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Alles auf Anfang?

Sind fiktionale Figuren mehr als Figuren? Jenny Erpenbeck hat ein Buch im, mit und über den Konjunktiv geschrieben. Inspiriert durch ihre Lesung von Aller Tage Abend beim Göttinger Literaturherbst reflektiert LitLog-Autorin Anna Bers über Geschichten und Realitäten und wie sich die Kette der umgesetzten Möglichkeiten noch um viele kleine Erzählstücke verlängern lässt.

Von Anna Bers

Vier Geschichten gilt es zu erzählen. Sie handeln von drei Frauen und einem Mann. Drei davon sind wahr, eine ist erfunden. Was sie verbindet, das soll hier beantwortet werden.

Zumindest eine der Protagonistinnen, eine Berliner Autorin, würde allerdings die Existenz von Zusammenhängen leugnen. Wenigstens die der ganz großen: Sie heißen vielleicht Geschichte, Politik und Verantwortung und stehen dem Zufall, der einen realisierten Möglichkeit, dem Ding, dem Konkreten (ein Lieblingswort der Autorin) gegenüber. Die kleinen Zusammenhänge, sie heißen Blutsverwandtschaft und Autorschaft, Interpretation und Intention, würde sie nicht abstreiten. Die Autorin hat kunstvoll eine Figur geschaffen. Und sie weiß, wenn sie zugäbe, dass es sich dabei um ihre Großmutter, bei dem Sohn der Figur um ihren Vater handelt, wenn sie das bejahen würde, dann würde daraus nichts folgen.

»Möglichkeiten schauen sich an«

Das stimmt irgendwie, sagte eine, die Literaturwissenschaftlerin ist oder werden will. Autobiographische Figuren sind und bleiben: Figuren. Das ist blind, sagt eine, die vier Geschichten zu erzählen hat und die sich fragt, ob nicht doch Folgen und Zusammenhänge zu erkennen sind. Ob einander widerspiegelnde Biographien, sich anschauende Möglichkeiten, nennt die Autorin das, gerade wenn sie zum Teil erfunden und zum Teil historisch (im Doppelsinne von geschehen und geschichtlich wichtig) sind, nicht viel mehr miteinander zu tun haben als Material und literarische Umsetzung.

I Eine Frau wird um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in Galizien geboren. Sie stirbt wenig später dort am plötzlichen Kindstod. Das Leben ihrer Eltern geht weiter. Aber der Tod des Kindes hat ihm seinen Stempel aufgedrückt. Nichts ist wie vorher. Doch nicht. Doch kein Kindstod.

II Ein Mann wird 1942 in einer riesigen unbekannten Stadt namens Ufa geboren. Sie liegt am geheimnisvollen Ostrand des europäischen Teils von Russland in Baschkortostan und ist bei der Geburt des Mannes eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik, wie es etwas weniger geheimnisvoll heißt. Das Kind überlebt den Krieg. Seine Eltern werden wichtige Figuren im literarischen Leben der DDR. Autorin und Rundfunkleiterin, Kulturpolitiker, Chefredakteur und Chefdramaturg. Der Mann lebt noch heute.

III Eine junge Frau will Literaturwissenschaftlerin werden. Sie studiert, was sie dafür zu benötigen meint: Literaturen, Künste, Philosophie und Kulturwissenschaftliches. Sie besucht Theater und Lesungen. Museen und Performances. Dichterhäuser und Lesekreise. Irgendwann schreibt sie ein Buch über Goethe. Sie wundert sich jeden Tag selbst über dieses Interesse und versucht, die Gegenwart der Literatur und das 20. Jahrhundert nicht aus den Augen zu verlieren. Sie lebt noch heute.

IV Eine Frau wird in 1967 Ost-Berlin geboren. Ihre Familie besteht aus Schriftstellern, Philosophen, Übersetzern, Kulturschaffenden. Sie wird Buchbinderin. Dann Requisiteurin und Garderobiere. Dann Regisseurin. Dann Autorin. Sie lebt noch heute und schreibt sehr erfolgreich.

I Die Frau aus Galizien überlebt und stirbt in Wien, wo sie hungert und liebt. Doch nicht.

II Der 1942 geborene Mann ist Goethe-Leser und -Forscher. Er interessiert sich wie dieser für die großen Fragen der Ästhetik. Was kann Kunst? Seit seiner Jugend schreibt er überdies Gedichte und Romane. Sein letzter Roman erscheint 1996. Er leistet eine Abrechnung mit dem Historischen Materialismus aus der Sicht eines DDR-Philosophen und sein Autor lebt noch heute und hat eine Tochter, die ebenfalls Romane schreibt.

IV Die Autorin aus Ost-Berlin gewinnt nennenswerte Literaturpreise und Stipendien, zuletzt landet sie auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sie hat einen Roman über eine Frau aus Galizien geschrieben und lebt noch heute.

I Die Frau aus Galizien, die weder dort als Baby noch als Jugendliche in Wien gestorben ist, lebt und stirbt in Moskau. Doch nicht.

IV Die Frau aus Ost-Berlin hat eine Frau aus Galizien erfunden. Diese Frau stirbt vier Mal und dann immer doch nicht. Jeder Tod bringt ihr Leben, ihre Menschen in Situationen, die ohne ihn nicht geschehen wären. Jeder Tod – wie jeder nicht-erfundene Tod auch – reduziert die Zahl dessen, was dann noch möglich ist auf null. Jeder Doch-Nicht-Tod erweitert die Zahl der Möglichkeiten wieder auf Unendlich. Die Frau aus Berlin hat den Doch-Nicht-Tod erfunden, damit eines ganz klar ist: Wie viel möglich ist. Und sie hat ihn erfunden, weil sie erkannt hat, dass die Tage mit ihren Entscheidungen jede Menge Möglichkeiten zu Grabe tragen. Für diese Möglichkeiten hat sie Platz geschaffen in ihrem Buch. Sie lebt noch heute.

