Ein Bier in der Hand, Schlange stehen, Gesichtskontrolle, Einlassstopp. Das Spiel beginnt noch vor Kartenabriss und versinnbildlicht so, wie in der Inszenierung Ecstasy im Jungen Theater die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Illusion und Desillusion, zwischen Spiel und Ernst verschwimmen.
Von Leonie Krutzinna
Der Weg des Zuschauers durch die Kulissen des Jungen Theaters antizipiert und symbolisiert bereits vor Beginn des Stücks die Intention der Inszenierung: Der Blick hinter die Kulissen der Techno-Szene, denn, so wird es im Stückzettel zitiert, »der typische Platz des Ecstasy-Konsumenten ist in der Regel eine Techno-Disko, bzw. Party«. Der Regisseur selbst platziert die letzten Gäste auf den wenigen freien Zentimetern. Die Intimität des eigenen Theatersessels weicht dem kollektiven Erleben eines Club-Abends. Kein Zurücklehnen in distanzierter Dunkelheit, stattdessen zerhackt Strobo-Licht das Publikum. In Gernot Grünewalds Inszenierung Ecstasy zeigt sich sofort, dass jeder Einzelne Teil des Konzepts ist. Die Mauer zwischen Bühne und Zuschauerraum fällt.
Wenn du mitbekommst, dass jemand sich schlecht fühlt, kannst du ihn mit einfachen Mitteln beruhigen. Bleib bei ihm, rede ihm gut zu, berühre ihn sanft, bring ihn an die frische Luft, gib ihm zu trinken.
Was machen Menschen mit synthetischen Drogen und was machen synthetische Drogen mit Menschen? Diese Leitfragen liegen dem Recherche-Projekt Ecstasy zugrunde. Vier Darsteller (Felicity Grist, Franziska Beate Reincke, Gintas Jocius, Léon Schröder), jeder von ihnen hat im Vorfeld der Produktion einen Drogenkonsumenten getroffen. Die Schauspieler haben Fragen gestellt, beobachtet, zugehört. Das Stück basiert auf den gesammelten Eindrücken dieser Begegnungen, sodass nicht nur das wörtliche Zitat, sondern auch die Physiognomie des Gesprächspartners, SMS-Inhalte, der Blick des Gegenübers oder dessen Nicht-Erscheinen am Treffpunkt auf der Bühne des JT zum Ausdruck kommt. Die Begegnung des Schauspielers mit dem Süchtigen gibt ihm Anweisung zum Spiel, zugleich werden die Gespräche aber nüchtern und neutral zitiert, wertfrei dokumentiert. Der Fremdtext des Interviews wird zum Rollentext des Schauspielers, ohne dass der Schauspieler konsequent in ein Rollen-Ich schlüpft.
Das Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Unter Intendanz von Andreas Döring setzt das JT auf zeitgemäße Themen auch in klassischen Stoffen.
Der Zuschauer erfährt auf diese Weise emotional und erschließt sich rational die Verhaltensmuster des Drogenkonsumenten in der Techno-Szene. Gemeinschaft ohne Individualität ist zugleich Individualität ohne Gemeinschaft. Der Rhythmus minimalistisch-gleichgetakteter »Four to the Floor«-Beats (Musik: Lena Dorn) suggeriert die absolute Kollektivität der Clubgänger. Die Bewunderung für den Rausch, die Hingabe zur Musik und die absolute Verankerung im Hier und Jetzt ist immer auch eine Gratwanderung zur fremdgesteuerten Ekstase. Zum Beispiel, wenn in Szene gesetzte entgrenzte Sexualität auf der Club-Toilette beliebige Promiskuität illustriert und kurz darauf monogame Ehekonzepte verhandelt werden.
Grünewalds Projekt gelingt dieser Balanceakt zwischen der Faszination für Entgrenzung und der Ernüchterung nach dem Trip. Stets schwingt die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zwischen Höhen und Fall mit, ohne moralisch Position zu beziehen, ohne Gründe zu suchen und Antworten geben zu wollen. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, sich anhand des dokumentierten Materials ein Urteil zu bilden. Klar ist nach diesem Abend aber zumindest eines: »Es ist zu spät für ein naives Leben«.