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Reihe: Bis der Vorhang fällt
Gender Trouble on Repeat

Irgendwie gemütlich ist es hier: Die Münchner Kammerspiele warten mit Jugendstilfassade und eingefleischten Stammgästen auf. Die Inszenierung von Strindbergs Der Vater wiederum gibt sich sehr progressiv: fleischfarbene Ganzkörperkostüme, Gender Trouble, Rollenwechsel.

Von Anika Tasche aus München

Wer sich in der Theaterszene etwas auskennt, der weiß, München hat drei große Häuser: das Residenztheater, die Münchner Kammerspiele und das Volkstheater. Was ist also näherliegend, als sich zunächst diese drei Theater vorzunehmen, um die Stadt und ihre kulturellen Institutionen besser kennenzulernen? Im Resi war ich bereits, daher nahm ich mir diesmal die Münchner Kammerspiele vor. Schon mehrfach bin ich beim Durchblättern der Feuilletons auf dieses Haus gestoßen, weshalb die Neugier umso größer war.

Auf dem Spielplan stand August Strindbergs Der Vater. 1887 uraufgeführt und mir bislang unbekannt. Laut Programmtext nahmen sich die Kammerspiele vor, das Stück modern zu inszenieren, was bei dem Inhalt durchaus Spannung versprach. Denn im Zentrum des Stücks steht ein Rittmeister, Oberhaupt der Familie, der zu Beginn der Handlung scheinbar das Sagen hat. Seine Frau Laura fordert jedoch Mitspracherecht bei der Erziehung ihrer Tochter und mit der Zeit kommt heraus, dass sie mehr Macht in der Familie hat als anfangs angenommen. Diese Thematik in einer modernen Inszenierung ließ die Neugier in mir weiter ansteigen.

Dabei war der erste Eindruck des Gebäudes der Münchner Kammerspiele eher unscheinbar im Vergleich zum Resi, das sich direkt neben dem bayrischen Nationaltheater (Oper) befindet und schon deswegen imposant wirkt. Die Kammerspiele sind nur einen Steinwurf weit entfernt, doch hinter der für die Maximilianstraße gewöhnlichen Fassade – die Straße ist durch ihre noblen Boutiquen und Geschäfte bekannt und zählt zu den Prachtstraßen der Stadt – verbirgt sich tatsächlich ein ziemlich großes Theater mit drei ›Kammern‹. Das Alter des Theaters spiegelt sich im Inneren des Gebäudes wider, nach dem Betreten des Hauses spürt man, dass hier schon seit 1926 gespielt wird. Im Jugendstil erbaut erinnert zumindest der Saal an eine Mischung aus Atlantis und Hundertwasser. Tatsächlich fällt es schwer, die richtigen Worte für den ersten Eindruck zu finden. Dieses Haus hat auf jeden Fall etwas Gemütliches an sich, wie es bei Kammerspielen eben sein sollte.

Neben mir nahm ein ganzer Trupp platz und es stellte sich heraus: Das war die ›Theatergang‹ der Kammerspiele. Alle Stammgäste, immer dieselbe Reihe, immer derselbe Platz, immer die*derselbe Sitznachbar*in, auf die vor Vorstellungsbeginn gewartet wird. Die Münchner Kammerspiele haben also ihr Publikum (wie nicht anders zu erwarten). Auch heute hieß mein Motto wieder ›Schwarz geht immer‹, doch die Gäste der Kammerspiele sind etwas entspannter, was das Outfit angeht. Manche finden zwar Gefallen daran, sich hübsch zu machen, doch auch die Jeans scheint angemessen zu sein.

Wechsel in Dauerschleife

Die Schauspieler*innen an diesem Abend verzichteten hingegen gleich ganz auf ein äußerliches Statement, wenn sie in fleischfarbenen Unisex-Anzügen, die an Sportunterhemden und Reithosen erinnerten, die Bühne betraten. Auch das Bühnenbild gab zunächst nur wenige Orientierungspunkte, was Ort und Zeit betrifft: auf der Vorderbühne eine kleine Sitzecke mit Tisch, die Hauptbühne wurde von sieben neongelben Stehlampen dominiert, einem Fernseher am Seitenrand sowie einem Sofa, auf dem zwei der fünf Schauspieler*innen des Abends, Julia Riedler und Daniel Lommatzsch, es sich zu Beginn der Inszenierung bequem machten. Die beiden verschafften zunächst einmal Abhilfe, was das Interieur anging und beschrieben ausführlich, wo sich welche Tür im Raum befand und wo das Ledersofa stand. Ein typischer Einstieg für eine Inszenierungen von Nicolas Stemann: Die Schauspieler*innen rezitierten zunächst einmal die Regieanweisungen des Autors, dann erst ging es richtig los.

