Es ist Grimm-Jahr, und wie viele andere, hat es sich auch der junge Verlag Das Wilde Dutzend zur Aufgabe gemacht, eine neue Adaption zu den bekannten Märchen herauszubringen. Doch mit einer Geheimloge im Hintergrund, die seit Jahrhunderten die Wahrheit hinter den Märchen sammelt, hat der Verlag ein Ass im Ärmel, von dem andere nur träumen können. Im neuesten Werk Wer kann für böse Träume werden diese Geheimnisse an die Öffentlichkeit gebracht.
Von Marie Krutmann und Annika Gutermuth
Erwartungsvoll kommen wir am Literaturhaus in Kassel an. Wir sind uns nicht sicher, was uns erwartet, immerhin haben wir es mit einer angeblichen Geheimloge zu tun. Mit dem Ziel, nach dem Interview die Ausstellung zum neuesten Buch des Verlags zu besuchen, betreten wir das kleine, unauffällige Haus. Wir werden von den zwei erstaunlich normal aussehenden Verlegerinnen Simone Veenstra und Dorothea Martin freundlich begrüßt, die so gar nicht an Mitglieder einer mittelalterlichen Geheimloge erinnern, und dann läuft uns auch noch Verlagshund Paul vor die Füße. Von wegen Geheimbund. Nach dieser anfänglichen Überraschung interessiert uns nun umso mehr, was es mit dem Verlag auf sich hat. Inmitten der kleinen Ausstellung nehmen wir schließlich Platz, und da stellt Dorothea Martin schon demonstrativ eine schwarz-weiß Fotografie einer Frau auf den Tisch, deren Identität jedoch erst im Laufe des Gesprächs gelüftet werden wird.
Litlog: Stimmt es, dass Sie die einzigen Mitglieder des Verlags sind, deren Identität der Öffentlichkeit bekannt ist?
Veenstra: Also, wir sagen immer, wir sind das Gesicht der Loge, weil wir den Verlag leiten. Wir gehören aber nicht zu den seltsamerweise immer dreizehn unbekannten »wilden Zwölf«. Die einzig Bekannte war Adele. Adele ist zum einen ein Name, zum anderen aber auch eine Position, die besetzt wird, nämlich die der literarischen Detektivin, die verschiedene Fälle rund um Literatur- und Kunstgeschichte aufdeckt.
Litlog: Adele hat also existiert oder haben Sie sich die ausgedacht?
Veenstra: Tja, gibt es Fotos von Menschen, die nie existiert haben? (zeigt auf das Foto) Also grundsätzlich ist es schon so, dass unser Verlagskonzept, um es mit Goethe zu sagen, mit Dichtung und Wahrheit spielt. Und dementsprechend sind solche Fragen für uns immer dazu da, sie möglichst charmant zu umgehen.
Litlog: Dann lassen wir uns auf das Spiel ein! Sie haben beide an einem Wettbewerb für junge Gründerinnen teilgenommen, und sind dadurch zum wilden Dutzend gekommen. Kannten Sie beide sich denn schon vorher?
Veenstra: Ja, wir kannten uns zu dem Zeitpunkt der Gründung ein paar Jahre…5? 6? 7? Irgendwie so, und der eigentliche Gründungspunkt, um bei diesem Gründungswettbewerb mitzumachen, der liegt in Neuseeland.
Martin: Genau, als wir in Neuseeland wandern waren, fingen wir an uns Geschichten zu erzählen. Als die Wanderung dann endlich zu Ende war, hatten wir eigentlich ein Kinderbuch entwickelt, haben dann aber gemerkt: Mit subversiven Kinderbüchern in Deutschland ist es nicht so einfach einen Verlag zu finden. Gründen wir doch einfach selber einen! Wir haben uns dann zum Businessplan-Wettbewerb angemeldet, mit der Idee einen Kinderbuchverlag zu gründen. So wurde dann jemand in der Schweiz auf uns aufmerksam, wir bekamen Post, und los ging die Gründungsphase von Das Wilde Dutzend.
Martin: Und statt Kinderbuchverlag, hatten wir dann auf einmal die Geheimloge am Hals! (alle lachen)
Litlog: Wie können wir uns das denn vorstellen, Mitglied zu werden, wenn alles so geheim ist. Ist die Mitgliedschaft in der Geheimloge eher eine Familientradition, die weitergereicht wird, oder werden die Mitglieder nach bestimmten Kriterien ausgewählt?
Veenstra: Also ich glaube tatsächlich, dass da die Mitgliedschaft auf irgendeine Art und Weise vererbt wird. Ich glaube nicht, dass es über die Familie, sondern über Befähigung geht. Wissen tue ich es nicht, ich bin nicht drin.
Ich glaube eine der Hauptaufgaben auf der Suche nach der Wahrheit besteht darin, die richtigen Fragen zu stellen.
Litlog: Die Geheimloge gibt es bereits seit dem Mittelalter. Wie kommt es, dass die Loge jetzt bereit ist, ihre Geheimnisse an die Öffentlichkeit zu bringen?
