Freitagabend in Göttingen: Auftakt des Göttinger Literaturherbstes 2015. In der vollbesetzten Lokhalle blicken 800 Augenpaare auf einen: Jonathan Franzen. Gefeiert als einer der ganz großen Namen in der derzeitigen US-amerikanischen Literatur, der Tolstoi der Gegenwart. Nicht nur die gesammelte Belegschaft der Amerikanistik-Studierenden der Uni Göttingen bekommt leuchtende Augen. Das ist er also, der sagenumwobene Mann, der das Internet verabscheut, sich gegen sämtliche neue Medien verwehrt und nun ein Buch über genau diese Welt geschrieben hat. Kann das gut gehen? Es kann. Und wie!
Von Marisa Rohrbeck
Locker und ein bisschen verlegen winkend betritt Jonathan Franzen die Bühne, zieht sein Jackett aus, holt Leseexemplar und Wasserflasche aus seiner Tasche. »I like Göttingen already obwohl es hier ziemlich warm ist« stellt er fest, während die Hemdsärmel hochgekrempelt werden. Er nimmt sich Zeit, richtet den Blick immer wieder forschend und selbstironisch ins Publikum und zeigt sich hier bereits als Meister der Kunstpause. Heute habe er nichts anderes getan, als Angst vor der Lesung zu haben, leitet er ein und hat damit bereits ein Schmunzeln und alle Sympathien auf seiner Seite. Die Angst scheint völlig unbegründet. Auf Deutsch beginnt er eine erste Textstelle zu lesen, die die Protagonistin Pip Tyler in ihrer Beziehung zu ihrer Mutter vorstellt. Pip, die Idealistin; Pip, die in einem besetzten Haus in Oakland Kalifornien lebt; Pip, die auf der Suche nach ihrem unbekannten Vater ist; Pip, die es wagt, ihrer Mutter einen nicht-Geburtstagskuchen mit Stevia vorzuschlagen. »Stevia macht komische Sachen mit meiner Mundchemie« konstatiert die Mutter, während Franzen ihr atemloses Sprechen sowie Rhythmus und Intonation grandios verkörpert. Das Publikum kichert immer wieder über Franzens trockenen Humor, hilft begeistert bei Wortfindungs- und Ausspracheproblemen.
Überraschende ErzählweiseAls »a serious writer« hat sein Kollege und Landsmann Gary Shteyngart ihn noch vorige Woche im Literarischen Zentrum bezeichnet. Erst kürzlich wurde Franzen von der ZEIT als Teil des Kanons des jungen Jahrhunderts ausgerufen; man kann nur großes Erwarten. Mit dem Roman Die Korrekturen, ein Gesellschaftsroman und eine Geschichte über Familie, hat sich Franzen 2001 in die Köpfe der Welt geschrieben und ist seither in aller Munde. 2010 folgte dann Freiheit, was abermals ein traditionell realistisches, generationenumspannendes Familienepos war. Mit Unschuld legt Franzen nun ein Buch vor, das wenig in Einklang mit seiner bisherigen Erzählweise und seinem vertrautem Stoff ist. Die Familie, wie wir sie bisher kannten, gibt es nicht mehr. Die Geschichte holt ganz groß aus: Sie erzählt vom Containern in Oakland, von Stasi-Offizieren in der im Untergang begriffenen DDR, vom Whistleblower Andreas Wolf, der es, versteckt im bolivianischen Urwald, mit seinem Sunlight Project zur Internet-Koryphäe gebracht hat. Wie passt all das zusammen?
Zeigt sich als Meister der Kunstpause: Jonathan Franzen fesselt mit seinem Roman »Unschuld«.
Franzen versucht selbst den Stoff des Buchs zu umreißen und stößt dabei an die Grenzen seiner Deutschkenntnisse: »And here I am, speaking English« bemerkt er und legt damit den Duktus der Lesung fest, die immer wieder ganz natürlich zwischen Deutsch und Englisch changiert. Die Reputation der Diva, des gefürchteten, weil schwierigen und manchmal wortkargen Gastes einer Literaturveranstaltung bewahrheitet sich nicht. Charmant und geradezu nahbar gibt er sich, tritt immer wieder in den Dialog mit seinen Zuhörern. Unbeirrbar greift er zu seiner eigens mitgebrachten Wasserflasche und zieht diese ostentativ dem bereitgestellten Wasserglas vor. Ist das der Gestus des Plastikflaschen-sozialisierten Amerikaners oder ein ironischer Kommentar auf den deutschen Literaturbetrieb, in dem eine Lesung »reading seven-page sentences and chainsmoking« bedeutet?
»There are no constraints«Pointiert und bildreich gewährt Franzen Einblick in seine Arbeitsweise und die Entstehung des Buches, verfällt dabei in einen regelrechten Plauderton. Unschuld habe er tatsächlich sehr schnell geschrieben und es vorher nicht aufwendig konzipiert.
Fiction is a place where I am allowed to invent. You can make up whatever you want!
Sein Fazit ist letztlich »There are no constraints«, und das Publikum ist voll dabei.
Ein bisschen vorbereitet hat er sich dann aber doch, um zum Beispiel die DDR-Wirklichkeit zu beschreiben. Die Texte von Thomas Brussig waren hier hilfreich und auch die TV-Serie Weissensee. In den 80ern hat er nach seinem Germanistikstudium auch einige Zeit in Deutschland verbracht, einen Tag davon in Ostberlin.
Nicht so medienscheu wie erwartet: Ein nahbarer Jonathan Franzen in der vollbesetzten Lokhalle.
Obwohl er generell sehr seinem deutschen Verlag Rowohlt vertraut, hat er Unschuld sogar teilweise in deutscher Übersetzung gelesen, was bei anderen Übersetzungen und Büchern nicht der Fall ist. Übersetzungen steht er wie Autorenfotos gegenüber: »bad pictures don‘t kill me and bad translations won‘t either«. Die Übersetzung des Romantitels wurde bisher viel besprochen, vor allem, dass Purity zu Unschuld wurde, und nicht etwa zu Reinheit. Darauf hatte Franzen keinen Einfluss, erklärt aber, dass letzteres ein zu schwieriges Wort gewesen sei, zu konnotiert. Und schließlich leidet jede der fünf Hauptfiguren an Schuldgefühlen, damit sei der Titel ein guter Kompromiss.
Beim anschließenden Eröffnungsempfang des Literaturherbstes im Apex war eine Frage omnipräsent: »Und, wie war Franzen?« Diejenigen, die dies beantworten konnten, tröpfelten erst nach und nach ein, denn noch eine Stunde lang signierte Franzen und bewies einmal mehr, dass das Image des medialen Miesepeters nicht mehr seines ist.