Von Eseln, Maulwürfen und den Näherinnen in Bangladesch: Das Göttinger freie Theaterensemble werkgruppe2 führt ein »inszeniertes Konzert« auf, um herauszufinden, wie Bewusstsein, Denken und Emotionen durch das Hören von Musik beeinflusst werden können. Über einen Abend zwischen Transzendental-Trip und Existenzialismus-Exkurs berichtet Leonie Krutzinna.
Von Leonie Krutzinna
Ein überdimensionierter Unterrock nimmt die ganze Bühne ein. Devot schaut man vom Fantakisten-Platz zu einem Frauenkopf auf, der in 2,50 m Höhe auf dem Unterrock sitzt und sich mechanisch Erdnüsse in den Mund steckt. Die Spielstätte, eine Bekleidungsboutique, macht sich die in der Luft liegende Dominanz von Samt und Seide geschickt zunutze. Unter der riesenhaften Erdnussfrau krümmen sich die Rücken der ZuschauerInnen auf den Getränkekisten umso mehr.
Der Frauenkopf trägt einen roten Backenbart im Gesicht. Wen das irritiert, der wird schnell belehrt: Eine Frau ist eine Frau, wenn sie von sich sagt, sie ist eine Frau. So einfach ist das fürs Theater. Und so komplex ist der Diskurs um Aspekte der Identitätsbildung, um Selbst- und Fremdwahrnehmung, Subjektivität und Objektivität. Um solche Fragen kreist die aktuelle Produktion Ich und der Esel der werkgruppe2, die am 30. Oktober 2013 im Bekleidungsgeschäft Woggon in Göttingen Premiere feiert.
Bin ich wie ich mich sehe oder wie ich gesehen werde? Könnte alles auch anders sein? Mit welchen Kategorien beschreiben wir unsere Umwelt, sind unsere Protoypen im Kopf reversibel? Die werkgruppe2 hat über das, was zunächst sehr rational klingt, mit einem Hirnforscher, einem Soziologen und einem Philosophen gesprochen. Das dabei entstandene Interviewmaterial präsentiert sich im Lauf des Abends dann als eher assoziativer Beitrag im ontologisch-existenzialistischen Diskurs.
Transzendentaltrip?Und obwohl Natur- und Geisteswissenschaftler den Theatertext stiften, war im Anfang nicht das Wort, sondern die Musik. Werkgruppen-Mitglied Insa Rudolph hat mit ihrer Berliner Band eine Reihe von Neu-kompositionen ins Spiel gebracht. Von diesen ausgehend nahm sich das Kollektiv vor, zu ergründen, welche inneren Bilder Musik auslöst, wie Bewusstsein, Denken und Emotionen beeinflusst werden können.
Da ist zum Beispiel ein kleiner Maulwurf, der in einer Apotheke Strümpfe kaufen möchte – und dort keine bekommt. Dem Absurden ebenso verhaftet bleibt der titelgebende Esel. Dieser hat immerhin die tragende Rolle, das Publikum vom Unterrock der Erdnussfrau zu befreien, womit das Stück auch seinen atmosphärischen Höhepunkt erreicht: Meter um Meter gibt der Esel blauen Stoff in Zuschauerhände, bis jener als Firmament über dem gesamten Publikum aufgespannt ist.
Semiotisches SpielWarum es nun gerade ein Esel ist oder ein Maulwurf bleibt ungeklärt – und es braucht auch gar keine Auflösung. Denn das semiotische Spiel ist für die Produktion konzeptuelle Methode. Zudem liefert die märchenhafte Kostüm- und Bühnenausstattung das Setting, um starre Kategorien im Kopf zu überwinden. Im Lauf der Inszenierung zeigt sich dann auch, dass weniger eine fehlende Handlung, das Absurde oder unausdeutbare Symbole problematisch sind, sondern vielmehr eine zu große Konkretheit in der ein oder anderen Sequenz. Beispielsweise, wenn von den Näherinnen in Bangladesch die Rede ist, bei denen die ›Apokalypse‹ längst Realität ist, während in der Ersten Welt Science Fiction-Serien darüber entsponnen werden. Gegen solche sanktionierenden Seitenhiebe können sich die individuellen inneren Bilder nur schwer zur Wehr setzen. Und dann tut einem auch plötzlich wieder der Rücken weh und man merkt, dass die Luft unter dem blauen Himmelstuch langsam dünner wird.