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Eine Welt ohne Armut

Andreas Eschbachs neuer Roman Herr aller Dinge handelt von dem jungen Japaner Hiroshi, der die Lösung für alle Probleme der Menschheit gefunden zu haben glaubt. Das grundlegende Problem der Menschheit ist simpel: Es gibt zu wenig von allem für jeden. Wären alle Menschen reich, gäbe es keine Armut mehr und alle Ungerechtigkeit hätte ein Ende. Die Frage ist daher nur, wie man genug von allem für jeden herstellt, denn es darf einfach keine Armut mehr geben. Was auf dem Klappentext zunächst wie eine abstruse Kinderfantasie erscheint, wird im Verlauf des Romans zu einer immer umfassenderen Idee mit weitreichenden Konsequenzen.

Von Jan-Billy Blum-Arndt

Andreas Eschbach greift in Herr aller Dinge wie bereits in Ausgebrannt oder Ein König für Deutschland aktuelle Themen wie das Problem der begrenzten fossilen Brennstoffe oder die weitreichende Macht von Computerhackern auf und entwickelt sie zu in Romanen verpackte Zukunftsvisionen. Der Roman beginnt in Tokio im dritten Stock eines Wohnhauses, gegenüber der französischen Botschaft. Hiroshi, der Sohn einer einfachen Wäscherin, ist zehn Jahre alt und ein Einzelgänger. Am liebsten vertreibt er sich die Zeit mit dem Reparieren von elektronischen Geräten aller Art. Eines Abends beobachtet er Charlotte, die Nachbarstochter des neuen Botschafters. Sie ist ebenfalls zehn Jahre alt, hat eine ungewöhnliche Begabung für Sprachen und verfügt außerdem über einen sechsten Sinn: Sie kann die Vergangenheit von Gegenständen durch bloßes Berühren fühlen.

Ein Steinmesser aus der Vergangenheit

Die beiden lernen sich schnell kennen und verbringen heimlich viel Zeit miteinander, da Charlottes Mutter jeden Kontakt mit Fremden, insbesondere in der Gesellschaft tiefer Stehenden, missbilligt. Hiroshi entwickelt in dieser Zeit eine Vision wie derartige Ungerechtigkeit zwischen arm und reich überwunden werden kann, die er im Vergleich zu seiner wohlhabenden Freundin immer wieder selbst erleben muss. Bei einem gemeinsamen Ausflug zu einem alten japanischen Schrein entdeckt Charlotte ein altes Steinmesser und verspürt den unbezwingbaren Drang es zu berühren. Sie erfährt dabei derart Ungeheuerliches aus der Vergangenheit des Artefakts, dass sie kein Wort mehr hervorbringt. Hier geht die Geschichte so weit in die Vergangenheit zurück, wie sie später in die Zukunft blickt – und es gibt wiederkehrende Elemente. Doch die Wege von Hiroshi und Charlotte trennen sich nur wenige Tage später abrupt. Als er sie wieder einmal besuchen will, erfährt er lediglich von den Angestellten der Botschaft, dass die Familie bereits abgereist ist.

Und dann, abends, kurz vor dem Einschlafen, hatte er auf einmal die Idee. Die Idee, wie man es machen konnte. […] Es stimmte gar nicht, dass es arme Leute geben musste, damit es reiche Leute geben konnte! Ein Denkfehler! Ein totaler Irrtum! Es konnten sehr wohl alle Menschen reich sein. Es konnte sehr wohl jeder alles haben, was er wollte – niemand musste herzlos oder böse dafür werden. Und das Beste: Es war im Grunde ganz einfach! Kinderleicht!

Liebe in der Zwischenzeit

Nach einigen Jahren in Boston treffen sie sich wieder. Er studiert am MIT und sie in Harvard. Hiroshis Interesse gilt der Robotertechnologie, Charlottes der Anthropologie. Die Gefühle der einstigen Kinder wandeln sich in die Gefühle von Erwachsenen, ihre Zuneigung können beide jedoch nicht ausleben. Hiroshi ist dafür zu sehr mit seinen Forschungen beschäftigt und Charlotte ist bereits verlobt. Als ein wohlhabender Unternehmer von Hiroshis Forschungen und dessen Vision erfährt, eröffnen sich diesem völlig neue Möglichkeiten, jedoch nur, wenn er die Vereinigten Staaten verlässt und seine Forschung unter strengster Geheimhaltung fortsetzt. So trennen sich die Wege der beiden erneut. Hiroshi meldet sich erst Jahre später wieder, als er bereits kurz davor steht, seinen Traum Realität werden zu lassen.

