Zum Abschluss sperrt der »Puppenmeister« nicht nur die Augen, sondern auch die Lauscher auf: Bilder einer Ausstellung nach Modest Mussorgskys gleichnamigen Klavierzyklus fällt – bühnentechnisch – aus dem Rahmen und die Groteske Die musikalische Hölle lässt sich als das spielerische Finale furioso dieser Figurentheatertage bezeichnen.
Von Simon Sendler
Die Bühnengestaltung von Bilder einer Ausstellung im Alten Rathaus lässt sich mit Abstand als die schlichteste aller in der Reihe »Puppenmeister« besprochenen Stücke bezeichnen. Ein halber Bilderrahmen – genauer dessen Unterseite und ein Seitenteil – steht auf einem roten Podest, der Hintergrund ist mit blauen Stoffbahnen verhangen. Dieser neutrale Background ist ideal für die vielen verschiedenen Bilder, die das Stück entstehen lässt. In Modest Mussorgskys gleichnamigen Klavierzyklus von 1874 beschreibt der Komponist zehn Gemälde und Bilder beim Gang durch eine Ausstellung. Dass diese vertonten Bilder nun durch Figurentheater neu interpretiert werden, ist ein vielversprechendes Unterfangen.
Bilder einer Ausstellung ist eine ansprechende Inszenierung mit größter technischer Vielfalt und figuraler Variation: So stellt Mürle die Bilder mit Stabfiguren dar und interagiert gleichzeitig mit weiteren Figuren und Objekten. Von großer Wirkung sind aber auch die zweidimensionalen Szenen, in denen Mürle Flachfiguren verwendet: Im zweiten Bild treten nur zwei simple Figuren auf, die sich symmetrisch aufeinander zu bewegen und dabei ständig neue Formen und Figuren entstehen lässt. Bei der Darstellung der Pariser Katakomben arbeitet Mürle ebenso zweidimensional: Eine Halbmaske wird hier Stück für Stück ergänzt, bis am Ende ein gewaltiger Totenschädel von der Bühne aufragt.
So wie diese zwei regen viele der Szenen die Fantasie des Publikums an, das Geschehen auf der Bühne durch eine passende Geschichte zu ergänzen oder das Bild zu vervollständigen. Leider sind nicht alle Szenen so inspirierend, aber es fällt auch keine komplett aus dem Rahmen. Lediglich die sechste Szene, die das Bild eines armen und eines reichen Juden darstellt, wirkt etwas fehl am Platze. Hier präsentiert Mürle die beiden im Streit um einen Diamantring, indem er sie mit seinen Händen darstellt. Dass der eine Jude dabei habgierig und der andere geizig erscheint, bedient vermeidbare Klischees und Vorurteile.
Zwischen den einzelnen Szenen stehen die Promenaden, die als musikalische Übergänge zwischen den Bildern dienen und sowohl den Gang des Betrachters durch die Ausstellung als auch seine Reaktionen auf die Gemälde darstellen sollen und als »Umbaupausen« genutzt werden. So sehr die Promenaden auch ihren Zweck für die Stimmung und als musikalische Übergänge erfüllen, wirken sie trotzdem etwas verloren und, ungerechterweise, eher wie schwache Nachgedanken im Vergleich zu den eindrücklicheren Szenen, die ihnen vorausgehen. Nur nach der vorletzten Szene, in der ein paar Hühnerbeine ihren Auftritt hatten und sich weigern, die Bühne zu verlassen, zeigt sich das sonst vernachlässigte Potential, auch diese Übergänge stärker in das Stück einzubinden.
Das Finale bildet schließlich das Bild »Das große Tor von Kiew«, in dem noch einmal Elemente aller vorhergegangenen Bilder eingewebt werden und Mürle aus ihnen Stück für Stück die große Collage eines Stadttores zusammensetzt. Hier zeigt sich noch einmal das gesamte Potential des Wechselspiels zwischen der Musik, dem Spieler und den einzelnen Elementen der Bilder, sodass dieses Bild einen gelungenen und angemessenen Abschluss der Aufführung bietet.
