Eine Ode an den Liebreiz von Marionette, Handpuppe und Tischfigur. Simon Sendler beschaut im Rahmen der 31. Göttinger Figurentheatertage ausgewählte Inszenierungen für Litlog. Im »Puppenmeister No. I«: Hannes und Paul über Homosexualität zur NS-Zeit und Mein Fleisch, ein Kritikversuch am Geschäft mit der Massentierhaltung.
Von Simon Sendler
Hilde Schumann sitzt an einem Tisch und strickt für die Ostfront. Es ertönt eine Luftschutzsirene – wir befinden uns in 1943 – und sie beginnt, ihren wichtigsten Besitz einzupacken. Von diesem Zeitpunkt an verfolgt das Stück Hannes und Paul den Werdegang von Sohn Hannes vom Kleinkindalter bis zu seinem 16. Lebensjahr. Die Begeisterung für den Nationalsozialismus bekommt Hannes von seinem NS-linienkonformen Vater und seiner fürsorglichen Mutter vorgelebt. Er kann es kaum abwarten, mit seinem besten Freund Paul dem Jungvolk beizutreten und selbst als der Vater zu Beginn des Zweiten Weltkrieges von der Wehrmacht eingezogen wird, ist Hannes nicht nur traurig, sondern auch stolz.
Verabscheuung des NonkonformistischenMit 16 Jahren spielen Hannes und Paul im Lateinunterricht Pyramus und Thisbe und entdecken dabei ihre Liebe zueinander. Dass die Gesellschaft, in der sie leben, die beiden für absonderlich halten würde und sie ihre Beziehung geheim halten müssen, ist ihnen klar. Die Situation spitzt sich zu als der Lateinlehrer der Jungen deportiert wird – wegen Homosexualität. Der Vater macht aus seiner Verabscheuung für »solche Menschen« keinen Hehl. Paul erklärt, dass er sich eher umbringen würde, als ins KZ zu kommen.
Hannes und Paul macht keinen Hehl daraus, dass Pyramus und Thisbe als Vorlage gedient hat. Tatsächlich funktioniert die Aktualisierung des Stoffes durch die Neuerzählung mit einer homosexuellen Liebe im Nationalsozialismus blendend, vielleicht sogar besser als viele andere Versionen: durch die sehr reale Gefahr des Nationalsozialismus und seines willkürlichen, blinden Hasses auf alles Nonkonformistische, erhält die Bedrohung der beiden Liebenden eine ganz andere Dringlichkeit als durch die mehr oder minder generisch anmutende Feindschaft der Eltern in Ovids Original oder in Romeo und Julia.
Dabei ist Ovids Geschichte nicht nur thematisch, sondern auch strukturell integriert. Szenenübergänge werden markiert, indem eine Lesung von Ovids Metamorphosen abgespielt wird, erst auf Latein, dann langsam überblendend in die deutsche Übersetzung. Dabei stimmen die Stationen der Handlungen in beiden Geschichten stets miteinander überein, womit die Parallelen sichtbar gemacht werden.
Und auch wenn der Zeitpunkt der Handlung fast ein ganzes Menschenleben zurück liegt, besticht das Stück doch auf mehreren Ebenen durch Aktualität. Dabei ist die Tatsache, dass Pyramus und Thisbe ein zeitloser Stoff ist, über das Heranwachsen, die Liebe und die Selbstbestimmung, noch die geringste Erkenntnis. Homosexuelle sind nämlich in weiten Teilen der Gesellschaft auch heute noch lange nicht so akzeptiert, wie oft behauptet oder stillschweigend angenommen wird. Argumentationsmuster und Bilder, die den Anfeindungen von Schwulen und Lesben zu Grunde liegen, haben sich dabei erschreckend wenig verändert. In dem Stück geht es aber vor allem um den Umgang mit Homosexuellen während des Nationalsozialismus; ein Thema, das immer noch kaum Beachtung findet.
»Jetzt wird alles wieder gut«Das alles wirft nicht nur ein Licht auf die lückenhafte deutsche Erinnerungskultur. Es wirft auch einen Blick auf die gesellschaftliche Kontinuität und die träge Rechtsreformierung seit der Zeit des Nationalsozialismus. Es gibt eine hässliche Verbindung mit dem vermeintlich modernen Deutschland, das den § 175 des Strafgesetzbuches, der seit dem 19. Jahrhundert Homosexualität unter Strafe stellt und von den Nazis entschieden verschärft wurde, bis in die 1990er Jahre nicht komplett abgeschafft hat.
