Im Roman Der die Träume hört erzählt Selim Özdogan von dem Privatdetektiv Nizar. Dessen neuer Fall wirkt unspektakulär: die online erworbene tödliche Überdosis eines Jugendlichen und dessen Eltern, die einen Schuldigen suchen. Doch die Fährte führt zurück zu Nizar selbst.
Von Emilia Kröger
Doch man kam nicht sauber raus. Nie. Das wusste ich. An jedem verdammten Schein, an jedem Bitcoin klebte Blut und wenn es kein Blut war, waren es Tränen und Leid. […] Ich lehnte mich zurück. Ich fühlte mich jung. Und gut. So gut, wie vielleicht seit Jahren nicht. Kriminalität ist eine Droge.
Nizar Benali ist zwar hin und wieder kriminell, aber nicht süchtig. Denn anstatt Verbrechen zu begehen, versucht er, sie aufzuklären: Als Hauptfigur im Roman Der die Träume hört von Selim Özdogan erzählt er die Geschichte über einen seiner Fälle, denn Nizar ist Privatdetektiv. Wenn Krimis mit Privatdetektiv*innen locken, die krasse Fälle lösen, die die Polizei nicht einmal ansatzweise zu durchdringen scheint – dann macht das nicht ganz zu Unrecht skeptisch. Doch in Özdogans Roman wird ein bodenständiger Detektiv gezeichnet: Nizar löst Fälle nicht, weil er ein Held sein möchte oder gar den Menschen helfen. Er hat sich diesen neuen Job ausgesucht, weil er von den Kund*innen in seinem Kiosk genervt war.
Die meisten seiner Aufträge drehen sich um Betrug im Internet. Als Detektiv beschattet er Online-Profile von Partner*innen oder prüft Online-Identitäten und -Angebote, um dann ein paar Hundert Euro für Nachweise über Internet-Scams (Betrügereien) sowie das Sperren von Fake-Accounts einzustreichen. Die Konsequenzen sind Nizar meist egal. Ihm geht es darum, Ruhe zu haben. Und genauso normal beginnt nun auch dieser Fall: Der
Obwohl dieser Fall der Haupthandlungsstrang in Der die Träume hört ist, wird der Roman unweigerlich von anderen Themen durchzogen. Direkt auf der zweiten Seite erfährt der*die Leser*in, dass Nizar einen fast erwachsenen Sohn aus einem One-Night-Stand hat und die Mutter Ayleen ihm dies jahrelang verheimlicht hatte. Der Grund, warum sich Ayleen nun damit bei Nizar meldet: der Sohn Lesane macht Schwierigkeiten. Er schwänzt die Schule und streitet sich ständig mit Ayleen und seinem Stiefvater. Nizar trifft sich mit Lesane und versucht eine Beziehung zu ihm aufzubauen, doch das ist nicht so einfach. Zwar kann Nizar als Detektiv die Lügen, die sein Sohn erzählt, schnell erkennen, doch was Lesane wirklich in seiner Freizeit treibt, findet er nicht so einfach heraus.
Die Erinnerung an die eigene JugendNizar sieht sich durch seinen Sohn mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert; er kennt das: eine Mutter, die sich nicht kümmern konnte und ihn verließ; eine Ersatzmutter, die ihn aufnahm und wie ein eigenes Kind behandelt; sein Bruder Kamber, mit dem zusammen er Prügeleien, Jugendarrest und Drogenkonsum erlebte und dadurch nah zusammenwuchs. Und derselbe Bruder, von dem Nizar sich später trennte, da die Lebensentwürfe von Kriminalität und Bürgerlichkeit nicht mehr kompatibel waren. Diese Probleme hängen für Nizar mit dem Ort zusammen, an dem sie stattfinden: Westmark. Das Viertel der sozial Ausgegrenzten. Und so werden im Roman auch Klassenunterschiede und Privilegien thematisiert. Menschen mit einer Adresse in Westmark finden keine Wohnung außerhalb des Viertels, werden nicht zu Bewerbungsgesprächen eingeladen und aufgrund von Racial Profiling bei Polizeikontrollen eher verdächtigt. Lesane tritt dafür im Roman als Beispiel auf, während Nizar über diese strukturelle und institutionelle Benachteiligung, die eng an rassistische Strukturen gekoppelt ist, reflektiert:
aber niemand aus Westmark […] hätte einen Unternehmer beraten können. Nicht, weil es uns an Grips fehlte, sondern weil wir nicht sprechen konnten wie die. Weil wir nie diese Sprache gelernt hatten. Weil nicht vorgesehen war, dass wir uns außerhalb von Westmark bewegten und dabei Beachtung fanden, es sei denn im Sport.