Veenstra: Zum einen war es teilweise einfach an der Zeit…
Martin: … und ich könnte mir vorstellen, dass man selbst in so einem schon lange existierenden Geheimbund tatsächlich mit der Zeit geht. Neue Techniken rufen natürlich einen unglaublichen Wandel hervor, und bedingen auch die Suche nach neuen Mitwissern.
Litlog: Die Wahrheiten werden seit Jahrhunderten in einem Archiv gesammelt. Kann man sich das so vorstellen wie es in einer Ihrer Geschichten dargestellt wird? Mit einem geheimnisvollen Kellergewölbe, in dem die Mitglieder an einer langen Tafel sitzen?
Veenstra: Ich glaube, so in etwa muss man sich das vorstellen. Wir beide kennen etliche Archive. Ich würde jetzt nicht sagen, dass wir schon mal persönlich in den Archiven waren … außer wir haben es nicht mitgekriegt. Aber ich nehme nicht an, dass die Autoren eins zu eins die Wahrheit über die Geheimloge erzählen durften.
Es sollte wirklich ein Buch sein, das Menschen auch haben wollen.
Litlog: Wir fanden es eine sehr interessante Idee, eine Ausstellung zu dem Buch zu machen. Eine Vernissage kennt man ja eher von Kunstausstellungen. Würden Sie sagen, dass es sich bei Wer kann für böse Träume um ein Kunstwerk handelt?
Veenstra: Das ist so eine Frage, die ich ganz klar mit: »Ja!« beantworten würde.
Martin: Ich glaube, das Konzept ist auch, wenn man heutzutage noch Bücher druckt, dass es Bücher für bibliophile Menschen sind. Es sollte wirklich ein Buch sein, das Menschen auch haben wollen. Insofern: Ja, das Buch ist tatsächlich als Kunstgegenstand zu betrachten, denn Geschichten kann ich inzwischen auch auf dem Tablet lesen; dabei geht mir ja nichts von der Geschichte verloren. Was ich in der Form so aber noch nicht abbilden kann, ist die Papierbeschaffenheit und die Haptik.
Litlog: Wir haben erfahren, dass Sie die Autoren mit aussuchen durften. Also war es nicht nur die Geheimloge, die gesagt hat: ›Wir haben jetzt fünfzehn Autoren ausgesucht, macht was damit!‹?
Veenstra: Es ist schon so, dass das die Autoren waren, die für besonders spannend empfunden wurden. Nichtsdestotrotz sind es auch Autoren, hinter denen wir sofort stehen würden!
Litlog: Und dann haben wir uns noch eine Sache gefragt. Und zwar: Die Aufgabe der Loge besteht ja darin, die Wahrheit der Legenden und Hausmärchen der Grimms ans Licht zu bringen. Sind die Geschichten demnach wahrer als das Original?
Veenstra: Ich glaube eine der Hauptaufgaben auf der Suche nach der Wahrheit besteht darin, die richtigen Fragen zu stellen. Wenn man sich das mal anguckt, sind Grimms Märchen kurz nach der Bibel das meist übersetzte und das am meisten verkaufte Buch. Wie viele von uns haben wirklich noch im Kopf, dass der Froschkönig eigentlich der Eiserne Heinrich heißt?
Martin: Jens Maria Weber, auch einer der Illustratoren, hat etwas ziemlich Schönes dazu gesagt. Der meinte, dass es einfach so ein »Geschichtengut« ist, von dem er das Gefühl hat, dass jede Generation es irgendwie mal anfasst und damit was macht. Vielleicht ist es jetzt eben gerade wieder so weit, dass es adaptiert wird.
Litlog: Also könnten Sie sich auch vorstellen, noch einmal von dem Thema Märchen wegzugehen? Schließlich kennen wir alle die Märchen, aber haben sie das Potential, über das Grimm-Jahr hinaus genügend an Stoff zu liefern? Oder würden Sie sagen, dann geht man vielleicht doch wieder in eine andere Richtung?
Veenstra: Auf jeden Fall! Also unser erstes Buch war ja auch was komplett anderes. Jetzt haben wir die Grimms, wir werden aber nächstes Jahr nicht »Grimms reloaded« machen, auf keinen Fall. (lacht)
Litlog: Aber generell bleiben die Geschichten im Bereich vorheriger Jahrhunderte, wie dem Mittelalter, oder würden Sie sich auch an der heutigen Zeit orientieren?
Veenstra: Also etwas ganz Aktuelles müsste dann einfach etwas sein, wo man weiß 90% der lesenden Bevölkerung geht von A aus, wir wissen aber, dass B der Fall ist. Oder wir argwöhnen es könnte eventuell auch C sein (lacht). Dann auf jeden Fall, aber es muss schon eine Tradition haben und eine Geschichte. Dann macht es fast noch mehr Spaß, diese Sichtweise aufzubrechen, weil es einfach ein neues Licht auf vieles wirft.
Litlog: Dann danken wir Ihnen für das Gespräch und wünschen viel Erfolg für die Ausstellung!
Veenstra und Martin: Wir danken euch.