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Endstation Provinz

Ein 454 Seiten starkes Buch über die Liaison zweier Protagonisten in der Lebensmitte. Eine Geschichte über zwei gescheiterte Lebensentwürfe, angesiedelt im hessischen Bergenstadt, das es so zwar auf keiner Landkarte, aber hundertfach nicht nur in Hessen, sondern in der ganzen Republik gibt.

Von Anna-Marie Mamar

Zwei Figuren, gestrandet im Nirgendwo Deutschlands: Kerstin Werner ist geschieden, in Sorge um ihren pubertierenden Sohn, der für Ärger in der Schule sorgt und mit der Pflege ihrer demenzkranken Mutter beschäftigt. Thomas Weidmann ist Junggeselle, nach geplatzter Universitäts-Karriere im Schuldienst und Klassenlehrer von Kerstin Werners Sohn. Beide blicken auf ihr einstiges Leben zurück: Sie als ausgelassene Studentin in Köln, er an der Universität in Berlin, beide mit großen Zielen vor Augen. Doch alles kommt bekanntlich anders als man denkt und beide finden sich in der hessischen Provinz wieder. Ein wenig in der Einsamkeit des Junggesellendaseins verloren trifft er sich mit Internetbekanntschaften; sie geht mit ihrer Nachbarin in einen Swinger-Club, bevor er und sie zueinander finden.

Stephan Thomes vielbeachteter Debütroman Grenzgang, der 2009 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, porträtiert im kühlen, aber dennoch einfühlsamen Ton die Geschichte zweier gescheiterter Lebensentwürfe. In dem kleinen (fiktiven) Ort Bergenstadt lässt Thome die beiden Mittvierziger verweilen und setzt die provinzielle Kulisse um sie herum virtuos in Szene. Dabei spart er nicht an Klischees über das typische Dorfleben: Er lässt nicht nur die Dörfler in hessischer Mundart tirilieren, sondern inszeniert durch das traditionelle Stadtfest »Grenzgang«, für das Bergenstadt alle sieben Jahre Schauplatz ist, eine wahre Volksfeststimmung: Blaskapelle, Alkohol im Überfluss, Schlagermusik und Würstchenbuden. Ein Fest, das bei den Protagonisten des Romans starke Ablehnung hervorruft und den Leser schmunzeln lässt. Ja, das ist die Provinz in voller Gänze!

Buch-Info


Stephan Thome
Grenzgang.
Roman

Suhrkamp: Berlin 2009
454 Seiten, 22,80 €
 
 

Fünf verschiedene Grenzgang-Feste bilden den einzigen Handlungszeitraum dieses Romans, was besonders dadurch Spannung erzeugt, »weil gerade an Grenzgang niemand wusste, wo die Grenze eigentlich verlief«. Was zwischen diesen Festen geschieht, erfahren wir nicht. Doch wir verpassen bestimmt nicht wirklich etwas, denn es wäre wohl nur ein weiteres sich mit der Gegenwart in der Provinz Abfinden von Werner und Weidmann. Diese lässt sich zumindest durch die Konstruktion des Romans entnehmen: »Grenzgang« legt nämlich nicht nur Ort und Zeit der Handlung fest. Es ist das dreitägige Fest, an dem symbolisch die Grenzen Bergenstadts abgegangen werden und dadurch wird der Begriff, der auch gleichzeitig Titel des Romans ist, zur vielschichtigen Metapher: Es ist das Abschreiten der eigenen Grenzen, des eigenen kleinen Kosmos, den beide Protagonisten gerne verlassen würden, aber nicht können und letzten Endes, ohne sich zu beklagen, auch gar nicht verlassen werden. Es bleiben Kerstin Werners immerwährende, trockene Reflektionen über ihren Lebensweg: »Was es allenfalls gibt, sind Kreuzungen in Raum und Zeit, und wenn man dort steht, sieht man einen Moment lang alles: die Wege, die man gegangen ist, die anderen, die man hätte gehen können, und die ganz anderen, an die man nie gedacht hat.« Und es bleibt Thomas Weidmanns sich Arrangieren mit der Gegenwart: »,Wird sich schon ein schöner Landgasthof finden für uns.’ […] Kein Grandhotel, kein Traumstrand.« Abgeklärt stellen sich die beiden Protagonisten ihrem Alltag. Einige kleine Momente gibt es, in denen sie aus dieser Haltung ausbrechen, doch vergeblich wartet der Leser auf eine adäquate Reaktion. Durch die nüchternen und festgefahrenen Charaktere vermag einen die Geschichte dieser beiden Mittvierziger leider selten richtig zu berühren oder zu überraschen.

Originell und geschickt ist jedoch die Erzählweise, die Stephan Thome in seinem Debütroman konstruiert: Grenzgang wird mal aus Thomas, mal aus Kerstins Sicht erzählt. Aber nicht nur die Erzählperspektive wechselt ständig, sondern auch zwischen den Grenzgangfesten, von denen berichtet wird, springt die Erzählung in der Spanne von 28 Jahren hin und her. Ausgangspunkt ist das Jahr 1985, in dem Kerstin als junge Studentin zum ersten Mal nach Bergenstadt kommt, das letzte Grenzgangfest ist ein Ausblick in die Zukunft, das Jahr 2013. Diese Sprünge kreuz und quer durch die Zeit erfordern in jedem neuen Abschnitt des Romans ein neues Zurechtfinden, ein erneutes Zusammenlegen der Puzzlestücke, was das Lesen zu einer fortwährenden Rekonstruktion der Ereignisse macht.



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 Veröffentlicht am 7. Juni 2010
 Kategorie: Belletristik
 Schlagworte: , , ,
 Foto von Manuel Helbig via flickr
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