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Kommentar
Berauschende Rasenduftromantik

Der meteorologische fällt auf den poetischen Frühlingsanfang: Heute startet das Literarische Zentrum in die neue Saison. Den Auftakt machen die Lyriker Jan Wagner und Heinrich Detering im Alten Rathaus bei einem Gespräch über die »Poesie der Dinge«. Im Juni poetisieren wir uns dann im Cheltenham-Park.

Von Johanna Karch

Gespannt sein darf man auf 18 Veranstaltungen im Hauptprogramm und erneut eine personelle Veränderung: Madita Oeming wird Anja Johannsen während ihrer Schwangerschaftspause ab 1. April vertreten. Ein nicht zu unterschätzendes Zwischenspiel, da sich innerhalb der letzten Jahre die Programmgestaltung erheblich ausdifferenziert hat. Die Amerikanistin kennt das Literarische Zentrum allerdings durch ihr einjähriges Volontariat sehr gut und wird sich, wir sind da ganz gewiss, gut schlagen.

In dieser Saison ist die Integration des Literaturherbstes, dessen Gästeplanung vom Literarischen Zentrum mitorganisiert wird, besonders auffällig. Vor allem die grafische Gestaltung des Flyers, der seit zwei Wochen überall zum Mitnehmen ausliegt, hebt die Kooperation deutlich hervor. Das Göttinger Literaturfestival feiert sein 25-jähriges Bestehen und dies wird schon im Frühling pompös zelebriert. Vom 15.-17. April werden wir auf den Göttinger Literaturherbst eingestimmt und zwar mit klingenden Namen: Nach ihrem Bestseller Altes Land (Knaus 2015) gibt Dörte Hansen Einblicke in das Manuskript ihres neuesten Streichs; mit Martin Walser und Navid Kermani beehren uns gleich zwei Friedenspreisträger und die TV-Moderatorin und Schriftstellerin Thea Dorn wird mit einem vampiroiden Science-Krimi (Die Unglückseligen, Knaus 2016) den Faustschen Teufelspakt neu beleben.

Frühpädagogischer Auftrag für die ganze Familie

Auffällig zudem: Das Programm »Literatur macht Schule« bietet mit seinen acht Veranstaltungen fast durchgängig Unterhaltung auch für das erwachsene Publikum. Den Begründer der Poetry Slam-Szene in Deutschland, Bas Böttcher, einmal live zu sehen oder Nora Bossongs Liebesgeschichte über den Marxisten Antonio Gramsci zu lauschen, wird Jugendliche, aber vor allem Studierende interessieren. Der frühpädagogische Auftrag wird mit Anja Tuckermanns Alle sind da! (Klett 2014), einem Plädoyer für Vielfalt in der Gesellschaft, wahrgenommen. Ein Nachmittag für die ganze Familie.

Am 11. April schaut der Biograf der vielleicht größten Kinderbuchautorin, Astrid Lindgren, auf einen Besuch in der Düsteren Straße vorbei. Jens Andersen legt mit seiner umfassenden Biografie allerdings einen etwas anderen Zugang zur Schöpferin von Pippi Langstrumpf: als intellektuelle Beobachterin der Geschehnisse, die zum Zweiten Weltkrieg führten, schrieb sie ihre Gedanken in Briefen und Tagebüchern auf. Auf Grundlage u.a. dieses Materials wirft Andersen einen Blick auf die schmerzvollen und einsamen Momente der Autorin, die im Rückblick von der Heiterkeit ihres Wesens überdeckt wurden und verloren gegangen sind.

Retromanie

In Vergessenheit geraten will niemand und soll nichts, doch ist es nicht eigentlich auch ein natürlicher Prozess, Dinge irgendwann einmal nicht mehr präsent zu haben? Wie funktioniert der pathologische Gedächtnisverlust bei Alzheimer-Patienten und wo »bleiben« eigentlich verdrängte Erinnerungen? Der international renommierte Psychologe Douwe Draaisma wird sich im Rahmen des frühen Herbstfestes besonders mit der Frage beschäftigen, wieso Träume trotz ihres eindrücklichen Realismus´ schon nach kurzer Zeit wieder vergessen werden. Apropos Rückblick: Irgendwie retrogerichtet sind auch die Herausgeber des Indie-Fußballmagazins mit Kultstatus 11 Freunde. Deswegen schmeißen sich Jens Kirschneck und Philipp Köster im April fürs Göttinger Publikum in Schale (Hornbrille und Trainingsanzug?) und geben eine Spielfeldanalyse der humorigsten Szenen der Rasensportgeschichte.

Die Familiengeschichte einer deutschen Literatur-Dynastie zeichnet der den Göttinger Studierenden durch seine Literaturkritik-Dozentur bestens bekannte Tilmann Lahme nach. Es geht, natürlich, um die Manns, über die der Germanist am 16. Mai im Rahmen des Büchertages 2016 an der Albanikirche berichten will. Und das, so vernimmt man es allerorten, geschieht behutsam und respektvoll. Gut so, einen weiteren »Adelsexperten«, der die Skandalvariationen der Familie durchspielt, braucht es wirklich nicht.

Spiel´ die Rasenduftromantik

Einem kleinen Publikum wird beim Hausbesuch am 19. Mai ein Buch im Spieleformat vorgestellt. Mit Mimikry – Das Spiel des Lesens (Blumenbar 2016) im Gepäck kommen Philipp Albers und Cornelius Reiber nach Göttingen und prüfen die Originalität und Echtheit von berühmten Romananfängen. Dies mit einer Handvoll MitspielerInnen, die fix genug waren, sich ein Ticket für dieses ludische Happening zu zocken. Mit Bier und Chips wird das ein intellektueller Hochgenuss, verspricht die Ankündigung.

Neue Formate auszuprobieren und erfolgreich zu etablieren, damit ist das Zentrum bislang immer gut gefahren. Etwas verblüfft waren wir dennoch, dass Claudia Roth als Gast für den Liederabend eingeladen wurde. Nach Klaus Walter, Diedrich Diederichsen und Judith Holofernes nun das Mediengesicht der Grünen? WasdasfürnGag? Nun, so ganz fehl am Platz ist sie dort gar nicht, denn in jungen Jahren managte die Spitzenpolitikerin die Band Ton Steine Scherben. Über die Aktualität des (musikalischen) Revoltierens spricht sie mit dem Kurator der Reihe Gerhard Kaiser.

Dass die Etablierung neuer Formate bedeutet, sich von alten zu verabschieden oder sie zu reformieren, lässt sich auch daran ablesen, dass die Tradition der Saisonabschluss-Sommerparty in diesem Jahr nicht stattfindet abgelöst wird vom 2. Göttinger Lyrikfestival Poetree. Mit seinem Motto Poesie unter Bäumen will das Festivalteam am 25. Juni den malerischen Cheltenham-Park in einen Ort der poetischen Begegnungen verwandeln. Und das in vielgestaltiger Wortkunstmanier: Poetry Slam, lyrisches Speeddating oder Songpoesie, eingerahmt in das Rauschen von Baumkronen und Rasenduftromantik.

Klingt wie Shakespeare auf Lesereise in Berlin, nur dass Shakespeare hier die Bühne und Berlin das Schauspiel liefert. Litlog packt in jedem Fall die Lyra ein und lässt sich berauschen.



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 Veröffentlicht am 1. März 2016
 So beautiful von Torley via Flickr
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