Bewegende Kinoperlen gab es zu entdecken auf dem 28. Unabhängigen Filmfest Osnabrück, das vom 23.-27. Oktober 2013 in der Friedensstadt stattfand. Aus mehr als 500 Einreichungen wurde ein sehenswertes Programm aus 78 Filmen zusammengestellt, das sich vornehmlich dem engagierten Film verpflichtete.
Von Julia Scheck und Johanna Karch
Dies spiegelt nicht nur die Hauptpreisvergabe wider: Der Friedenspreis der Stadt Osnabrück wird an Spielfilm- und Dokumentararbeiten vergeben, deren ästhetische Qualität in herausragender Weise mit humanem Denken und sozialem Engagement verbunden ist. Der diesjährige Gewinner, Kim Longinottos Salma, ist ein perspektivisch beachtliches Dokumentarprojekt, das den politischen und privaten Werdegang einer tamilischen Frau nachzeichnet. Salma wurde gemäß der muslimischen Tradition ihres südindischen Dorfes zu Beginn ihrer Pubertät aus der Schule genommen und gesellschaftlich isoliert, um sich auf Hochzeit und Eheleben vorzubereiten. Da sie sich weigerte, den ihr zugesprochenen Mann zu heiraten, fristete sie ihr Dasein neun Jahre lang in einem Kellergefängnis – bis sie schließlich doch in die ungewollte Ehe gedrängt wird. Ihr schriftstellerisches Talent entdeckend, beginnt sie Gedichte zu schreiben und ihr Schicksal literarisch zu kanalisieren. Trotz Schreibverbot und Morddrohung publiziert Salma ihre Gedichte und wird zur geachteten Stimme gegen die Degradierung der Frau in der indischen Gesellschaft.
Regisseurin Longinotto schafft einen intimen Zugang zum Damals und Heute der Protagonistin, indem sie nicht nur letztere selbst, sondern auch die Familienmitglieder erzählen lässt. Mit aus westlicher Perspektive verblüffender Offenheit werden die Schandtaten gerechtfertigt bzw. gar nicht als solche erkannt, sondern vielmehr Salmas Bildungshunger und ihre Unangepasstheit verteufelt. Zu klug sei sie und unbequem. Man fragt sich, ob das Filmprojekt und dessen kritische Handschrift ihr nicht zum Problem werden können, denn allen literarischen Apellen und politischen Aufklärungskampagnen zum Trotz, wird ihr familiäres Gefüge nach wie vor vom Patriarchat bestimmt. Doch Angst habe sie keine, verrät Salma im Gespräch mit LitLog. Der Erfolg des Dokumentarfilms, der mittlerweile weltweit für Aufsehen sorgt und mit Preisen überhäuft wird, werde nichts an der Situation in Indien ändern. »The change has to come from the inside of the country, otherwise nothing is going to change« ist sich die Autorin sicher. So betrachtet sie den Erfolg des Films zwar als Genugtuung, allerdings nicht als Hilfsmittel ihres eigentlichen Vorhabens, nämlich ein Bewusstsein für Menschenrechtsverletzungen in der multikulturellen indischen Gesellschaft zu schaffen. Sie betont dabei, dass die Denkweise aller Menschen justiert werden müsse, nicht nur jene von Männern, Frauen, Muslimen oder Katholiken. Als Religionskritikerin möchte sie demnach auch keinesfalls ausgelegt werden. Der Koran halte keine repressiven Gesetze bereit, sondern einzig und allein seine Interpreten. Mit dem Preisgeld von 5.000€ soll nicht nur das filmische Werk gewürdigt werden, sondern auch das politische Engagement von Rajathi Samsudeen, so der bürgerliche Name der Protagonistin.
HeimwärtsDas Motiv von entwurzelten Menschen ließ sich gleich in mehreren Festivalbeiträgen beobachten. Die Herangehensweise war stets unterschiedlich. Drei osteuropäische Beiträge in der Sektion »Focus on Europe« deklinierten die Schwere des verstaubten Begriffs ´Nostalgie´ filmisch durch und füllten ihn mit Interpretationen aus der modernen Fortschrittsgesellschaft: Alyona Surzhikovas Dokumentationen Not My Land, über illegale russische Nutzgärten auf einem Gelände des Tallinner Flughafens, Fabian Daubs Roşia Montană über den Kampf eines rumänischen Dorfes gegen dessen buchstäbliche Korrosion und Daria Onyshchenkos episodischer Spielfilm EASTALGIA zeigen den materiellen und spirituellen Verlust von Heimat.
