Prominenz im Deutschen Theater Göttingen: Vom 4.-11. November 2012 gab es im DT kein Theater auf den Brettern, die die Welt bedeuten; dafür aber eine Delegation von Jazzmusikern von internationalem Rang.
Von Sophia Karimi und Jonathan Szegedi
Das Göttinger Jazzfestival gilt als eines der kulturellen Highlights in Göttingen und wartete dieses Jahr mit den ganz großen Namen der Jazzszene auf. »Vielseitigkeit, Aktualität und Wandelbarkeit« von Jazzmusik will es nach eigener Aussage aufzeigen und ging dazu besonders Freitag- und Samstagabend in die Vollen. Auf der Hauptbühne im Deutschen Theater waren Musiker wie Kenny Garret und Roy Hargrove zu sehen und damit Jazzstars, die man normalerweise im beschaulichen Göttingen eher weniger erwartet.
Skandinavische MelancholieDas Festivalwochenende darf Freitagabend das Tingvall Trio eröffnen, das Klaviertrio um den Schweden Martin Tingvall spielt Musik zum Schönfinden und Lauschen. Dem kann dann auch der Nichtkenner von Jazz folgen: intuitiv verständlich und nicht hochstilisiert. Dies erinnert an das Esbjörn Svensson Trio, nicht nur wegen der skandivischen Melancholie, auch wegen der Anleihen aus Popmusik. Dabei entwickelt das Tingvall Trio einen ganz eigenen Sound mit hohem Wiedererkennungswert. Die sich kontinuierlich steigernde Intensität der Stücke und Interaktion der Musiker wird von den Zuhörern angenommen, dabei macht sich aber dennoch die große physische Distanz zwischen Musikern und Publikum bemerkbar, die erst gegen Mitte des Konzerts wirklich überwunden scheint. Martin Tingvalls Stücke überzeugen mit hoher kompositorischer Dichte und erhalten durch das intensive und soundbewusste Spiel durch Schlagzeuger Jürgen Spiegel noch mehr Energie, die von Omar Rodriguez Calvos Bassspiel kraftvoll unterstützt wird. Ein wirklich gelungener Auftakt des Abends, der mit viel Applaus honoriert wird, auf den Martin Tingvall irgendwann verschmitzt entgegnet, dass das Highlight des Abends mit Kenny Garret noch kommen werde – und wie es kommt!
Wenig Worte, viel MusikKenny Garret ist ein ganz Großer der Jazzszene und überzeugt Freitagabend von Anfang an durch eine unglaubliche Bühnenpräsenz. Der Saxophonist tritt mit seinem Quintett auf, verliert dabei wenig Worte und macht stattdessen viel Musik. Eine unglaubliche stilistische Bandbreite, immer verbunden mit dem ganz ureigenen Sound von Kenny Garret und dem unverkennbaren Zusammenspiel seines Quintetts wird da geboten. Der letzte Saxophonist, der an der Seite von Miles Davis spielte, bezieht sich in seinen langen energetischen und bildhaften Soli immer wieder unverkennbar auf seine wichtigsten Einflüsse: von Miles Davis, Maceo Parker, John Coltrane bis zu Sun Ra und Jaco Pastorius. Afro-kubanische Rhythmen werden im Verlauf des Abends mit Elementen aus Fusion, Hardbop sowie ethnischen Einflüssen kombiniert. Die Länge der Stücke bietet jedem Mitglied des Quintetts die Möglichkeit lang und spannungsreich zu solieren und somit den eigenen Sound in den Gesamtsound des Quintetts hineinzutragen, die daraus entstehende Energie scheint das Publikum zunächst zu verstören. Als dann aber gen Ende Kenny Garret das Publikum zum Mitsingen und Mitfeiern auffordert, löst sich diese Überforderung und weicht intuitivem Genuss und verdientem frenetischen Klatschen und Jubel.
Konstruierter JazzDen Abend beschließt das Panzerballett. Eine Band aus München, die Jazzstandards mit Metal zu kombinieren versucht und dabei schon für viel Aufsehen innerhalb und auch außerhalb der Jazzszene gesorgt hat. Im Gegensatz zu Kenny Garret wird hier von Anfang an geredet und offenbar der Versuch gestartet, den Abend komödiantisch zu moderieren. Das erinnert leider an Mario Barth und ist wenig bis gar nicht witzig und interessant. Die Musiker beherrschen ihre Instrumente auf beeindruckendem Niveau und besitzen ein hohes technisches und musikalisches Abstraktionsvermögen, das ihnen erlaubt die Sprache des Jazz neu zu kontextualisieren, das reicht aber nicht aus. Denn gutes Handwerk allein ist noch lange kein Garant für gute Musik. Panzerballett und ihre Musik sind reine Konstruktion und verfehlen damit jegliche Authentizität, die jede gute Band ausmacht. Man nimmt es den Musikern nicht ab. Fraglich ist, was solch eine Band auf einem Jazzfestival zu suchen hat. Zwar bieten die harmonischen, melodischen und rhythmischen Parameter des Jazz die Grundlage, es ist aber der Sound, der Jazz zu dem macht, was er ist. Und nicht das bloße Vorhandensein eines Saxophonisten, dessen Soli völlig verloren erscheinen. Die Musik ist weder ein schönes Hörerlebnis noch energetisch, mitreißend und faszinierend, sondern einfach nur unangenehm.
