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2 Stimmen, 1 Roman
Everything seems to be right

Judith Zander beweist in ihrem Romandebüt, dass Prosa so wenig prosaisch sein muss, wie Alltag manchmal lyrisch ist. Die junge Autorin hat tief ihm Dorfmatsch gewühlt und einen anmutigen Roman geschrieben, klebrig-süß wie Zuckerrübensaft, den man mit bitterem Earl Grey-Tee herunter spült. Nadya Hartmann verbrachte 480 Seiten im fiktiven Bresekow. Eine Karussellfahrt mit erdverkrusteten Händen und Schmetterlingen im Bauch.

Von Nadya Hartmann

Der Titel des Romans Dinge, die wir heute sagten ist so gut, weil er nichts so richtig und so richtig alles zu sagen scheint. Dezent und doch irgendwie bedeutungsschwanger verführt er durch seine Einfachheit. Ihm wohnt eine schwermütige Leichtigkeit inne, die man eigentlich nur aus Songs kennt. Das könnte daran liegen, dass es auch ein Song ist. Oder vielmehr, schon ein Song war, bevor Judith Zander geboren wurde. Things we said today erschien als B-Seite der Beatles-Single A hard day’s night. Das ist dieser Song mit der Liedzeile, bei der man unwillkürlich die Augen zukneift und mitschmettert: »When I’m home, everything seems to be right«. Es ist ein Liebeslied wie Things we said today, allerdings will sich das »all right«-Gefühl hier nicht einstellen. Die Heimat der Figuren aus Zanders Romandebüt ist das Dorf Bresekow, ein fiktiver Ort in Vorpommern. Irgendwo in der Nähe von Anklam soll es liegen, dort, wo die heute in Berlin lebende Autorin selber aufwuchs.

Und überhaupt, Heimat, was für ein komisches Wort, ein Wort, das es im Englischen gar nicht gibt. Für manche ist es ein Sehnsuchtsort, aber nicht für die Bresekower. Sie wohnen im »Zentrum des Nichts«, in einem verschlafenen Nest mit »brösigem Himmel« wo alle meckern, schuften, lungern und vor allem fernsehgucken. So stellt es uns Romy, eine der Erzähler/-innen dieses polyphonen Romans, gleich auf den ersten Seiten vor. Das »wir« im Titel, das sind die Stimmen des Dorfes, eine wohlüberlegte Durchmischung der Generationen, Geschlechter und Schichten, deren einzige Gemeinsamkeit der Wohnort zu sein scheint. Und bei keinem von ihnen »everything seems to be right«. Im Gegenteil. Im Bresekower Dorfmodder verbergen sich Dinge, die bis heute keiner sagte. Doch bekanntlich geht in der Jauchegrube der Erinnerungen nichts so richtig unter. Schließlich schwappen sie doch wieder an die Oberfläche, die Vergangenheitsleichen mit ihren aufgedunsenen Bäuchen. »›Es stinkt im Dorf‹, sagt Romy. ›Alles Inzest‹, sagt Papa.«

»Es stinkt im Dorf«

Die Landschaft, in der Zander ihren Roman ansiedelt, beginnt kurz hinter Berlin und hört bis Rostock nicht auf. Zwischen den Kapiteln ragen die Beatles-Zitate heraus wie vereinzelte Baumwipfel aus öder Gegend. Durch die oft etwas ungelenke Übersetzung wirken sie verfremdet und sind trotzdem merkwürdig vertraut. Alle tragen die Überschrift »John & Paul«. Mit ihnen nimmt die Geschichte ihren Anfang: »Irgendwann wenn ich einsam bin – wünschend du wärst nicht so weit weg – werde ich mich erinnern an – Dinge die wir heute sagten.« Bei Zander klingt das nicht nach Liebeslied.

Buch-Info


Judith Zander
Dinge, die wir heute sagten
München: dtv 2010
480 Seiten, 16,90 €

 

2 Stimmen, 1 Roman

In jedem erweckt das Lesen eines Textes ganz unterschiedliche Eindrücke. Dementsprechend unterscheiden sich die Stimmen zweier Personen, die ein und denselben Roman besprechen. Die Reihe »2 Stimmen, 1 Roman« macht die einzigartigen Zugänge zu Texten sichtbar.
 
 
Jeder der Dorfbewohner hat eine Geschichte. »Ein Päckchen zu tragen« oder »eine Leiche im Keller«, wie man im Volksmund so sagt. Und der Volksmund sagt viel, »wenn der Tag lang ist«. Und die Tage in Bresekow sind besonders lang und was das heißt, ist klar. Und trotzdem sind alle einsam. Im Dorf rumort es mono, nicht stereo. Manche Monologe bestehen nur aus Erinnerungen, die um die Dinge kreisen, die hätten gesagt werden sollen. Nostalgie ist da fehl am Platz. Wenn sich ihre Gedanken in die Vergangenheit flüchten, dann nur, weil manchmal etwas passiert. Und dann hängt das Unausgesprochene auf einmal in der Luft wie alter Rauch in der Dorfkneipe. Das etwas ist der Tod von Anna Hanske. Ihre Tochter Ingrid ist gezwungen, zurückzukommen, in die Heimat, die sie damals fluchtartig verlassen hat. Heute lebt sie in Irland und hat ihren Mann Michael samt Sohn im Gepäck, der, man dürfte nur minder überrascht sein, tatsächlich Paul heißt.