Die russischen Parzellenbesitzer einer Kleingartenkolonie kamen als junge Arbeiter nach Tallinn, um in der Fabrik »Dvigatel« (zu Deutsch »Motor«), ein Zulieferer der Atom- und Raumfahrtindustrie in der ehemaligen Sowjetunion, zu arbeiten. Was für viele als Berufseinstieg begann, wurde zur Lebensaufgabe und nun wirken die ehemaligen Fabrikarbeiter wie Übrigbleibsel aus einer lang vergangenen Zeit. Das Fabrikgelände gehört mittlerweile dem Tallinner Flughafen, genauso wie das Stück Land, das ursprünglich den Angestellten zur eigenen Nutzung überlassen wurde. Die Sowjetunion ist nur noch ein Kapitel in den Geschichtsbüchern und die russischen Fabrikarbeiter sind nach dreißigjährigem Aufenthalt in Estland immer noch Ausländer. Ausländer, die sich nicht mehr vorstellen können, in ihre jeweilige Heimat zurückzukehren. Wie auch? Sie haben einen Nutzgarten, um den sie sich kümmern und Tiere, die sie versorgen müssen. Ein Ort, der in einer fremd gebliebenen Umgebung ein Gefühl der Zugehörigkeit verbreitet. Ein Ort, an dem Kinder und Enkelkinder groß wurden und an dem Nachbarn immer Zeit für ein botanisches Fachgespräch unter dem Apfelbaum haben. Ein Stück heile Welt, das täglich vor der Bedrohung steht, abgerissen zu werden, im Namen des Fortschritts versteht sich. Surzhikova lässt in ihrer Dokumentation einfache Menschen zu Wort kommen, die in der estnischen Gesellschaft ungern gehört werden. In einem Zeitungsartikel schreibt die Regisseurin: »Nach der Kinoausstrahlung meines Films in Estland bekam ich Briefe von Lehrern estnischer Schulen, darüber, dass ihre Schüler der zehnten bis zwölften Klassen schockiert über die Tatsache waren, dass Russen auch Menschen sind, die sich sorgen und die lachen können!«1
Nostalgie wird ausgelöst durch das Unbehagen an der Gegenwart und äußert sich in einer unbestimmten Sehnsucht und Rückwärtsgewandtheit zu einer vergangenen Zeit. In seiner ursprünglichen Bedeutung ist Nostalgie das, was wir heute Heimweh nennen. Was passiert, wenn jemand beschließt, die Heimat zu verlassen, weil er nach einem lebenswerteren Leben für sich und für die eigene Familie in der Fremde sucht? Diese Frage umfasst die episodische Erzählung des Abschluss- und Debütfilms Daria Onyshchenkos, EASTALGIA. In drei europäischen Städten wird von acht miteinander verwobenen Schicksalen erzählt. Der handlungsreduzierte Spielfilm lässt Raum für die Nostalgie in Bildern und Farben. Der Stillstand des jungen Bogdans (Ivan Dobronravov), der seine Abreise aus der Ukraine mehrmals verschiebt, zementiert sich in den fast unbeweglichen Einstellungen während der Busfahrt durch das nächtliche Kiev. In der Zwischenzeit scheint seine Mutter Ruslana (Nina Nizheradze) ihr Leben in München aufzuschieben, denn erst durch Bogdans Ankunft, so scheint es, kann das Leben in der Fremde beginnen. Und dann ist da noch Jelena (Lea Mornar), die versucht, ihre letzte Nacht in Belgrad mit jeder Faser ihres Körpers in sich aufzusaugen und erst im Morgengrauen etwas realisiert, was sie lange unterdrückt hat.
Mit acht weiteren Filmperlen bildete die Sektion »Focus on Europe« einen spannenden Querschnitt durch den europäischen Film, in der Beiträge aus Kinoschwergewichtsnationen wie Frankreich, Großbritannien, Deutschland oder Schweden nicht fehlten. Die Gunst des Publikums und den in diesem Jahr zum ersten Mal ausgeschriebenen und mit 2.500€ dotierten Publikumspreis gewann die deutsche Tragikomödie Ich fühl mich Disco von Axel Ranisch.
Beckett um die EckeNicht für einen Preis angetreten, sondern mit dem Bemühen, das deutsche Asylbewerbergesetz mit seinen realitätsfernen Ausformungen zu hinterfragen ist Julia Oelkers Can´t Be Silent: eine Dokumentation über den Hamburger Musiker Heinz Ratz, der sich aufgemacht hat, talentierte Musiker in Asylheimen aufzuspüren und trotz Residenzpflichtbeschränkungen
Was habe ich gemacht? Ich durfte Gifhorn nicht verlassen, ich durfte die Stadt nicht verlassen.
Becketts Dramen spielen sich gleich um die Ecke ab, in Bramsche, Hellersdorf oder Friedland. Und es sind die echten Schicksale, die fiktiv anmuten, die den Film so eindringlich wie besonders machen. Dabei verstehen die Macher es, ihr Anliegen magenschonend zu bereiten. Sie verzichten auf aggressive Soll-und-Muss-Botschaften, sondern lassen ihr Werk, trotz der offenen Erzählfäden, die das asyle Zwischenleben in Deutschland so spinnt, mit einer optimistischen Grundstimmung zu Ende gehen. Oelkers und ihr Team weisen lieber auf die ganz naheliegende Möglichkeit hin, individuelle Fähigkeiten der Flüchtlinge zu erkennen und zu nutzen: »Nach Europa kommen ja nicht nur tragische Menschenschicksale, sondern Handwerker, Bäcker oder eben Künstler, deren Kompetenzen durch unwürdige Restriktionen verkümmern«, konstatiert die Regisseurin. Heinz Ratz habe sich nicht schrecken lassen von behördlichen Auflagen und es einfach getan, nämlich sich den Asylsuchenden zugewandt. Und das stehe zweifelsohne jedem frei.
Nach fünf Tagen geht ein Festival mit bewegenden Beiträgen zur behutsamen Horizonterweiterung zu Ende, die einen Besuch im kommenden Jahr provozieren. Das 29. Unabhängige FilmFest Osnabrück findet vom 15.-19. Oktober 2014 statt.