Gebogen, gebeugt, gestreckt und gekrümmtSängerin Maria Joao und Pianist Mario Laginha eröffnen den zweiten Abend des Jazzwochende im Deutschen Theater und begeistern das Publikum. Maria Joao ist in ihrem Auftreten nicht nur Sängerin, sondern eine große Performerin. Das Singen als gesamtkörperliche Anstrengung und Kunst stellt sie auch mit ihrem Körper dar: Da wird sich gebogen, gebeugt, gestreckt und gekrümmt, die gesamte Bühne, der ganze Körper wird genutzt. Diese Performanz ist aber eben nicht reine Unterhaltung für das Publikum, sondern direkt verbunden mit ihrem Gesang und damit essentieller Bestandteil des künstlerischen Auftritts und keine zu belächelnde Marotte. Maria Joao findet den direkten Draht zu ihrer Zuhörerschaft und erweitert dabei das landläufige Verständnis von Gesangskunst, indem ihr Singen eine virtuose Darstellung aller gesanglicher Optionen ist. Besonders ihr Solo überschreitet Grenzen, indem die Schönheit der menschlichen Stimme teilweise durch kehlige, hohe und mitunter verstörende Laute ersetzt wird, das gelingt jedoch hervorragend und wird zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk. Joao nimmt dabei auch ironisch Bezug auf Jazzmusik und Attitüden der Musiker, sodass ihre anspruchsvolle Musik mit viel Augenzwinkern und Humor aufgenommen werden darf. Der Auftritt wird durch den hervorragenden Pianisten nicht nur ergänzt, sondern komplettiert und das Publikum dankt es den beiden mit begeistertem und andauerndem Applaus.
Mahler wie MetallWas danach kommt, ist großartig. Das Trio [em] um den Pianisten Michael Wollny ist einer der absoluten Höhenpunkte des Jazzfests. Hier wird Jazzmusik mit solch einer explosiven Spontaneität gefeiert, dass es einen als Zuhörer innerhalb weniger Takte bannt und begeistert. Alle drei Musiker sind völlig frei im Umgang mit ihrem Instrument sowie mit sämtlichen Parametern der Musik, sodass jeder Komposition ein hoher Grad an Innovation innewohnt. Die Virtuosität ist hier im absoluten Einklang mit der Kommunikation der Musiker untereinander, jeder ist empfänglich für den Input und Sound des Anderen und das Trio spielt gemeinsam Musik, die es schafft wunderschön, intuitiv zugänglich und dabei dennoch anspruchsvoll zu sein. Die dafür genutzten Inspirationsquellen sind nicht nur im unmittelbaren Umfeld des Jazz zu finden, sondern ebenso in der Klassik. Da wird beispielsweise Gustav Mahlers Trauermarsch sehr klug und vor allem wunderschön anzuhören adaptiert oder auch das chinesische Element Metall als Inspiration genutzt. Sie beweisen, dass Jazz eine hochaktuelle und ganz mittelbare, direkte Kunstform bleibt und noch lange nicht in die Schublade des Vielgehörten, Altbekannten gehört. Bassistin Eva Kruse, Schlagzeuger Eric Schaefer und Michael Wollny machen so besondere, abwechslungsreiche Musik, die auf vielen Ebenen gehört werden kann: Einerseits der ganz direkte Zugang des Hörgenusses, dem man sich hingeben kann, ohne nachdenken zu müssen und andererseits die Möglichkeit eine unglaubliche Bandbreite an Denkansätzen zu nutzen, diese Musik bleibt in jeder Hinsicht im Kopf.
MusikvöllereiDer Trompeter Roy Hargrove beendet das Festival – und welch ein Unterschied zum vorigen Trio sich dort bietet! Die Energie verändert sich komplett und es ist eine Herausforderung, diesen Wechsel auszuhalten, die Sitzreihen leeren sich zunehmend. Und das zu Unrecht. Denn Roy Hargrove und sein Quintett machen an diesem Abend genussvolle Jazzmusik. Das ist Hardbop vom Feinsten und Anlass und später Stunde angemessen. Ohne im Fahrwasser des schon so oft Gehörten unterwegs zu sein, ist hier Jazzmusik zu hören, die sich auf ihre Herkunft bezieht: Prägnante Melodien, Swing und Soli. Der Trompeter hat Spaß auf und neben der Bühne und kann das Publikum doch nicht so ganz packen, dabei muss man über das Können des Trompeterstars nicht reden. Es war vielmehr der abrupte Wechsel und das Gefühl der musikalischen Übersättigung, das den Zugang zu dieser Musik erschwerte, aber es ist ja auch gerade dieses Gefühl von Musikvöllerei, das ein gelungenes Festival ausmacht. Das Göttinger Jazzfestival durch Roy Hargrove zu beschließen ist eine gute Entscheidung, denn er führt den Zuhörer wieder zu einer ganz klassischen Auffassung von Jazzmusik und zeigt, wie diese wirklich gut gemacht wird und damit viel Spaß macht.
Denn dem eigenen Anspruch von »Vielseitigkeit, Aktualität und Wandelbarkeit« wird das Fest des Jazz mehr als gerecht, das Booking ist größtenteils hervorragend und hätte in seiner wunderbaren Vielfalt der Möchtegern Bad Boys der Jazzszene Panzerballett nicht bedurft.
Neben den Acts auf der Hauptbühne sind an zwei anderen Spielplätzen Göttinger Jazzbands jeglicher Art zu hören und das Deutsche Theater vibriert vor Musik und Jazzlust. Leider leidet die Stimmung unter der Platzfrage. Warum nicht einfach Sitz- und Stehplätze verkauft werden, bleibt rätselhaft, denn dass man bei den, gerechtfertigt, hohen Preisen nicht sieben Stunden stehen möchte und kann ist klar. Das Gezänk um Sitzplätze verdirbt an diesem Abend so manchem Besucher die Stimmung. An der Musik und der Auswahl der Künstler liegt das definitiv nicht, denn was dem kleinen Göttingen an diesem Wochenende geboten wurde, war ein großartiges Fest des Jazz: viel viel tolle Musik und sehr viel Freude daran!