Idylle oder Krieg? Fakt oder Fiktion? Zuschauer – oder doch Voyeur? Das Theaterensemble Needcompany provoziert mit seinem postdramatischen Stück La Maison des Cerfs die Besucher des Pariser Théâtre de la Ville – nicht wenige verließen kopfschüttelnd den Saal.
Von Wiebke Schuldt (Paris)
Susan Sontag wunderte sich einmal darüber, dass Menschen enttäuscht sind, wenn sie von bestimmten Fotografien erfahren, diese seien gestellt. Im Theater scheint es sich andersherum zu verhalten: Hier wirkt es eher störend, wenn Reales in das Stück einfließt – was wiederum ein Merkmal jener Stücke ist, die der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann als postdramatisch bezeichnet. Wenn nicht mehr Handlung oder Text im Mittelpunkt stehen, sondern das Theater eher einer Versuchsanordnung gleicht, dann muss auch die Rolle des Publikums neu verhandelt werden. Parallel zur logozentrischen Repräsentation wird auch das distanzierte Zuschauen problematisch. Exemplarisch hierfür ist Jan Lauwers’ Stück La Maison des Cerfs (dt. Das Hirschhaus), das kürzlich vom belgischen Theaterensemble Needcompany am Pariser Théâtre de la Ville aufgeführt wurde. Erstaunlich viele Zuschauer verließen während der letzten Vorstellung kopfschüttelnd den Saal – sie zumindest schienen sich ihrer partizipierenden Rolle durchaus sicher.
Idylle oder Krieg?Dass dieses Theater provozieren will, lässt schon die Eingangsszene erkennen: Halbnackte Menschen mit Koboldmasken vollziehen da Liebesakte zwischen herumliegenden Hirschtorsi. Wir beobachten ein Matriarchat, das sich in der Abgeschiedenheit eines verlassenen Hirschhauses eingerichtet hat. Das Verhältnis zur Natur ist ein versöhnliches, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass die Hirsche, bevor sie geschlachtet werden, in den Genuss einer beruhigenden Herzmassage kommen.
Doch diese friedliche Idylle wird jäh gestört als ein Tagebuch auftaucht, in dem ein Kriegsfotograf schildert, wie er während des Kosovokrieges eine Frau erschoss. Dessen hinterlassene Erzählung ist allerdings unzuverlässig, die Grenze zur Fiktion verschwommen: »Watch out, the world is not behind you!« – dieses durch den Zusatz »not« abgewandelte und dadurch mehrdeutige Velvet Underground-Zitat habe auf einer Mauer gestanden, hinter der Frauen und Kinder massakriert wurden. Diese Warnung wird durch eine weitere, zynische Bedeutungsebene untergaben: Die Welt lässt sich nicht in der Vergangenheit finden, der Blick muss nach vorn gerichtet werden. Die Ignoranz und die Verweigerung, den Krieg ins Bewusstsein dringen zu lassen, sind nicht nur kennzeichnend für die Haltung des Fotografen.
Fakt oder Fiktion?Vielleicht um herauszufinden, wo und wie die Welt, wenn nicht im Rückblick und jenseits der Kameraperspektive, zu verorten ist, vielleicht auch um die Erinnerung zu retten, die durch die schrecklichen Bekenntnisse des Tagebuches in Frage gestellt wird, versucht die erschütterte Schwester des Fotografen, die Geschichte des plötzlich fremd wirkenden Bruders zu rekonstruieren. Schon die paradoxe Ausgangsvoraussetzung, die Tatsache, dass sich die Hinterbliebene hinsichtlich der getrennt erlebten Vergangenheit kognitiv unabhängig glaubt, obwohl sie keinen anderen Rückhalt als die Autofiktion des Tagebuches hat, nimmt das nun folgende Aufweichen der fest geglaubten Grenzen zwischen Fiktion und Realität vorweg: Wahrnehmung findet auch im Hirschhaus innerhalb narrativer Kategorien statt; gehandelt wird vor allem unter der Maßgabe, dass hinterher eine gute Geschichte herauskommt. Der Krieg selbst ist nur ein Faktor unter vielen – wie die Geschichte am Ende geschrieben wird, hängt nicht von den tatsächlichen Ereignissen ab, sondern von der Erinnerung und den Absichten einzelner. Wenn sich zudem herausstellt, dass die Figuren Mitglieder einer Theatergruppe sind, die sich mit ihrem Stück gerade auf Welttournee befinden, und dass die Schauspieler darüber hinaus in der Fiktion ihre Namen beibehalten haben, dann wird auf einer weiteren Ebene die Frage aufgeworfen, was die Bühne eigentlich noch von der Welt unterscheidet – oder besser gesagt, ob eine strikte Trennung von Fiktion und Realität im medialen Zeitalter noch sinnvoll ist.
