Freundschaft und Feindschaft, Großstadt und Provinz, Erinnern und Vergessen: Die schwedische Autorin Sara Lövestam legt mit Herz aus Jazz einen empathischen Jugendroman vor, der die grausame Welt eines jugendlichen Schulalltags mit einer zeitgeschichtlichen Reise ins Stockholm der 1940er-Jahre verknüpft.
Von Katharina Fricke
Sie wird beleidigt, sie wird bespuckt, ihre Socken werden in der Schultoilette ertränkt – das sind die Belastungen, denen Steffi tagtäglich durch ihre Mitschüler ausgesetzt ist. Das Mobbingproblem, mit dem die 15-jährige Protagonistin in Sara Lövestams Jugendbuchroman Herz aus Jazz zu kämpfen hat, ist der Ausgangspunkt der Erzählung. Die preisgekrönte schwedische Autorin spricht hier unmittelbar aus der verletzten Seele eines Teenagers, greift damit ein zeitgemäßes Thema auf und bietet dem Leser einen Einblick in die manchmal grausame Welt des Schulalltags eines Jugendlichen.
Ein fröhlicher Blues
Steffi hasst es, zur Schule zu gehen. Sie hasst ihre Peiniger. Manchmal hasst sie sogar sich selbst. Das passiert in den Momenten, in denen sie anfängt, den Beleidigungen ihrer Mitschüler Glauben zu schenken. Auch zu Hause wird sie von ihrer älteren Schwester schikaniert, ohne dass es ihre Eltern bemerken. Und trotzdem: »Steffi ist ein fröhlicher Blues«. Das ist die erste Botschaft, die Lövestam gleich zu Beginn des Romans ihrer Leserschaft unmissverständlich mit auf den Weg geben will: Auch das so oft niedergeschlagene Mobbingopfer Steffi ist fröhlich. Fröhlich, wenn sie spielt, singt und in der Musik lebt, ein »fröhlicher Blues« eben. Die Musik ist Steffis Ausweg aus ihrem Alltag und gibt ihr Kraft, sich von ihren Problemen zu lösen. Der Jazz, und dabei insbesondere der schwedische Musiker Povel Ramel, haben es ihr angetan. Ganz unerwartet erschallt dessen Musik so auch eines Tages aus einem Altersheim, das auf Steffis Heimweg liegt. Die gleiche Leidenschaft für Povel Ramel teilt nämlich auch Alvar, Bewohner eben dieses Altersheims, dem sie von nun an regelmäßig Besuche abstattet. Das ist der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen dem Teenager Steffi und dem älteren Herrn Alvar, die vor allem die gemeinsame Liebe zu Swing und Jazz verbindet.
Stockholm in den 1940er-Jahren
Von dort an öffnet sich eine Erzählung in der Erzählung, skizziert von Alvar, der seinerzeit ein bekannter Jazzmusiker war. Er berichtet von seinen Anfängen als einfacher Junge aus der schwedischen Provinz, von seinem Umzug in die Großstadt Stockholm, von den gesellschaftlichen Ängsten, die durch den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besetzung Norwegens bedingt waren, und von seiner großen Liebe Anita, die für ihn so unerreichbar schien, wie zunächst seine Karriere als Musiker:
»Aus seinem Ziel, Anitas Mann und Sinn ihres Lebens zu werden, wurde nun das Ziel, von der Musik zu leben und ein Mädchen zu küssen.«
Mit Steffis Augen liest man sich durch Alvars Geschichten, taucht mit ihm ein ins Stockholm der 1940er-Jahre und wird zugleich zurückgeholt in Steffis Jetzt in der schwedischen Kleinstadt. Trotz verschiedener Handlungs- und Zeitebenen bleibt der Plot dabei immer klar konturiert und leicht zu lesen.
Die zweite Erzählung bietet eine Möglichkeit, für kurze Augenblicke aus der traurig und einsam geschilderten Welt Steffis auszubrechen und sich in ein anderes Zeitalter versetzen zu lassen. Zum einen bemüht sich Alvar, Steffi Mut für ihre Möglichkeit zum musikalischen Erfolg zu machen, indem er auf Parallelen der beiden aufmerksam macht: Beide begegneten Problemen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Während Steffi sich in den Cliquen ihrer Schule nicht integrieren kann und dort stets eine Außenseiterposition einnimmt, musste Alvar mit Vorurteilen kämpfen, die ihm als Junge aus der Provinz in der Großstadt Stockholm begegneten. Dem gegenüber steht zum anderen die Erzählung aus dem schillernden Stockholm:
Die verbotene Liebe zu der älteren, unerreichbaren Direktoren-Tochter Anita, die vor der Tante verheimlichte Arbeit Alvars als Musiker und nicht zuletzt die Aufnahmen mit musikalischen Größen im Tonstudio kommen Inhalten gleich, die man sonst eher aus dem Kino kennt. Diese Geschichten, in denen sich der alte Herr beim Erzählen vollkommen verliert, sind für Steffi teils so unwirklich, dass sie des Öfteren an deren Richtigkeit zweifelt. Dennoch lässt sie sich voll und ganz in die Vergangenheit entführen und identifiziert sich mit den Erinnerungen eines jungen aufstrebenden Musikers. So entscheidet sie sich, von Alvar inspiriert, zu der Bewerbung an einem Musikgymnasium in Stockholm. Bis zur Aufnahme ist es allerdings noch ein langer Weg, den es zu meistern gilt, denn die Stockholmer Schule erwartet gute Noten in allen Schulfächern und Steffis Fehlstunden sind dafür nicht gerade förderlich. Steffi muss also den Versuch starten, sich der Schule und damit ihren Mitschülern regelmäßig zu stellen, was ihr mehr als einmal Tränen in die Augen treibt.
»Manchmal fühlt man eben so, singt sie auf dem Heimweg leise vor sich hin. Die Tränen strömen, das Herz brennt lichterloh. Mag sein, das klingt banal für dich, doch banal für dich ist total für mich.«
Mehr als ein Jugendbuch
Sara Lövestam hebt in ihrem Roman neben detaillierten musikalischen Eindrücken das Seelenleben von Jugendlichen hervor. Sie stereotypisiert hier weder Täter-, noch Opfergruppen, sondern klärt geschickt Hintergründe und Ursachen. So führt das dazu, dass der Leser, der eine starke Empathie für Steffi entwickelt, schlussendlich ein Verständnis für das eigentliche Mobbingproblem ausmachen kann. Dieses liegt nämlich nicht in der Person der Mitschülerin oder der Schwester an sich, sondern ist vielmehr in den individuellen Erlebnissen dieser verankert. Mit dieser Kernaussage richtet sich die Schriftstellerin gezielt an diejenigen, die ähnliche Erfahrungen wie Steffi machen müssen, und will dazu ermutigen, sich durch andere Dinge zu stärken, so wie es bei Steffi eben die Musik ist. Mit ihrem Roman schreibt Lövestam eine Geschichte, die mehr als nur ein Jugendbuch ist. Es ist ein Buch für alle, die sich nicht von anderen haben unterkriegen lassen, die ihren Weg noch suchen oder die genauso wie Steffi ein »Herz aus Jazz« haben. Und schließlich ist die von Sara Lövestam gewählte Intention, allen Kindern und Jugendlichen Mut zu machen, sich nicht von Schulhofhierarchien unterdrücken zu lassen. Denn so wie sie in ihrer Danksagung zu diesem Roman schreibt: »Eure Zeit wird kommen.«