Trotz der drastischen Thematik ist Hannes und Paul kein Stück der lauten Töne. Unaufgeregt erzählt es seine Geschichte, und auch der Kasernenhofton in der Stimme von Hannes´ Vater zerstört nicht die beeindruckende Ruhe, die dem Stück zu Grunde liegt. Das soll nicht heißen, dass die Dynamik fehlt. Sie wird aber über Wege erreicht, die mit klassischem Theater so nicht funktionieren könnten. Die kleine Puppe, die Hannes darstellt, steht in starkem Kontrast zur gewaltigen Figur des autoritären Vaters; winzige Handpuppen, mit denen die Figuren Hannes und Paul gespielt werden, als sie über die Gefahr der Deportation reden, verbildlichen ihre Situation ausdrucksstärker, als es konventionelle Spielformen ermöglichen würden.
Auch die Momente, in denen ohne große Gesten viel passiert, machen das Stück besonders. So nimmt Darstellerin und Puppenspielerin Elke Schmidt nackte Versionen von Hannes und Paul aus einer Schublade des Küchentisches, als Hannes Mutter die beiden nachts überrascht. Nachdem diese Paul aus der Wohnung geworfen und ihn denunziert hat, sichert sie ihrem Sohn zu, dass nun alles wieder gut werde und schließt die Schublade, wie um das Geschehene unter den Teppich zu kehren. Diese kleine Geste sagt mehr als viele Worte.
Hannes und Paul ist eine berührende Geschichte, die für jeden Zuschauer Anknüpfungspunkte bietet, um einen Bezug zum eigenen Leben zu finden. In Anbetracht der Menge und Schwere an Themen ist es darüber hinaus beeindruckend, dass Hannes und Paul nie direkte Kritik erhebt. Das Stück konzentriert sich vielmehr darauf, seine Geschichte mit viel Liebe darzustellen, und irgendwie erschließt sich die Kritik implizit, ohne dabei uneindeutig zu sein. Am Ende sitzt das Publikum sekundenlang im Dunkeln, gespannt, ohne einen Ton von sich zu geben. Es folgt Applaus, der so lange andauert, bis Elke Schmidt das Publikum irgendwann zu einem Ende bittet. Dabei hätten Hannes und Paul und ihre Schöpferin noch deutlich mehr Applaus verdient.
KontrastprogrammGanz anders stellt sich Mein Fleisch dar. Die Diplomarbeit von StudentInnen der »Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin« hat wenig über für stille Momente. Laut geht es los: vier DarstellerInnen präsentieren in einer Reihe von Videos verschiedener Vlogs die Auseinandersetzung zwischen Veganern und solchen, die es gerne wären auf der einen Seite und Fleischliebhabern (und einem Mann, der einfach nur trollt) auf der anderen Seite.
Diese Beiträge werden dabei auf der einen Seite der Bühne von den DarstellerInnen vor einem Laptop gespielt und gleichzeitig per Beamer an eine Wand aus großen Styroporblöcken geworfen. Diese Styroporblöcke werden im weiteren Verlaufe des Stücks nicht nur umgebaut und neu verwendet – mal als Tisch, dann als Arbeitsplatte oder als Schlachtbank – sondern dienen vor allem immer wieder als Projektionsfläche für den Beamer der, wie Multimedialität insgesamt, eine wichtige Rolle im Stück einnimmt.
Nach dem Konflikt der Vlogger, aus dem niemand als Gewinner oder wenigstens als sympathisch herauskommt, beginnt der Hauptteil des Stücks: in einem Schweinemastbetrieb wird von der Bäuerin ein Hybrid aus Mensch und Schwein geboren, das Ergebnis eines Experiments des Tierarztes, der den Betrieb betreut. Der weiß jedoch lange nichts vom Erfolg seines Experiments.
Weißkraut, Möhren und MangoldDrei kleine Schweinchen, die einem hellen Stern bis zu dem Betrieb folgen, sehen in dem Wesen den Messias, der Menschen und Schweine miteinander versöhnen soll. Falls jemand das Messiasmotiv hier noch nicht verstanden haben sollte: Die heiligen drei Allesfresser bringen Gaben; Weißkraut, Möhren und Mangold. Die eigentliche Handlung tritt danach in den Hintergrund. Es folgt eine Reihe von Szenen, die den Alltag in dem Schweinemastbetrieb darstellen; von den künstlichen Befruchtungen über die Entsorgung unerwünschter Ferkel bis zu den Kastrationen junger Eber.
