Vier Generationen, fünf Jahrzehnte DDR-Geschichte – Eugen Ruge präsentiert mit seinem Erstlingswerk In Zeiten des abnehmenden Lichts einen gesellschaftskritischen Familienroman im Stil von Thomas Mann oder Jonathan Franzen.
Von Yannick Lowin
»Zeiten des abnehmenden Lichts«, so nannten die Menschen in der sowjetischen Stadt Slawa die Tage, wenn die bäuerliche Bevölkerung Anfang Oktober die Kartoffeln einholte, das Kartoffelkraut im Feuer brannte und die Tage merklich kürzer wurden. Auch Alexander Umnitzer befindet sich plötzlich im Herbst seines Lebens: Im Jahr 2001, mit 47 Jahren, diagnostizieren die Ärzte bei ihm Lymphdrüsenkrebs. »Nicht operabel«, lautet das vernichtende Urteil. Eugen Ruge nimmt das in seinem Debütroman In Zeiten des abnehmenden Lichts zum Ausgangspunkt, um die Geschichte von Alexanders Familie und gleichzeitig die Geschichte der DDR und ihres Untergangs in einer 432-seitigen Tour de force Revue passieren zu lassen. Aus sieben Perspektiven gibt Ruge in seinem autobiographisch geprägten Werk Einblick in ins Innenleben der Familie. Gleichzeitig öffnet er das Tor zu den durchaus als ›bürgerlich‹ zu bezeichnenden Gesellschaftskreisen des untergegangenen deutschen Staats. Denn auch hier saß die akademische Elite bei Kaffee und Kuchen zusammen, renovierte ihre Häuser und fuhr einmal im Jahr in den Urlaub.
Zu Alexander gesellen sich seine Eltern Kurt und Irina Umnitzer, Kurts Mutter Charlotte Piwoleit, dessen Mann Wilhelm, Irinas Mutter Nadja Iwanowna und Alexanders Sohn Markus. »Die Hölle, das sind die anderen«, wusste bereits Jean Paul Sartre. Und auch in Ruges Werk machen sich die Handelnden das Leben in der »geschlossenen Gesellschaft« DDR vor allem gegenseitig schwer.
Dabei könnte alles so harmonisch sein: Während die einzelnen Familienmitglieder infolge des Zweiten Weltkriegs in alle Himmelsrichtungen verstreut waren, kommt es in den 50er Jahren zur großen Familienzusammenführung in der DDR. Zuerst kehren die in der KPD Aktiven Charlotte und Wilhelm aus ihrem mexikanischen Exil zurück, wohin es sie auf der Flucht vor den Nazis verschlagen hatte. Gerade noch rechtzeitig, denn im neuen Staat werden schon die Posten unter den Parteimitgliedern verteilt. Auch Charlottes Sohn Kurt darf nach 15 Jahren Arbeitslager bzw. Verbannung aus der Sowjetunion in die Heimat zurückkehren. Er war 1936 mit Wilhelm und anderen KPD-Parteigenossen zur politischen Bildung nach Moskau gegangen und dann wegen eines Briefes an seinen Bruder Werner, in dem er den Hitler-Stalin-Pakt kritisierte, verurteilt worden. Werner wurde ebenfalls bestraft, überlebte den Gulag allerdings nicht. Dennoch kommt Kurt nicht alleine nach Hause. Denn während der ›Verbannung‹ im russischen Örtchen Slawa am Nord-Ural lernte er seine Frau Irina kennen, mit der er seinen Sohn Alexander bekam.
Leberwurst statt ZuneigungDie neuvereinte Familie geht jedoch ganz und gar nicht liebevoll miteinander um. Kurt, bald angesehener Historiker an der Akademie der Wissenschaften in Berlin, unterdrückt mit seiner Geltungssucht und Publikationswut als übermächtige Vaterfigur nicht nur Alexander, sondern macht auch seiner Ehefrau Irina, aufgrund seiner notorischen Fremdgeherei, zu schaffen. Alexander gelingt es nicht, feste Bindungen einzugehen, auch später, weder zur Mutter seines Sohnes Markus, noch zu diesem selbst, und schon gar nicht zu den Großeltern, bei denen es Leberwurst, Gurken und Kapitalismuskritik gibt, aber keine Zuneigung.
Oma Charlotte fühlt sich wiederum nicht richtig honoriert, was sie in erster Linie an der Person Wilhelm festmacht. Dieser wird von Freunden, Bekannten und Parteigenossen als verdientes SED-Mitglied und Weltmann gesehen, obwohl er in Charlottes Augen ein Nichtskönner und Prahler ist. Sie lässt ihre Minderwertigkeitsgefühle an Irina aus, die sie nach ihrer Ankunft aus der Sowjetunion wie ein Hausmädchen behandelt. Doch auch deren eigene Mutter macht Irina zu schaffen, nachdem sie sie unter »unvorstellbarem bürokratischen Aufwand« aus dem »sozialistischen Bruderstaat« in die DDR geholt hat. Das Familiengefüge gerät aber vollkommen aus den Fugen, als Alexander in den Westen flüchtet, ausgerechnet am 01. Oktober 1989, Wilhelms 90. Geburtstag.
Der Kopf trug eine UniformmützeDer Autor zeichnet das Porträt einer kaputten Familie unaufgeregt und gleichzeitig eindringlich, wobei sich Melancholie und stille Komik stets die Waage halten. Dabei gelingt es Ruge, jedem seiner Hauptakteure eine eigene Stimmfarbe zu verleihen. Die Sprache ist insgesamt zurückgenommen, klar, aber nicht unterkomplex. An einigen Stellen zeigt der Sohn eines DDR-Historikers, welch feinsinniges Ausdrucksvermögen in ihm steckt. Dazu zählt auch die Beschreibung eines Ausbilders von Alexander in der NVA: »Ein Kopf erschien. Der Kopf trug eine Uniformmütze. Der Kopf begann zu schreien. An den Zähnen bildeten sich feine Speichelbläschen, die im Licht der weißen Laternen schillerten, bevor sie zerplatzten.«
Eugen Ruge hat in seinem Familienepos In Zeiten des abnehmenden Lichts die DDR-Geschichte souverän in Romanform gegossen und dabei ein zeitloses Werk geschaffen. Wie Thomas Mann oder zuletzt dem US-Amerikaner Jonathan Franzen mit seinen Erfolgsromanen Die Korrekturen und Freiheit, gelingt es Ruge, das zwischenmenschliche Elend in einer Familie zu beschreiben und im gleichen Atemzug auch die Misere einer krankenden Gesellschaft zu illustrieren.