An Orten wie Bresekow hängen Schicksale enger zusammen, als anderswo. Als Ingrid Bresekow verließ, hoffte sie, es sei für immer. Ihren geistig behinderten Sohn Henry ließ sie bei ihrer Mutter zurück. Anna Hanske, eine robuste, starke Frau, über die man sich im Dorf das Maul zerreißt und dadurch enger zusammenrückt, und sei es nur, um sich etwas ins Ohr zu tuscheln, zieht den Kleinen auf. Ein Leben, das so beginnt, kann nicht glücklich werden, zumindest nicht in der Literatur. Die Rückkehr Ingrids und ihrer beider Männer, den Iren (»Is denn nu ihr Mann uch n Irischer?«, echot der Gemeindechor), bringt das Karussell der Schuldgefühle, der geheimen Sehnsüchte und der alten Wunden zum Drehen.

Auch die Mädchen Romy und Ella, die junge Generation, wünschen sich nichts sehnlicher, als aus dem Kaff herauszukommen. Sie sind gleichalt und sehr verschieden. Vor allem aber sind sie anders als die anderen und ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass das beide so sehen. Ihr Alltag, in dem Earl Grey das Exotischste ist, was sich ihnen bietet, erfährt durch die »Irischen« eine aufregende Abwechslung. Hartmut, Sonia, Romy, Ella, Maria, Pastor Wietmann, Ecki, Henry… Die einzelnen Kapitel tragen den Namen ihres Erzählers, jedes Ich eine isolierte Überschrift, eingeschlossen in seiner Perspektive. Der Leser ist das fehlende Verbindungstück in der Mechanik des Dorfkarussells. Die eigentliche Geschichte findet zwischen den Kapiteln statt und handelt von den Dingen, die niemand sagte.

Gummistiefel aus korallroten Anfangssätzen

Wenn Judith Zander auch kräftig im Dorfmatsch wühlt, Gummistiefel trägt sie dabei nicht. Sie erzählt ohne plumpen Pathos, ihre Sätze trampeln nicht. Zanders Prosa ist wie ihre Lyrik: ernst und schön. Sie zieht einen in die Perspektive ihrer Figuren hinein, wie einen Mantel streift man sie sich gerne über. Jede hat ihre eigene, unverwechselbare Stimme. Die Gemeinde lässt Judith Zander in Mundart durcheinander reden, dabei heraus kommt eine herrlich verschrobene Kakophonie von Dingen, die man sich auf dem Dorf sagt, wenn bestimmte Leute nicht dabei sind. Der Pastor erzählt mit gebetbuchartigem Singsang, der etwas tumbe Sportlehrer Hartmut spricht regional gefärbtes Hochdeutsch. Die Freunde des Dorfjungen Ecki tragen Namen wie Sandro Möller, Börner, oder – wer will hier das Klischee leugnen? – Jacqueline. Das Vokabular der Clique, in der sich die Jungen gegenseitig »Hoschi« nennen, ist deftig. Zander hat keine Scheu vor Sätzen wie: »die sind doch alle nich ganz knusper bei die« oder »Darfst mir uch ficken«. Mal ist ihre Sprache ungeschliffen, dann klingt wieder die Poesie ihrer Lyrik durch, die den Leser umfängt wie ein »Netz aus korallroten Anfangssätzen«. Die Charaktere, die sie in dem Roman schafft, lassen sich nicht mehr abschütteln. Ihre Hoffnungen, Enttäuschungen, Ängste kleben an einem wie Zuckerrübensaft.

Das Leben ist kein Beatles Song, auch nicht in der Fiktion. Und obwohl Zander diese dem Leser als beunruhigend authentisch präsentiert, haben sich weiche Knie lange nicht mehr so gut angefühlt. Für den Leser ist es schön zu wissen, dass sich einige der Figuren auf den letzten Seiten lebendiger fühlen. Wenn Zander sie auch nicht zu Oh Happy Day schnipsen lässt, gibt es am Ende doch Strawberry fields und Schmetterlinge, eventually.

Kevin Kempkes Stimme zu Judith Zanders Dinge, die wir heute sagten findet ihr hier.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 3. März 2011
 Kategorie: Belletristik
 Bild von VARA via Wikimedia Commons.
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 Ein Kommentar
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Ein Kommentar
Kommentare
 Max Kiefer
 14. März 2011, 23:07 Uhr

“Das Leben ist kein Beatles Song, auch nicht in der Fiktion.”
Sehr schön gesagt.

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