Herr Molnár führt das erste Puppenspiel seines Großvaters neu auf und kommt dabei beinahe dessen rätselhaftem Verschwinden auf die Spur. Dass dabei nie klar ist, wie viel vom echten Gyula Molnár im Erzähler Herr Molnár steckt, macht den Reiz dieser fast wahren Familiengeschichte einer ganz besonderen Reise in die Unterwelt aus, die das Berliner Ensemble Kaufmann & Co in Zusammenarbeit mit Gyula Molnár präsentiert.
Von Simon Sendler
Herrn Molnárs Großvater ließ in Kaspers Wurzeln das erste Mal 1916 im Feldlazarett zur Unterhaltung seiner Kameraden den Kasper in die Unterwelt steigen, um die Großmutter zu retten. Den Kasper hat er aus Holz gebastelt, das er am Ufer des Schwarzen Meeres gefunden hat. Später kamen noch viele weitere Figuren aus Pappmaché hinzu. Nachdem die Puppen aber viele Jahre von der Tante hinter ihrer Badewanne versteckt wurden, sind nur noch fünf von ihnen erhalten – und ausgerechnet der Kasper fehlt. Herr Molnár lässt sich davon aber nicht beirren und besetzt die Rollen des Stücks mit den verbliebenen Figuren neu. Das Krokodil spielt eine Nymphe, Frau Wolf gibt die Großmutter, der Tod spielt sich selbst und der Schutzmann fürs Erste den Kasper. Und schon kann Kaspers Abstieg in den Orkus beginnen.
Kaspers Wurzeln präsentiert auf dieser ungewöhnlichen Reise in die Unterwelt eine beeindruckende Mythologie, bei der es sich immer wieder um das Erzählen von Geschichten dreht. Die Seelen, die in der Unterwelt im Fluss des Vergessens schwimmen, wissen nicht mehr, wer sie einmal waren, kennen aber alle Geschichten, die es gibt. Und auch die Puppen selber sind im wahrsten Sinne des Wortes voller Geschichten: Das Interessante an Pappmaché sei nämlich, erzählt Herr Molnár, dass zwar bei der Herstellung die Tinte der zuvor beschriebenen Blätter, nicht aber die Wörter aus dem Papier gewaschen würden. Somit sind die Figuren immer noch von diesen Worten erfüllt, die einmal auf dem Rohmaterial zu finden waren.
Am eindrucksvollsten zeigt sich dies an der Figur des Schutzmanns, dessen Rolle auf den Kriegstagebüchern des Großvaters basiert, und der nun in seiner Existenz als Handpuppe von den im Tagebuch festgehaltenen traumatischen Erlebnissen beseelt ist. Wenn der Schutzmann also, im Glauben, es handele sich hier um seine eigene Erinnerung, mit starr aufgerissenen Augen schildert, wie nach einem Zusammenstoß zweier Flugzeuge über dem Schützengraben dieser mit Fetzen von Pappmaché übersät ist, kann man nachvollziehen, dass der Großvater nach Beendigung des Ersten Weltkriegs sich durch Realitätsflucht bedingt immer mehr hinter seinem Puppentheater versteckt hat.
Ob das »Theaterchen«, wie die Drehbühne, die im Laufe des Stücks immer mehr ein Eigenleben entwickelt, genannt wird, den idealen Rückzugsort vor der Grausamkeit der Welt darstellt, ist allerding fraglich. Während die Furzwitze des Kaspers die Soldaten vom tatsächlichen Kriegsalltag abgelenkt haben, waren die Kasperstücke der Theater außerhalb der Schützengräben in Sachen Brutalität nicht zimperlich.
In Kaspers Wurzeln erreicht die im klassischen Kaspertheater häufig eingesetzte Gewalt ihren Höhepunkt, als der Tod sämtliche Figuren – Herrn Molnár und sich selbst eingeschlossen! – erschlägt, um die Verlegung der Handlung in die Unterwelt zu ermöglichen. Besonders der traumatisierte Schutzmann reagiert empfindlich auf die immer wiederkehrenden brachialen Handlungen und verliert sich meist dann in den Erinnerungen an »seine« Kriegstraumata.
Die Aufführung empfiehlt sich für Kenner und Laien im Bereich des Figurentheaters gleichermaßen. Neben einer breiten Palette an inszenatorischen Methoden und dem (im besten Sinne) etwas schrulligen Humor, den man klassischerweise vom Figurentheater erwartet, zeigt das Stück eben auch, dass sich die Form durchaus für komplexere Inhalte eignet. Und letztendlich ist allein die Tatsache, dass Kaspers Wurzeln inhaltlich und technisch fast die ganze Bandbreite des Möglichen in nur etwas mehr als einer Stunde präsentiert, beeindruckend.