Über Schmarotzer und Heuchler, annullierte Ehen und unsittliche Liebschaften. Molières Skandalstück Tartuffe bereitete bereits den Franzosen des 17. Jahrhunderts moralische Schwierigkeiten. Das ThOP in Göttingen setzt auf Aktualitätsbezug mit schrill über- und untermalten Wahrheiten.
Von Michelle Rodzis
Was tun, wenn sich ein Schmarotzer in die eigene Familie eingeschlichen hat und der Herr des Hauses es einfach nicht wahrhaben will? Diese Frage stellt sich auch die Familie Orgons. Das Familienoberhaupt hat den bettelarmen Tartuffe wegen seiner angeblich herausragenden Frömmigkeit und guten Seele bei sich aufgenommen und teilt nun mit ihm mehr als brüderlich. Der Familie ist das schon seit längerem ein Dorn im Auge, vor allem da der Herr Papa für keinerlei Argumente zugänglich ist und seine Tochter Mariane mit Tartuffe verheiraten will – und das obwohl sie bereits Valère versprochen ist und die beiden eine auf Gegenseitigkeit beruhende tiefe Liebe verbindet. Doch davon will Tartuffe eigentlich nichts wissen, interessiert er sich doch für ältere Damen, sprich: die Frau des Hauses, Elmire. Als Tartuffe ihr gegenüber zudringlich wird, muss ein Plan her, um dessen Scheinheiligkeit und Heuchelei Orgon endlich zu verdeutlichen und ihn dazu zu bewegen, die Heiratspläne fallen zu lassen und Tartuffe aus dem Hause zu jagen. Wie aber vertreibt man einen Schmarotzer, der bereits – ohne Rücksprache mit der Familie – von Orgon dessen ganzen Besitz geschenkt bekommen hat?
Molières Tartuffe kann auf eine lange Geschichte mit problematischen Anfängen zurückblicken: 1667 fand seine Uraufführung statt, kurz darauf wurde es verboten, denn ein Stück, das so offen religiöses Heuchlertum und Frömmelei angreift, war geradezu skandalös im Frankreich des 17. Jahrhunderts, in dem der Klerus viel Macht besaß. Molière musste das Stück mehrmals überarbeiten, ehe es 1669 in der dritten und bis heute geläufigen Bearbeitung zur Uraufführung kam. Und nachdem im Januar 2010 bereits Der eingebildete Kranke von Molière im ThOP aufgeführt wurde, schließt sich in diesem Januar Tartuffe an.
Die Inszenierung baut dabei auf den Einsatz von Kontrasten: Tartuffe spielt zwar immer noch in Frankreich, wird aber in die unmittelbare Gegenwart versetzt, indem Passagen abgeändert und auf aktuelle (weltweite) Geschehnisse, so zum Beispiel auf den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, angespielt wird. Und obwohl die Sprache im Ausdruck auch aktuellen Verwendungsweisen angepasst wird, hält man an einer gereimten Versübersetzung des französischen Alexandriners fest, was trotz des Endreims nur an wenigen Stellen einen steifen und gestelzten Eindruck macht.
Schon in der Vorlage Molières sind die Figuren durch eine geschlossene, teils dynamische Figurenkonzeption definiert: So ändert beispielsweise Elmire, die Frau Orgons, die noch zu Beginn die Zudringlichkeit Tartuffes ihrem Mann gegenüber als nichtig abwiegelt, ihr Verhalten, als Orgon die neuen Heiratspläne für Mariane offenbart. In der Regel bleiben die Figuren aber ihren anfänglichen Verhaltensmustern treu. Diese Konzeption wird in der Inszenierung des ThOP plakativ anhand des Make-Ups verdeutlicht, das den Figuren ihre wesentlichen Merkmale im wahrsten Sinne des Wortes auf die Stirn schreibt: Orgon ziert ein eindringlich blauer Lidschatten, der auf seine Blauäugigkeit hinweist, Damis, den jugendlichen Hitzkopf des Stückes, schmückt eine rote Stirn, was die Typisierung der Figuren deutlich signalisiert. Die Figurencharakterisierung über das Make-Up erweist sich insbesondere für die Dienerin Flipote als wichtig, deren Konzeption massiv von der Grundlage Molières abweicht und so mithilfe des Make-Ups die Überlegung provoziert wird, warum sich gerade die Dienerin, sonst eine eher periphere Figur, besonders durch »Hellsichtigkeit« auszeichnen soll.
Tartuffe im ThOP lebt – nicht nur in Bezug auf das Make-Up – vom Einsatz optischer Informationsvergabe und Situationskomik, denn darin liegt zum Großteil der besondere Reiz und Witz der Aufführung. Besonders die Figur Tartuffes selbst, die sich in seinen (anfänglichen) Dialogen nicht so recht mit den Vorwürfen der Familienmitglieder zusammen bringen lässt, enttarnt ihr eigentliches Wesen schon im Vorfeld der Klimax durch nonverbale Handlungen – so steht bspw. Tartuffes Hochhalten der Sittsamkeit dem eigenen, ungenierten Bespannen der weiblichen Familienmitglieder konträr gegenüber. Aber auch die zugespitzte Darstellung der Figuren mit ihrem recht schmalen Merkmalssatz sorgt für Erheiterung. Ins Auge sticht hierbei besonders Dorine, Zimmermädchen bzw. Au-Pair Marianes, die schon in Molières Vorlage kein Blatt vor den Mund nimmt, in der ThOP-Inszenierung durchgängig in bayrischem Akzent spricht, was auf humorvolle Weise die »bäuerliche Weisheit« der jungen Frau verdeutlicht, die im Kontrast zu ihrem Äußeren steht, ohne dabei künstlich zu wirken.
Witzig ist Tartuffe auf alle Fälle und sorgt mit dynamischen Dialogen und mit einer gelungenen Kombination aus visuellem und Wort-Witz für viel Erheiterung im Publikum. Ein großes Fragezeichen bleibt am Ende allerdings, ob die angedachte Aktualisierung tatsächlich geglückt ist – oder ob sie in jeder Hinsicht glücken sollte. Tartuffe wird zwar als moderner Gutmensch inszeniert, der sich von Bioprodukten ernährt und Integrationskurse für Gefängnisinsassen leitet, was auch wiederholt durch die Wahl der Kleidung Tartuffes signalisiert wird – dafür tritt aber die Frömmigkeit, die Molière bei der Charakterisierung Tartuffes in den Vordergrund stellt, etwas zurück. In dieser Hinsicht ist Tartuffe ambivalent, denn kann man sich fragen, inwiefern das Handeln Orgons in einem – allerdings nicht vollständig – aktualisiertem Tartuffe motiviert ist bzw. es in einem modernen Kontext erklärbar bleibt oder wird. Der Gegenwartsbezug wird zwar immer wieder angedeutet, aber die Frage, inwiefern sich die Handlung in die Gegenwart transportieren lässt und welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen sich daraus ergeben, liefert viel Stoff zum Nachdenken. Eine andere Option wäre natürlich, sich auf die amüsante Seite Tartuffes zu fixieren und zu sagen: »Ich fühle mich gut unterhalten, es war ein schöner Abend, die Schauspieler haben gut gespielt.« Fraglich ist nur, ob das dem Stück gerecht wird.