Buch-Info

Herr aller Dinge
Andreas Eschbach
Herr aller Dinge
Bastei Lübbe: Köln 2011
687 Seiten, 22,00 €

 
 
Wie außergewöhnlich und bedeutend seine Vision für die Zukunft der Menschheit ist, wird bereits im Prolog angedeutet und begleitet den Leser in der stetigen Erwartung, das Geheimnis bald enthüllt zu sehen. Bis dem Leser die alles verändernde Idee von Hiroshi letztendlich erläutert wird, vergehen über die Hälfte der knapp 700 Seiten des Buches. Diese Neugier durchzieht die erste Hälfte des Romans, in der Kindheit und Studium der Protagonisten erzählt werden – mit verschiedensten Beziehungsdramen, Liebesaffären und klassischen amerikanischen Erfolgsgeschichten. So fällt es schwer, das Werk einem Genre zuzuordnen: Zu Beginn, als Hiroshi und Charlotte noch heimlich zusammen spielen und sich gegenseitig ihre Geheimnisse anvertrauen, gleicht alles einem Jugendroman, als beide sich während des Studiums wiedertreffen, verfällt die Handlung stellenweise in fast liebesromanartige Beziehungsdramen und mit dem dritten Zusammentreffen der beiden wird dem Leser ein Wissenschaftsroman geboten. Es ist der Moment der Umsetzung von Hiroshis Vision einer vollkommenen Utopie. Die ersten beiden Hälften dienen zwar einer ausführlichen Darstellung und Entwicklung der beiden Protagonisten, dennoch scheint dies stellenweise etwas zu ausführlich und lässt die Spannung bereits vorzeitig etwas abfallen. Ob man die erste Hälfte ohne die Neugier auf die erwartete Enthüllung durchhalten würde, ist leider fragwürdig. Die zweite Hälfte hingegen wartet mit immer unvorhersehbareren Wendungen auf und belohnt den Leser für seine Geduld.

Raketen in der Zukunft

Als die große Auflösung endlich eintritt, ist man zunächst weniger beeindruckt als erwartet. Der Autor diskutiert die verschiedensten Aspekte des Projekts allerdings äußerst sorgfältig und führt dem Leser so Schritt für Schritt die komplexen Folgen für die menschliche Zivilisation vor Augen. Es ist die für Andreas Eschbach typische ausführliche Recherche, die ihn mit großer Fachkenntnis aus den verschiedensten wissenschaftlichen Bereichen berichten lässt. Gegen Ende werden die Entwicklungen allerdings zunehmend futuristischer und eine stetig wachsende Menge von Science-Fiction Elementen entfernt die Handlung von den vormals so sorgfältig ausgearbeiteten und überzeugenden wissenschaftlichen Details.

Charlotte rieb sich sachte die Schläfen, versuchte zu verstehen. ›Sie haben Raketen losgeschickt mit Maschinen, die fremde Planeten vernichten sollen… Wohin haben sie sie geschickt?‹ ›Überallhin. In alle Richtungen.‹ ›Und dann? Irgendwann erreicht so eine Rakete ein Sonnensystem, findet einen Planeten, der Leben trägt, schlägt ein, beginnt ihr Zerstörungswerk…‹ ›Und innerhalb weniger Tage ist alles Leben auf diesem Planeten ausgetilgt, restlos. Seine gesamte Hülle wird in neue Raketen umgewandelt, so lange, bis von irgendeinem Element nicht mehr genug da ist.‹

Andreas Eschbach ist bekannt für seine Romane, die oft von einer visionsartigen Idee durchzogen sind und irgendwo zwischen Realität und der fernen Zukunft stattfinden. Häufig ist es der Fall, dass seine Werke als »Mystery-Thriller« oder »Science-Fiction« abgetan werden. Dabei wird jedoch meist vergessen zu erwähnen wie ausführlich der Autor recherchiert und wie gekonnt er Wissenschaft mit Unterhaltung zu verbinden vermag. Darin liegt auch die Stärke von Herr aller Dinge: er bietet dem Leser Unterhaltung, eine Utopie und eine ausführliche Diskussion der unterschiedlichen Aspekte. Leider dominieren gegen Ende immer extremer die Science Fiction-Elemente, was all jene jedoch nicht abschrecken sollte, die mit Matrix, Terminator und Co. etwas anzufangen wissen.



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 Veröffentlicht am 24. September 2012
 Kategorie: Belletristik
 Mit freundlicher Genehmigung von Bastei Lübbe.
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