II Der Mann aus Ufa arbeitet seit den 70er Jahren und bis zur Wende als Philosoph. Die Titel seiner Arbeiten enthalten die Wörter: Motiv und Zweck, Wahrheit und Glaube, Dialektik – Logik – Wissenschaftsentwicklung, Reduktionismus, Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft, Positionen der Kritischen Psychologie, Wertung des Fortschritts und Fortschritte der Wertungstheorie im Sozialismus, Biologie und Kausalität. Er schreibt ein Buch, das heißt: Das Ganze denken. Der Mann lebt noch heute.

I Die Frau aus Galizien, Wien, Moskau, wird eine hochdekorierte DDR-Autorin. Sie hat einen Sohn und stirbt, weil sie die Treppe herunterfällt. Doch nicht. Sie stirbt als alte, verwirrte Frau in einem Altersheim der BRD. Diesmal wirklich.

II Der Mann, dessen Eltern die Volksbühne und die Bücherregale der DDR bestücken, wird Physiker. Heute entwickelt er Kompetenz-Messverfahren, die geheimnisvolle Akronym-Namen tragen und einer modernen Personalentwicklung valide Testmethoden zur Verfügung stellen wollen. Er lebt noch heute.

III Die Frau, die Literaturwissenschaftlerin werden will, liest einen Aufsatz über Goethe. Er ist von einem Mann aus Ufa geschrieben, der heute Kompetenz-Entwicklungs-Strategien für die Wirtschaft erfindet.

II Der Mann aus Baschkortostan ist Stasi-Spitzel. Er lebt noch heute in Berlin.

III Die Frau, die ein Buch über Goethe schreibt, besucht die Lesung einer Autorin aus Berlin. Sie hat einen Roman geschrieben. Die Goethe-Frau freut sich, dass auch die Gegenwartsliteratur ihr zu denken gibt und weiß, dass sie scheinbar den richtigen Berufswunsch hat. Sie hat in ihrem Studium gelernt, dass literarische Figuren nichts anderes sind als dies: Figuren.

Die Literaturwissenschaftlerin fragt sich wie nie zuvor, ob fiktionale Figuren mehr sind als Figuren. Ob es nicht sogar Fälle geben kann, in denen es gefährlich ist, die Verantwortung für die Handlungen der Figuren abzugeben. In denen es nicht erlaubt ist, die Figuren als Zufälle in einer erfundenen Historie zu betrachten. Ob es Gründe dafür geben mag, das Töten und Neubeleben von Figuren tatsächlich als Akt zu verstehen, der nur in der Geschichte, der echten, der großen gedacht werden kann.

Erzählstücke in der Kette umgesetzter Möglichkeiten

Alle (drei) Geschichten, die nicht von Toden beendet wurden, gehen bis heute weiter. Sie sind noch da. Die Literaturwissenschaftlerin und der Mann aus Ufa, die Autorin, sie können die Kette der umgesetzten Möglichkeiten noch um viele kleine Erzählstücke verlängern. Sie können die Richtung noch häufig ändern.

Buch-Info


Jenny Erpenbeck
Aller Tage Abend
Knaus: München 2012
288 Seiten, 19,99 €

 
 
Die Literaturwissenschaftlerin kann nach Moskau gehen und Garderobiere werden. Der Kompetenz-Erfinder kann sich in Wien einen Alterssitz suchen und sich mit systematischer Botanik beschäftigen. Die Autorin kann Kulturpolitikerin werden und doch noch aufs Ganze schauen. Was sie nicht können, ist, die bereits gelebte Geschichte umschreiben. So oft sie auch den Kurs ändern werden. So oft sie sich neu erfinden. So oft sie dem Alten abschwören. So sehr sie es auf unzähligen Seiten in Fiktion und Fakten in Daten und Statistiken festschreiben wollen.

Sie haben sich entschieden.

Jenny Erpenbecks preisgekrönter Roman tut, was seine Autorin, ihre Interpretin, die Familie der Autorin nicht können. Hinter ihre Entscheidungen zurück denken. Alles auf Anfang.

Jenny Erpenbeck sagt, als die Goethe-Frau sie bei einer Lesung anhört:

»Ich versuch‘ ja nüscht zu repräsentieren.«

Sie meint, ihre Figuren seien einfach Figuren. Keine historischen Beispiele. Konkret, sagt sie. Die »sogenannte Große Geschichte«, sie sei nicht das, was ihre Fiktionen abbilden. Und auch in der echten Welt seien die Möglichkeiten der Texte, Einfluss auf die Geschichte zu nehmen, heute beschränkt.

Die Weigerung, von den akribisch und zugleich wundervoll modellierten Figuren aufs Ganze zu denken, ist verständlich, wenn man sich seit der Geburt in einer wahren Geschichte findet, die als sich immerzu selbst bespiegelndes und beschreibendes Muster für das große 20. Jahrhundert und seine getroffenen Entscheidungen gelten muss. Es ist eine Haltung der Autorin, nicht unbedingt eine des Textes. Und sie ist falsch.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 5. November 2012
 Bild von rofltosh via flickr
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