Eigentlich war er schon für den Winter 2016 angekündigt. Nun ist Lukas Bärfussʼ neuer Roman endlich erschienen. Mit Hagard legt er eine gleichsam gewöhnungsbedürftige wie vergnüglich zu lesende Charakterstudie vor, bei der sich das meiste einer Deutung entzieht.
Von Stefan Walfort
Wenn er Dramen verfasse, hetze er seine Figuren regelrecht aufeinander. Das erzählte Lukas Bärfuss, als er im Januar zur Poetikvorlesung in Göttingen war. Demnach hält er sich exakt an das, was Lehrbücher empfehlen. John von Düffel beispielsweise hält Theater generell für »eine Kunst der Extreme, nicht des Gemäßigten, Moderaten und Moderierten«.1 Für Romane gelten andere Vorgaben. Hier sind AutorInnen weniger dazu verpflichtet, zuzuspitzen. Sie können ihre Figuren deutlicher als Individuen konzipieren, ihnen ein Mehr an Mehrdimensionalität verleihen. Diese Freiheit erlaubt es dem Erzähler in Hagard, 173 Seiten lang überwiegend konfliktfrei zu berichten und dennoch nicht zu langweilen. Über Philip, die Hauptfigur, deren Weggefährte er eigenen Angaben zufolge gewesen ist, informiert er vor allem in der dritten Person. Vom Wunsch getrieben, Philips merkwürdiges Verhalten zu deuten, richtet er sich zwischendurch des Öfteren in der ersten Person an die Lesenden. Philip selbst ist es, der Konflikte fernzuhalten sucht. Sie streifen den Plot nur an der Peripherie. Aus einem Impuls, sich einer ihm unbekannten Frau an die Fersen zu heften, ausgelöst durch ihre »pflaumenblaue[n] Ballerinas« und vielleicht ihren Duft oder nur »die Vorstellung ihres Duftes, Rosen oder Jasmin«, wird schnell eine Leidenschaft, die alles andere zu verdrängen hilft.
Anfangs lässt er ihretwegen nur den Kauf eines Grundstücks sausen. Doch schon als nächstes entscheidet er sich dafür, Belinda, die Tagesmutter seines Sohnes, mit dem Kind sitzenzulassen und »die unangenehmen Folgen, die das haben würde«, auszublenden. Versuche der Kontaktaufnahme ignoriert er. Je länger er der Unbekannten folgt, desto mehr peinigt ihn die Panik, sie aus den Augen zu verlieren. Obwohl er »ungern mit öffentlichen Verkehrsmitteln« fährt und keinen blassen Schimmer hat, wohin die Fremde zu fahren beabsichtigt, obwohl er zudem keinen gültigen Fahrausweis besitzt und ihn die Angst plagt, erwischt zu werden, hüpft er hinter ihr her in ein Bahnabteil. In einer »[s]eltsame[n] Gegend« verschwindet sie in einem Gebäudekomplex aus Wohnungen und Büros. Obwohl ihm die Kälte zu schaffen macht, wehrt etwas in ihm sich dagegen, den Heimweg anzutreten. Obwohl er Hunger verspürt, wagt er nicht, zu einem Restaurant in der Nähe zu gehen. Sie könnte ja wieder auftauchen und ihm inzwischen auf nimmer Wiedersehen davonlaufen. Lieber lässt er sich etwas liefern. Er bestellt auch einen Leihwagen. Darin wärmt er sich ein wenig auf. Als sie am nächsten Morgen das Haus verlässt, ist er sofort wieder startklar.
Mit Plüschtier am Fuß in den TodBislang hat Philip sie nur von hinten beobachtet. Wie alt oder wie jung sie sein mag, bleibt ihm ein Rätsel. Doch er hütet sich davor, sie zu überholen und alle Magie durch einen Blick in ihr Gesicht zu zerstören. Seine Leidenschaft treibt immer bizarrere Blüten: Er dichtet ihr etwas Heiliges an; er stilisiert sie zur »Göttin«. Kontrastierend dazu wertet er alle anderen Menschen ab. Einem Mitarbeiter der Bahn, dessen Namensschild die Initialen J und O erkennen lässt, würde er am liebsten auf die Nase boxen, denn J und O seien »gemäß allen Belegen die beiden dümmsten Buchstaben des Alphabets. Minderwertig [sei], wer diese Lettern in seinem Namen trägt«. Eine Person, die ihm die Sicht auf die Verfolgte versperrt, möchte er mit einem Tritt gegen die Beine zu Fall bringen. Unterwegs verliert er einen Schuh. Um seinen Fuß vor Kälte zu schützen, hastet er in einen Laden. Er greift nach einem Plüschtierpantoffel. Mit dem rasch durchnässten und zerfledderten Vieh am Fuß und auf der Flucht vor der mit einer Trillerpfeife zur Jagd auf ihn blasenden Ladenbesitzerin sieht er zu, dass er die Fährte seiner »Göttin« wieder aufnimmt. Wieder schlüpft sie in einen Gebäudekomplex mit Büros. Während sie abwesend ist, lungert Philip mit Argusaugen den Hauseingang fixierend in einem gegenüberliegenden Selbstbedienungsrestaurant herum. Während er auf sie wartet, spekuliert er darüber, in welcher Branche sie arbeitet. Zugleich belauscht er die Gespräche der dicht neben ihm frühstückenden Berufstätigen. Dabei beargwöhnt er alles und jeden.