Der Kernkonflikt war schnell klar: Es ging um die Zukunft der Tochter. Die Mutter wollte, dass sie bei den Eltern bleibt und Künstlerin wird, der Vater hingegen beharrte darauf, dass sie das Haus verlässt und Lehrerin wird. Doch Moment mal … Auch wenn sich Mann und Frau auf der Bühne befanden, waren die Rollen nicht ganz so eindeutig verteilt. Riedler und

Reihe

Direkt aus Göttingen verschlug es unsere ehemalige Redakteurin für ein Volontariat in einem renommierten Literaturverlag nach München. Zwei ihrer großen Leidenschaften, Litlog und Theater, bleibt sie in unserer Reihe »Bis der Vorhang fällt« als Münchener Theaterkorrespondentin dennoch treu.

 
 
Lommatzsch wechselten immer wieder ihre Rollen, sprachen ganze Texte gemeinsam und das Fantastischste und Beeindruckendste an diesem Abend war, dass sie ganze Szenen teilweise drei-, viermal wiederholten. Dabei kam keine Langeweile auf, denn gekonnt inszenierten und beleuchteten sie die Dialoge immer wieder neu. Und schnell wurde deutlich: Es ging gar nicht so sehr um die Tochter, sondern vielmehr um die Geschlechterrollen in der Gesellschaft. Man versetze sich zurück ins 19. Jahrhundert und stelle sich einmal vor, was wäre, wenn der Vater gar nicht der Vater der Tochter war, sondern ein ganz anderer Mann? Nur vordergründig hatte der Rittmeister (Vater der Familie) die Hosen an, denn insgeheim war es Laura, die Mutter, die heimlich die Fäden im Haus zog, wenn sie beispielsweise die Bücherlieferungen ihres Mannes ohne sein Wissen wieder zurücksendete. Das Ganze trieb den Vater in den Wahnsinn und zeitweise konnte man nicht ausschließen, dass auch die Mutter wahnsinnig war. Hinzu kamen noch Zeynep Bozbay und Benjamin Radjaipour als Tochter auf die Bühne, sodass auch hier eine Figur zeitgleich von zwei Schauspieler*innen dargestellt wurde. Bozbay wies Lommatzsch als Rittmeister und Vater erst einmal zurecht, was das soziale Geschlecht anging, sodass dieser endgültig die Fassung verlor. Anschließend verließen auch Bozbay und Radjaipour ihre Rolle als Tochter und spielten nun auch noch das ebenfalls bekannte Ehepaar.

Turbulenz als Konzept

Die Inszenierung wurde immer turbulenter, so turbulent, dass ich irgendwann den Überblick verlor. Aber vielleicht ist das genau der Sinn des Stücks: Orientierungslosigkeit im Geschlechterdschungel, denn es gab eben keine klare Geschlechterzuschreibung. Als dann der Männerchor (Camerata Vocale München) in Holzfällerhemden die Bühne betrat, kam endlich wieder Klarheit ins Stück. Doch der Schein trog, denn auch hier griff Stemann in die Trickkiste, und spätestens, als »Olé, wir fahr’n in Puff nach Barcelona« angestimmt wurde, überkam einen Unbehagen und man wollte doch wieder von einer klaren Rollenzuschreibung zurückschrecken, deuteten doch solche Lieder auf die schlechten Seiten der Geschlechterzuschreibungen hin.

Am Ende sah man die Kontroverse der Eltern über die familiäre Situation als Video, während Riedler und Lommatzsch im Close Up gefilmt wurden. Schließlich überlagerten sich die beiden Bilder und wurden zu einem. Wieder keine Eindeutigkeit. Dann betrat Wiebke Puls als fünfte Schauspielerin des Abends die Bühne. Wie in der Videoanimation vereinte sie die Eltern in sich, indem sie meisterlich den Dialog der beiden vortrug, als dialogischen Monolog.

Die Stammgäste rutschten immer tiefer in ihre Sessel und klatschten am Ende, wenn überhaupt, nur zögerlich. Für mich zeigte dieser Abend in den Münchner Kammerspielen jedoch auf grandiose Weise die moderne Seite von August Strindbergs Der Vater. Dabei schien die Unklarheit zum Konzept zu gehören, führte jedoch zeitweise zu einer solchen Verwirrung, dass es schwer wurde, dem Stück zu folgen, womit dann doch etwas Verständnis für meinen nicht-klatschenden Sitznachbarn aufkam. Entgegen dem Erscheinungsbild des Hauses, das nicht allzu modern wirkt, sind die Münchner Kammerspiele ein überaus renommiertes Haus, das zeigt, was Theater alles kann, wenn es eben Stücke wie Strindbergs Der Vater radikal neu inszeniert. Zwar war nicht alles verständlich an diesem Abend, doch schien dies Teil des Konzepts zu sein. Wie viel Konzept wirklich hinter den Inszenierungen der Münchner Kammerspiele steckt, werde ich wohl erst nach weiteren Besuchen herausfinden. Nun fehlt nur noch eine große Bühne Münchens, das Volkstheater, und die bekanntesten Theater der Stadt sind auch mir bekannt. Doch der Vorhang fällt erst, wenn ich noch mehr entdeckt habe.



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 Veröffentlicht am 13. April 2019
 by Julien Reveillon via unsplash unsplash licence
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