Das Wesen erklärt, seine Rolle als Messias anzunehmen und bietet wie für ein bizarres Abendmahl sein Fleisch feil, bevor es sich umbringt. Nach dem Tod von dem Hybriden beginnen alle Schweine der Welt, sich ebenfalls umzubringen. Ihnen folgen erst die übrigen Nutztiere, dann alle anderen Tiere. Nur die Hunde bleiben natürlich den Menschen treu und werden zum Dank dafür als letzte Fleischquelle ausgerottet. Am Ende, so skandieren die Schauspieler voller Pathos, könne die Menschheit sich nur noch von ihren eigenen Tränen ernähren.
Der Eindruck, dass der Plot von Mein Fleisch dünn bis nichtexistent ist, trügt nicht. Vielleicht sollte das Spektakel auch eine Art stream of consciousness sein. Tatsächlich wirkt das Stück in seiner Collagenhaftigkeit allerdings eher wie verworrene Erinnerungsfetzen nach einer durchzechten Nacht.
»Das ist unrealistisch ab einem bestimmten Punkt«Die Aussagen, die Mein Fleisch vielleicht transportieren möchte, verlieren sich im Chaos. Auf der Bühne herrscht pure Hysterie und es wird kein Fokus auf irgendeinen Teil des wirren Geschehens gelegt oder auch nur auf die Projektionen auf den Styroporblöcken. Für den Zuschauer ist es attraktiver, sich dem krakeelendem Gefuchtel auf der Bühne einfach zu verweigern und, so gut es bei dem Lärmlevel eben geht, abzuschalten.
Genauso leidet auch die Wirkmächtigkeit der Kritik, die das Stück vermitteln will. Dass die Massentierhaltung und die Produktion von Billigfleisch in ihrer jetzigen Form unhaltbar aus der Sicht von Tier- und Umweltschutz sind, sollte keine sehr abwegige und schwer zu verteidigende Position sein. Den Tierarzt, für den das Wohl der Tiere nur Mittel zum Zweck ist und der damit eine absolut angreifbare Person wäre, kann man einfach nicht ernst nehmen und so verpufft hier Potential zur Kritik.
An anderen Stellen bekommt die Kritik einen ungewollt bitteren Beigeschmack. Die körperlichen Arbeiten werden in dem Betrieb von zwei osteuropäischen Gastarbeitern erledigt. Für diese Rollen tragen zwei der Darsteller übergroße, aus Drahtgeflecht gewirkte Köpfe. Die Grobschlächtigkeit der beiden Arbeiter, die sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihrem Verhalten deutlich wird, sowie die Beiläufigkeit, mit denen ihnen bei jedem Auftreten osteuropäische Klischeenamen zugewiesen werden, machen das Stück für einen Rassismusverdacht angreifbar, der nicht nötig gewesen wäre.
Beispielsweise führen die beiden Figuren in extrem drastischer Spielart die künstlichen Befruchtungen durch: ein Schweinepenis wird bei der Samenspende so sehr malträtiert, dass er sich später erhängt, das Einführen des Samens ist für die Schweinevagina eine Tortur. Beides wird durch Puppenspiel dargestellt: über den Beamer wird ein Schwein mit gespreizten Beinen auf die Styroporblöcke projiziert, die Genitalien werden durch eine Lücke in der Projektionsfläche im Schritt des Schweine dargestellt. Und so sehr man sich auch der Kritik an der brutalen Kommodifizierung der Schweine anschließen möchte, die Darstellung der beiden Gastarbeiter erfüllt einen mit Widerwillen, dem Stück zuzustimmen.
Nicht jedermanns BlutwurstAm Ende bleibt der Eindruck, dass das einzige, was Mein Fleisch wirklich treffend darstellt, das Diskussionsniveau auf Youtube ist. Ansonsten wirkt das Stück so subtil wie die letzten Kapitel von Upton Sinclairs The Jungle und so kohärent wie Christoph Schlingensief an einem wirklich schlechten Tag. Dabei vergibt es nicht nur das gesamte Potential, das die Kritik an der Massentierhaltung bereithält, sondern auch das Potential aller am Projekt beteiligten, die von ihrer Begeisterung und ihrem Talent her eine deutlich mächtigere Kritik an der Massentierhaltung auf die Beine hätten stellen können.