Nizar versucht Vertrauen zu seinem Sohn aufzubauen und an ihn zu glauben, während die Effekte der Diskriminierung immer wieder zu Wutausbrüchen von Lesane führen. Aus Nizars Perspektive scheint es offensichtlich: Sein Sohn erfüllt durch kriminelle Handlungen und Aggressivität nur die Erwartungshaltung seines Umfelds. Die Vater-Sohn-Beziehung wird so mit einer Geschichte von Vorurteilen und Ungleichheit verbunden. Erzählungen, die angesichts von immer noch vorhandener Chancenungleichheit und Ausgrenzung nicht oft genug erzählt werden können.
Nun könnte ein Einwand dagegen lauten, dass das literarische Erzählen von Missständen noch lange keine Besserung bedeutet. Trotzdem sehen derzeit viele Schriftsteller*innen eine Aufgabe der Literatur in dem Aufzeigen von gesellschaftlichen Schieflagen: Ali Can erzählt in Mehr als eine Heimat von seinen und anderen Erfahrungen mit alltäglichem Rassismus. In dem Roman 1000 Serpentinen Angst illustriert Olivia Wenzel eine junge Frau, die ihre Diskriminierungserfahrungen in Beziehung setzt zu denen ihrer Mutter und Großmutter. Der die Träume hört versteht sich zwar anders als die genannten Romane hauptsächlich als Krimi; die Darstellungen von struktureller Benachteiligung und gesellschaftlicher Ungleichheit machen jedoch den relevantesten Aspekt aus.
Zwischen Kitsch und echter BewegtheitÖzdogans Erzählstil hat einen expressiv-pathetischen Ton, der an einigen Stellen Gänsehaut erzeugt und an anderen leider etwas kitschig anmutet. Wenn Nizar die Gegenwart schildert, fließen immer wieder rührende Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend ein, die mit Hip-Hop-Künstlern und Songs in Verbindung stehen: zum Beispiel an das erste Mal, das er mit Kamber harte Drogen nimmt und der sonst wortkarge und hartgesottene Bruder von seinen Gefühlen spricht. Als Anführer der Jugendgruppe hielt Kamber einen Monolog über seine kriminellen Absichten und schlussfolgerte, dass er »deswegen Scheiße baut, weil er es liebt. Weil es Freiheit bedeutet. Dass Freiheit keine Farbe hat, weil man sich einfach jede nehmen kann, die man möchte.«
Von diesem bildhaft-malerischen Ton aus kippt der Roman stellenweise über in Kitsch: »Der Mensch ist nicht stark und edel und seine Zweifel schwächen ihn weiter.« So lauten Nizars Gedanken zu einer Trennung. Solche Formulierungen schießen dann über das Ziel der Beschreibung von Nizars Innenleben hinaus, da sie sich zu oft wiederholen und der*die Leser*in zu viel von seinen Gefühlen bereits fein säuberlich erklärt bekommt. Außerdem wirkt die Figur damit so reflexiv und mit seiner eigenen Vergangenheitsbewältigung beschäftigt, dass die Handlung und andere Themen zu kurz kommen. Teilweise verwendet Özdogan dafür auch zu viele rhetorische Fragen, die Nizar sich in langen Gedankenmonologen stellt (»Wie konnte es sein, dass sie mir so lange nichts gesagt hatte? Wie konnte ich das Geld zusammenbringen? Wie viel Zeit blieb mir?«)
Özdogans Der die Träume hört ist eher ein spannender Roman (der erst im letzten Drittel so richtig Fahrt aufnimmt) als ein Krimi. Dennoch ist er vor allem wegen der authentischen Darstellung von Diskriminierung und der Schilderungen von Familienbeziehungen und ihrem Wert lesenswert. Nizar reflektiert so das Umfeld, in dem er aufgewachsen ist und dessen Entwicklung. Sein stärkster Wunsch ist der nach einem stabilen sozialen Netzwerk. Dass dabei der Erzählton stellenweise in ausufernde Sentimentalität abdriftet, kann Selim Özdogan nicht übelgenommen werden, angesichts der schwierigen Gratwanderung, die Schriftsteller*innen zwischen Gefühlsdarstellungen und Gefühlsduselei vollziehen müssen.