Mit der Inszenierung Mutter Afrika macht das Junge Theater auf das Schicksal afrikanischer Menschen aufmerksam, die jahrelang unter europäischer Fremdherrschaft leben und leiden mussten. Die Geschichte der Geschwister Aba und Kodjo zeigt das ganze Grauen der Sklaverei, und nimmt den Zuschauer in die Verantwortung.
von Michelle Rodzis
Das 19. Jahrhundert gilt als das koloniale Jahrhundert. In ihm findet die Aufteilung der Welt unter den europäischen Großmächten statt. Asien, Südamerika und vor allem Afrika hatten unter diesem Prozess zu leiden. Noch in den 1870er Jahren wies der afrikanische Kontinent auf europäischen Karten viele weiße Flecke auf und stand nur peripher im Blickfeld Europas. Das ändert sich schlagartig: Mit der Besetzung Alexandrias durch Großbritannien im Jahr 1882 beginnt der sogenannte »Wettlauf nach Afrika«, in dem der afrikanische Kontinent zum Objekt massiver europäischer Expansion wird.
Die europäischen Großmächte, die USA und das Osmanische Reich teilen den Kontinent untereinander auf und nehmen dabei keinerlei Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung, auf vorhandendene Regierungsformen und Besitzansprüche. Legitimiert wird dieses rücksichtslose Vorgehen durch rassistisch-sozialdarwinistische Theorien, nach denen sich Farbige auf einer tieferen Entwicklungsstufe als die »Weißen« befänden. Diese Denkweise prägt auch den Umgang mit der einheimischen Bevölkerung. So sind in deutschen Kolonien Zwangsarbeit, Demütigungen und harte Prügelstrafen an der Tagesordnung.
Verständnis und Mitgefühl schaffenAuf dieses Schicksal afrikanischer Menschen, die jahrelang unter europäischer Fremdherrschaft lebten, will das Junge Theater mit dem dem Stück Mutter Afrika aufmerksam machen. Das Stück wurde in Kooperation mit Künstlern aus Malawi und Gambia einstudiert, und erzählt die Geschichte der Geschwister Aba und Kodjo. Die beiden Kinder werden als Sklaven verkauft, als ihr Vater seine Schulden bei der niederländischen Westindischen Handelskompanie nicht tilgen kann, und erleben das ganze Grauen der Sklaverei: Körperliche Übergriffe, Erniedrigungen, Rassismus. Ihnen begegnen Menschen, die ihnen die Hoffnung auf ein freies Leben wiedergeben, und Peiniger, die sie unverhohlen verachten und demütigen.
Mit Mutter Afrika möchte das JT »Wege der Verständigung und des Vorurteilsabbaus« diskutieren, Verständnis und Mitgefühl schaffen. Dieses Anliegen wird schon am Aufbau der Bühne deutlich: Auf eine klare Trennung von Schauspieler- und Zuschauerraum wird verzichtet. Stattdessen ist die Bühne ebenerdig mitten in den Raum verlagert, so dass die Zuschauer um den Spielraum herum den Schauspielern zu Füßen sitzen – und das Schicksal von Aba und Kodjo aus nächster Nähe miterleben.
Betroffenheit statt HintergrundwissenWährend des Stücks wechseln sich narrative Passagen, die Faktenwissen vermitteln, mit dramatischen Sequenzen und Musikeinlagen der afrikanischen (und teilweise auch deutschen) Künstler ab. Die Lieder sind wesentlicher Bestandteil von Mutter Afrika und geben den Zuschauern einen klanglichen Einblick in das Seelenleben von Aba und Kodjo. Eindrucksvoll führt diese musikalischen Einlagen zugleich vor, das Verständnis trotz sprachlicher Barrieren möglich ist.
Das Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Unter Intendanz von Andreas Döring setzt das JT auf zeitgemäße Themen auch in klassischen Stoffen.
Mit einer Unmenge an vorgelesenen Fakten möchte die Inszenzierung dem Publikum zudem das notwendige Hintergrundwissen an die Hand geben – und überfordert es dabei. Zusammen mit den akustischen und optischen Sinneseindrücken überflutet diese Informationsfülle den Zuschauer regelrecht. Diese Reizüberflütung löst den zeitlichen und räumlichen Kontext des Geschehens mehr und mehr auf, was als innovativer Kunstgriff durchaus intendiert sein könnte. Ein solides Hintergrundwissens vermitteln die vorgelesen Fakten so jedoch nicht, sie rufen lediglich Erschütterung hervor.
Diese Erschütterung wird durch das Ausmaß und die Vielfalt an Demütigungen und Misshandlungen, denen die Geschwister ausgesetzt sind, noch gesteigert. Dem Publikum wird deutlich vor Augen geführt, was Sklaverei für die Versklavten bedeutet: Vergewaltigung und Auspeitschungen, Beschimpfungen und ungerechte Behandlung. Es wird nichts ausgelassen, alles spielt sich auf der Bühne ab. Angesichts der menschenunwürdigen Behandlung der beiden Geschwister ist die Betroffenheit und Wut in den Gesichtern der Zuschauer groß. Aber es gibt auch Momente, in denen ein leichtes Aufatmen in den Rängen zu spüren ist. Etwa wenn Aba sich subtil an ihrer Herrin rächt, oder wenn sich Kodjo durch die gewaltsamen Übergriffe des Plantagenbesitzers innerlich nicht brechen lässt.
Subjektiver Eindruck, der unvermittelt bleibtDas Stück wird eingerahmt von einem Antrag vor dem deutschen Bundestag, in dem Entschädigungen für das Verhalten der Deutschen in Namibia zur Kolonialzeit eingefordert werden. Obwohl damit ein aktueller Kontext hergestellt werden soll, bleibt der Bezug zu aktuellen Fragestellungen offen. Anstatt diese Rahmenhandlung am Ende der Inszenierung zu einem Ergebnis zu bringen, schließt das Stück in absurder Weise mit modernen Techno-Rhythmen, unterlegt mit afrikanischem Gesang. Dieses zusammenhangslose Ende sorgt für Ratlosigkeit, bleibt der Sinn doch unklar.
Insgesamt ist Mutter Afrika ein gelungenes Portrait zweier erschütternder Schicksale, das tief bewegt und Wut gegen die dargestellte Ungerechtigkeit und Entwürdigung von Menschen hervorruft. Als problematisch erweist sich jedoch die Umsetzung, die durch ihre hohe Informationsdichte und simultanen Übersetzungsvorgänge dem Zuschauer ein Höchstmaß an Konzentration abverlangt. Wünschenswert wäre auch ein intensiverer Anschluss an aktuelle Diskussionen bezüglich der europäischen Verantwortung für die koloniale Vergangenheit und den heutigen Umgangs mit Afrika gewesen. Ohne diesen Anschluss vermittelt Mutter Afrika lediglich einen subjektiven Eindruck von den Grausamkeiten der Sklaverei, der etwas unvermittelt bleibt.