Was für ihn erst nur ein Spiel ist, was ihn selbst zunehmend zu befremden beginnt und was ihn letztlich sogar das Leben kosten wird, treibt er eineinhalb Tage lang. Erst als ihn die Polizei zu erreichen versucht, der Akku seines Handys aber den Geist aufgibt, nachdem er »in einer letzten Millisekunde gerade noch den Absender« erkannt hat, überwältigen ihn die Sorgen um seinen Sohn und Belinda, außerdem um Vera, eine Mitarbeiterin seiner Immobilienagentur. Aufzubrechen, sich endlich um seine familiären und beruflichen Angelegenheiten zu kümmern, bringt er dennoch nicht zustande. Einige Stunden später schlitzt ihm das Glas des Fensters, das er eindrückt, um in die Wohnung der Unbekannten vorzudringen, das Fleisch auf. »Ich sterbe, aber ich verschwinde nicht. Dies ist das Ende, und hier will ich beginnen« ‒ so lauten die letzten Worte, bevor der Roman endet. Es scheint, als verschmölzen plötzlich die Identität Philips und die des Erzählers zu ein und derselben Instanz. Es scheint, als kreiere Bärfuss mit dem Erzähler statt bloß eines Weggefährten Philips ein Alter Ego, mit dem er Philips in »Raserei« mündendem Verlangen eine um Vernunft bemühte Stimme zur Seite stellt. Dem Erzählenden gehe es zwar darum, Antworten auf Fragen nach den Triebkräften hinter Philips Verhalten zu generieren, wie er selbst nicht müde wird zu betonen. Doch um die Vernunft ist es dabei nicht gut bestellt.
Erleben statt deutenVieles an dem Roman bleibt nebulös. Das meiste entzieht sich der Deutung. Das liegt an der nur holzschnittartigen Kontur des Geschehens sowie an einer enorm raffenden Erzählzeit. Auf den letzten zirka dreißig Seiten steigert sich das Tempo noch weiter. Nur noch auf Fragmente wird so die Sicht freigegeben. Hundert Seiten zusätzlich hätten der durchaus Vergnügen bereitenden Charakterstudie nicht geschadet, denn die Lesenden müssen sich mit vielen Assoziationsfetzen begnügen. Doch dahinter steckt eher Kalkül als Fantasielosigkeit. Niemand in Hagard hat die Funktion, Sinn zu stiften ‒ erst recht nicht der Erzähler. Sein Versprechen, Licht in das Dunkel zu tragen, hält er nicht ein. Den Wunsch der Lesenden nach inferenziellem Ausgleich, wie es im rezeptionsästhetischen Jargon heißt, den Wunsch also, Leerstellen auffüllen zu können, befriedigt er nicht. Stattdessen rührt er Binsenweisheiten mit esoterischem Geplauder durcheinander. So erweist er sich als ausgesprochen ratlos. Nicht einmal eine der »große[n] Erzählung[en]«2, deren Legitimität zu Recht, wie es in der Postmoderne en vogue ist, angezweifelt werden kann, plappert er nach. Und auch sonst gibt es niemanden, der das vermöchte. Das ist Stärke und Schwäche zugleich.
Jean-François Lyotards Postulat vom »Legitimationsschwund« richtet sich konkret gegen die »drei Metaerzählungen der Moderne«, gegen Erzählungen über Sinn, Emanzipation und Teleologie3, gegen Muster, gegen die sich auch Hagard in auffälliger Weise sträubt. »Das Motiv des Verschwindens ist zentral in dem Roman ›Hagard‹«. Das offenbart Bärfuss in einem Interview mit Stefan Fischer für Deutschlandradio Kultur.4 Gemeint ist nicht nur das Verschwinden Philips. Das Verschwinden von x-mal aus dem kollektiven Gedächtnis abgerufenen Narrativen zu erkennen tritt darüber hinaus als zentrales Anliegen zutage. Niemand verklärt Philips Leidenschaft zur Folge einer Emanzipationsidee. Niemand macht aus ihm einen aus dem Alltagstrott ausbrechenden Helden ‒ einen, der sich befreit von der Logik der Profitmaximierung oder ähnliches. Nein, nichts von dem, was sich in eines der herkömmlichen Wertesysteme einordnen ließe, treibt ihn an. Auch lässt sich nichts in ein teleologisches Muster einfügen. Was der Roman fokussiert, ist im Gegenteil der Bruch mit jeglicher Linearität. Und trotzdem ist alles, was Philip erlebt, einschließlich seines Dahinscheidens, ziemlich unspektakulär. Das macht sein Schicksal einzigartig ‒ so einzigartig, dass der Wiedererkennungswert für die Lesenden gen Null tendiert. Lernen lässt sich daran rein gar nichts. Die Erkenntnis desillusioniert ganz besonders. Überhaupt ist sie die einzige, die den Lesenden bleibt.
Den mit der Essaysammlung Stil und Moral beschrittenen Pfad geht Bärfuss also konsequent weiter. Vehement hatte er sich dort von didaktischen Konzepten des Erzählens distanziert. Die Publikationen Robert Walsers hätten ihn gelehrt zu wertschätzen, wenn er es »mit einem Dichter zu tun [hat], dessen Schriften keinen Zweck verfolgten. Als ich dies akzeptiert hatte und das vermittelte Wissen liegen ließ und mich nicht mehr um den Zweck kümmerte, hörte ich auf zu lernen und begann zu erleben. Eine neue Welt tat sich auf, nämlich die der Sprache selbst [Hervorhebungen im Orig., St. W.].«5 Zu erleben statt zu deuten ‒ nichts anderes lässt sich auch den Lesenden von Hagard empfehlen. Für sein Anliegen hat Bärfuss mit der Epik die geeignetste Gattung gewählt. Wem Hagard nicht zusagen sollte, sei auf die Vielfalt seines dramatischen Oeuvres verwiesen. So vergnüglich der Roman auch zu lesen ist, so ist er doch ebenso gewöhnungsbedürftig, und als Dramatiker weiß Bärfuss bislang weit stärker zu glänzen.