Wundersam wird der Hörsaalalltag zur vorlesungsfreien Zeit, die Schneeglöckchen kündigen den Frühling an, die Sonne schafft es bereits fast bis zum Abendbrot, die Öffnungszeiten des Café Kult reduzieren sich von gefühlten sechzig Minuten am Tag auf fünfzehn, Martin Schulz wird Kanzlerin. Hört die Signale! Wandel liegt in der Luft: Das Literarische Zentrum hat ein neues Programm!
Von Adrian Bruhns
Man könnte sagen: ein politisches Programm. Anja Johannsen, seit letzter Spielzeit wieder an gewohnter Stelle als Leiterin des Zentrums, betont, dass sie die im Programm aufgenommene Literatur nicht für politische Themen instrumentalisieren, sondern die natürliche Verbindung zwischen den beiden herstellen möchte, »verlinken« sozusagen. So geht es dann auch sofort am 1. März mit einer Veranstaltung zu Populismus und Widerstand los. In regelmäßigen Abständen werden solche Zeitthemen im Programm aufgegriffen, etwa mit den »Feminist Four« (darunter angeblich Laurie Penny… beim Literaturherbst musste sie ja leider ausfallen) oder dem Abend »Perspektiven auf verbotene Literatur«.
Der Fokus bleibt aber weiterhin auf der Belletristik, die sich natürlich auch zum Politischen äußern kann. So etwa Olga Grjasnowa mit ihrem bereits dritten Roman, seitdem sie 2010 ihr Studium am Literaturinstitut Leipzig abgeschlossen hat: Gott ist nicht schüchtern hat Flüchtende aus Syrien als Protagonisten. Im Rahmen der Debatte zum Thema Appropriation und der Frage, wie und in welchem Umfang die Erfahrungen von Gruppen durch nicht Dazugehörende in der Kunst verarbeitet werden sollten, nimmt die selbst als Kind mit ihrer Familie aus Aserbaidschan geflüchtete Grjasnowa eine spannende Position ein.
In gewohnter Tradition bietet auch das neue Programm dieses Sommersemester Veranstaltungen von »Kenn ich!« über »Hab ich schon mal gehört« bis „Kennt das wer?« In der ersten Kategorie beispielsweise Thomas Melle (Die Welt im Rücken) und Philipp Winkler (Hool), zwei der fünf Kandidaten für den Buchpreis 2016, die wir Kirchhoff vorgezogen hätten. Philipp Winklers Lesung ist dabei als einzige des Hauptprogramms in dieser Saison auch für die Reihe »Literatur macht Schule« eingeplant. (Nicht nur Anja Johannsen ist zurück, sondern auch Gesa Husemann, die wieder die stellvertretende Leitung des Zentrums und die Leitung dieser Reihe übernimmt.)
An immer gut besuchten Veranstaltungen mit Preisträgern und -nominierten sind außerdem eingeplant: Frank Witzel (Buchpreis 2015) in Fortsetzung der beliebten Reihe »Liederabend« (aus der Kategorie »Buchtitel so lang, dass er im Programm nicht ausgeschrieben ist«). Außerdem Terézia Mora (Buchpreis 2013), die zuletzt auch den Preis der Literaturhäuser 2017 gewonnen hat, verliehen vom »Netzwerk der Literaturhäuser«, das Zentrum ist davon eines der Mitglieder. Teil des Preises ist es, die Literaturhäuser des Netzwerkes zu besuchen: ungewöhnlich. Schließlich die Preisträgerin des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preises Sharon Dodua Otoo; ungewöhnlicherweise hat das Zentrum sie dieses Jahr zu der langjährigen Reihe »Debütantinnenball« eingeladen. Neben Svenja Gräfen, Luise Maier und Annette Pussert überrascht die sehr viel profiliertere Otoo in dieser Reihe. Ihr im Programm genannter Roman Synchronicity erschien bereits 2015 und ist auch nicht ihr Debüt.
Insbesondere für Göttinger auch in der Kategorie »Kenn ich!« relevant: Frido Mann (Psychologe), der Lieblingsenkel von Katja Mann und seine Lieblingsfrau Christine Mann (Psychologin), die Lieblingstochter von Elisabeth Heisenberg. Lieblings. Beide sprechen zu ihrem Buch Es werde Licht (2017), in dem es um Quantenphysik geht. Um nicht aus Versehen einen Physiker dabei zu haben, moderiert den Abend Gerhard Lauer (Literaturwissenschaftler).
2017 natürlich obligatorisch ist ein Luther-Abend, in diesem Fall mit Menschen vom Fach: Der Theologe Daniel Mourkojannis spricht mit Bundesversammlungsmitglied Feridun Zaimoglu, der mit dem Ohr am Markt die Signale gehört hat und dieses Jahr einen Luther-Roman vorlegt, sowie dem Historiker Tilmann Bendikowski (Der deutsche Glaubenskrieg).
Lauter Veranstaltungen also, die ein großes Publikum anziehen werden. Doch die erfahrene Zentrumsbesucherin weiß, die Perlen sind häufig auch in den beiden anderen Kategorien zu entdecken. Zum Beispiel auf dem auch in diesem Sommer wieder stattfindenden Poetree. Nach zwei Jahren Schlechtwetter kommt das Festival nun vom Regen in die Tränke (Tusch!) und wird diesmal im Innenhof des Dots stattfinden.
Das Programm dieser Saison bleibt dem Zentrum also durch einen Wechsel von aktuellen Größen der deutschen Literatur mit interessanten Nachwuchsautorinnen treu. Etwas vermissen wir diesmal jedoch den sonst stärker ausgeprägten Blick auf nicht deutschsprachige Literatur: Einzig die Veranstaltung mit der türkischen Autorin Ece Temelkuran widmet sich vollständig einer nicht deutschsprachigen Autorin. An gemischten Abenden finden sich noch die Lesung mit dem mazedonischen Lyriker Nikola Madzirov, der gemeinsam mit Jan Wagner geladen ist, und die beiden Abende mit jeweils vier Autorinnen, darunter die englischsprachige Laurie Penny und die auf Deutsch und Englisch schreibende Otoo.
Wir sehen uns also alle ab März in der Düsteren Straße. Das Publikum kennen wir schon, viele der Gäste auch, mit den anderen machen wir uns dann bekannt.