbindungen ich von den Fotos zu meiner Reise knüpfen kann. Am eindringlichsten ist es bei dem Foto der gerade entlassenen Arbeiter in ihrer Fabrikhalle. Als Silhouetten und ohne Gesicht wirken sie auf den ersten Blick fast bedrohlich. Doch verharrt der Blick, erkennt man hängende Schultern und die ergrauten und kahlen Köpfe alter Männer und je länger man das Bild betrachtet umso kälter wird einem. Die Reise gleicht dem verharrenden Blick, je länger sie angedauert hat, desto mehr habe ich verstanden. Es sind unsere Nachbarn, die mit jenen Problemen konfrontiert sind, die auch wir kennen: Ausgrenzung von Migranten und Mittellosen, untergehendes Handwerk, stillgelegte Fabriken und Kurzarbeit… Es zeigt sich auf Dauer, dass es sich dabei nicht um italienische oder vielleicht noch deutsche Probleme handelt, sondern um europäische. Ein wenig hat sich der Blick aber auch verändert, denn ich habe auch von Hoffnung und Glück und der Fähigkeit sich selber zu retten erfahren. In diesem Spannungsfeld stehen auch die vielen anderen Filmbeiträge des Festivals und genau hierin liegt die Kraft und die Bedeutung des Europäischen Filmfestivals: Wir sind Europa! Wir müssen uns nur noch besser kennenlernen…

Wer die Filme verpasst hat kann zumindest die Standbilder des Italiens von heute noch bis zum 16.12. in der Fotoausstellung »Stato d‘Italia – Italien heute« von Emiliano Mancuso im Foyer der SUB kennenlernen.

Die Filme:
Il mio domani von Maria Spada
Cesare deve morire von Paolo und Vittorio Taviani
Focaccia Blues von Nico Cirasole
Una vita tranquilla von Claudio Cupellini



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 10. Dezember 2012
 Kategorie: Misc.
 Mit freundlicher Genehmigung von Emiliano Mancuso
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