Was bei Lauwers’ Stück hervorsticht, ist der wirkungsvolle Kontrast von konstanten Gewaltdiskursen und der geradezu naiv anmutende Repräsentation, in der kein einziges Mal Blut fließt, in der Gestisches und Nonverbales an Einfluss gewinnen, wo getanzt und gesungen wird. Das Schockierende des Krieges, das ohne konkrete Bebilderung nur im Raum der Sprache Gestalt annimmt, bleibt sehr matt hinter der elfenhaften Welt des Hirschhauses. Strukturell wird in diesem antipsychologischen Stück verhindert, dass Mitleid aufkommt – unterbunden wird damit auch das gute Gewissen, das Wohlbehagen des Zuschauers. Fotografien, Notizen und vermittelte Erzählungen gewinnen eine eigene Realität, lenken die Sicht und lassen den eigentlichen Krieg als unfassbares, geradezu surreales Ereignis in den Hintergrund rücken: »Ein Krieg gehört niemandem«, sagt einer der Schauspieler.
Diese Fiktionalisierung, die rasch zu einer Ästhetisierung führt, wird im Stück problematisiert: Die mediatisierte Gewalt zieht den Rezipienten in ihren Bann, weckt seine Lust, mehr zu erfahren, und steht dabei in struktureller Ähnlichkeit zur Pornografie. Der Zuschauer ist in seiner abgesicherten Passivität immer auch Voyeur. Diese Haltung wird vor Augen geführt, wenn drei tote Figuren auf der Bühne aufgebahrt werden. Außerdem hatte einer der Schauspieler anfangs von einer Mutter erzählt, die ihr totes Kind für Geld auf den Treppen des Theaters filmen ließ. Die erste Entrüstung ist natürlich groß. Doch drängt sich bald die Frage auf, ob das Theater nicht ähnlich skrupellos in seiner Ausstellung von Schicksalen ist.
Leicht verdaulich ist dies alles sicherlich nicht. Doch denke man an die Forderungen Antonin Artauds: Klare Vorstellungen seien tote, abgeschlossene Vorstellungen; die Aufgabe des Theaters bestehe nicht darin, den Zuschauer in seinen vorgefertigten Ansichten zu bestätigen – vielmehr müsse es angreifen, Nerven und Herz des Publikums aufwecken. Auch bei Lauwers haben wir es mit hochpolitischem Theater zu tun, das noch über die Forderungen Artauds hinaus auch sich selbst in Frage stellt. Im Zuge dieser Selbstreflexion wird nicht nur die Problematik der Mediatisierung von Gewalt aufgerufen, sondern auch die Frage nach den Grenzen der großen Geschichtsschreibung, der kollektiven Erfahrungen. Eindeutige Bedeutungszuschreibungen werden dabei konstant verhindert. Das macht die Rezeption weder einfacher, noch bequemer, und doch ist gerade die auffällige Reaktion mancher Zuschauer für das Stück als Ganzes bezeichnend. Fraglich bleibt zwar, ob diejenigen, die empört den Saal verlassen, nolens volens genau die Verweigerungshaltung, die auf der Bühne problematisiert wird, wiederholen – oder ob sie gewissermaßen mitspielen und mit ihrem Verhalten ein ebenso politisches Statement abgeben. Aber gerade dass Lauwers’ Stück eine Vielzahl derartig übergreifender Deutungsmöglichkeiten anbietet, macht es am Ende zu einem gelungenen Experiment in politischer Postdramatik.