Werkstattbesuch mit FolgenAls Abschlussvorstellung der Figurentheatertage wird Die musikalische Hölle im Deutschen Theater aufgeführt. Auf der Bühne stehen zwei mehrere Meter hohe Wände, auf die wild durcheinander Noten gemalt sind. Dazwischen hängt ein roter Vorhang. Noch bevor das Stück beginnt bereitet ein unheilverkündendes Grollen aus den Lautsprechern das Publikum auf eine Höllenfahrt ganz eigener Art vor.
Georg Schnittelbach, erfolgreicher Geiger und Komponist, will vor einem wichtigen Konzert sein Instrument beim berühmten Instrumentenbauer Fürst überholen lassen. Der Werkstattbesuch verläuft jedoch ganz anders als geplant und Schnittelbach verliert sich im labyrinthischen Inneren von Fürsts Schloss.
Drei andere Musiker, allesamt Genies auf ihrem Feld, leisten Schnittelbach Gesellschaft. Schnell stellt sich heraus, dass die vier Männer nicht nur Gefangene des Schlosses sind, sondern auch Gefangene ihrer eigenen Ziele, Träume und Sünden. Für die Figuren wie für das Publikum bieten sich tiefgehende Einblicke in die menschliche Psyche. Das verwirrende Setting, das darauf ausgelegt ist, jeder Figur immer wieder klarzumachen, dass sie auf sich allein gestellt ist, verstärkt diese Eindrücke noch.
Als Schnittelbach schließlich, dem Wahnsinn nahe, auf der Suche nach dem Instrumentenbauer Hals über Kopf in die Tiefen des Schlosses rennt, bricht auch musikalisch die Hölle los. Wenn man zu Franz Kafka und Hieronymus Bosch noch ein wenig Samuel Beckett und Friedrich Dürrenmatt hinzufügt, hat man Die musikalische Hölle schon einigermaßen erfasst. Denkste! Es gehört zu den Stärken des Stücks, dass es sich immer wieder dem Zugriff des Zuschauers entzieht und gerade wenn man denkt, das Stück verstanden zu haben, offenbart es sich auf eine völlig neue Weise. Dabei arbeitet Schnittger stets mit einer Vielzahl an sprachlichen und visuellen Anspielungen, die dem Stück immer mehr Tiefe verleihen. Anfänglich mögen die Gespräche der Gefangenen wie Diskussionen um ihre unterschiedlichen Konzepte von Musik und Musikerdasein wirken. Dass zwei von Schnittelbachs Mitgefangenen ausgerechnet Döblin und Pollock heißen weist jedoch darauf hin, dass hier keineswegs nur Musik verhandelt wird. Und im Verlauf der Gespräche wird klar, dass eine Diskussion über Kunstentwürfe auch immer eine Diskussion über Lebensentwürfe ist.
Finale furiosoDie gewaltige Menge an Inhalt transportiert Schnittger mit lebensgroßen Klappmaulfiguren, durch die er es auf eine beeindruckende Art und Weise schafft, selbst die große Bühne des Deutschen Theaters komplett zu füllen. Das Puppenspiel ist, wie die Darstellung der Lakaien Fürsts, makellos. Und neben den menschlichen Charakteren tritt schließlich auch das Schloss selbst wie ein lebendes Wesen immer wieder in den Vordergrund. Zwei Stellwände, die mit dem Vorhang das gesamte Bühnenbild ausmachen, werden verschoben und gedreht und erschaffen so eine absurd große Menge an Räumen in dem Schloss. Auf dem Höhepunkt dieser Darstellung, rennt Schnittelbach wie von Sinnen durch die Räume des Schlosses; die Wände bewegen sich wie in einem Tanz und das Publikum ist wie der Protagonist auf der Bühne bald völlig orientierungslos.
Durch den surrealen, absurden Inhalt und die düstere Stimmung ziehen sich immer auch humorvolle Momente, die das Stück insgesamt zu einem gelungenen und ausgewogenen Ganzen abrunden. Es handelt sich hier tatsächlich, wie der Untertitel ankündigt, um eine »Odyssee durch Zeit, Raum und Klang«, bei der viel Spielraum für Interpretation sowie hervorragende Unterhaltung geboten wird. Die musikalische Hölle ist das furiose Finale der Göttinger Figurentheatertage 2016 und hat die Position als krönenden Abschluss des Festivals absolut verdient.