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Tagungsbericht
Kanon war gestern?

Das Kolleg »Wertung und Kanon« erforscht seit Herbst 2006 in transdisziplinären Dissertationsprojekten die Bedingungen und Mechanismen des Wertens und der Kanonisierung von Literatur in der gegenwärtigen Literaturvermittlung.

von Katrin Blumenkamp, Sabine Buck und Markus Kessel

* Die Originalversion des Tagungsberichts erscheint in JLTonline *

Zum Abschluss der ersten Förderphase im Frühjahr 2010 veranstaltete das Promotionskolleg »Wertung und Kanon« der VolkswagenStiftung und der Universität Göttingen eine internationale und interdisziplinäre Tagung zum Thema »Wertung, Kanon und die Vermittlung von Literatur in der Wissensgesellschaft«. Die Beiträge und Diskussionen sollten sich sowohl viel diskutierten theoretischen Grundfragen der derzeit wiederbelebten Wertungs- und Kanondiskussion widmen als auch neue wissenschaftliche Perspektiven auf Wertungs- und Kanonisierungsprozesse aufzeigen. Auch im Hinblick auf den Untersuchungszeitraum setzte sich die Tagung ein ambitioniertes Ziel: Einerseits wurde die literaturhistorische Aussagekraft von Konzepten wie »Wertung« und »Kanon« zur Diskussion gestellt. Andererseits sollte die Anwendbarkeit dieser Begriffe und Methoden in der Gegenwartsdiagnose bis hin zur Literaturvermittlung im Web 2.0 erprobt werden.

Mit diesem breit angelegten Tagungskonzept reagierten die Organisatoren Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko auf inhaltliche und strukturelle Tendenzen der zeitgenössischen Forschungsdiskussion: Obwohl sich die Untersuchung von Wertungs- und Kanonisierungsphänomenen durch theoretische Studien (wie z.B. von Friederike Worthmann und Barbara Herrnstein-Smith) und umfangreiche Fallstudien (wie z.B. von Michaela Köhler) inzwischen als literaturwissenschaftliches Forschungsfeld etabliert hat, haben sich in der Debatte bisher weder Wertungs- und Kanonbegriffe, noch differenzierte Modelle zur Erklärung von Prozessen der Wertung und Kanonbildung durchgesetzt.

Dieser Status Quo der Forschungsdiskussion kann insbesondere auf zwei Tendenzen der Debatte zurückgeführt werden: Erstens ist zum Teil eine unzureichende Vernetzung von praktischen Fallstudien und theoretischen Grundlagenarbeiten zu beobachten, da in empirischen Untersuchungen die zugrunde gelegten Wertungsbegriffe und Kanonmodelle nicht immer ausreichend reflektiert bzw. nur für die spezifisch untersuchten Teilbereiche expliziert werden. Zweitens hat sich die theoretische Wertungs- und Kanondebatte in Bezug auf einige zentrale Grundsatzfragen polar entwickelt: Positionen, die zur Analyse von Wertungs- und Kanonphänomenen bei der Textinterpretation ansetzen, und solche, die vor allem soziale Faktoren berücksichtigen, konnten bisher weder theoretisch noch praktisch ausreichend verbunden werden.

Die Tagung gliederte sich in drei Sektionen: Die ersten beiden Sektionen setzten im Wesentlichen bei den skizzierten begrifflichen und methodischen Grundfragen der Wertungs- und Kanondiskussion an. Ergänzend sollte sich in der dritten Sektion mit der Frage auseinandergesetzt werden, wie Wertungsanalyse und der retrospektiv angelegte Begriff des Kanons in der Beschreibung gegenwärtiger Phänomene der Literaturvermittlung fruchtbar gemacht werden können.

Sektion I: Textuelle und/oder soziale Grundlagen der Kanonbildung?

In Sektion I  wurde nach theoretischen Beschreibungsmöglichkeiten von Kanonisierungsprozessen gefragt, wobei mehrere Grundlagenprobleme der Kanondebatte aufgegriffen wurden. Im Zentrum der Diskussion stand dabei – wie Simone Winko in ihrer Einführung verdeutlichte – die Frage nach der Vereinbarkeit von textuellen und sozialen Faktoren bei der Analyse von Kanonbildungsprozessen. Wie lassen sich komplexe historische Verläufe wie die De- oder Re-Kanonisierung eines Autors und seines Werkes – so eine Frage – fernab vereinfachender Erklärungen durch Machtverhältnisse o.ä. rekonstruieren?

Ein weiterer Themenkomplex betraf die Frage, welche Strukturen oder Regeln sich aus dem scheinbar diffusen historischen Zusammenspiel von Kanonisierungsfaktoren herausarbeiten lassen. Speziell die in der Forschungsdebatte seit einigen Jahren viel diskutierte Frage, ob diese Prozesse intentional (z.B. als Ergebnis von Machtpositionen) und/oder nicht-intentional (z.B. mit Simone Winko als »invisible hand«-Phänomen) zu fassen sind, wurde in diesem Zusammenhang relevant. Im Vordergrund der ersten Sektion stand damit insgesamt der Aspekt der Kanonisierung, wobei Kanon in der Regel als Ergebnis von Wertungsprozessen konzeptualisiert wurde.

Wertung und Kanon

»Wertung und Kanon« ist ein Pilotprojekt geisteswissenschaftlicher Graduiertenförderung, in dem Wertungs-, Kanonisierungs- und Vermittlungsforschung mit einer berufsfeldbezogenen Ausbildung von LiteraturwissenschaftlerInnen verbunden wird.

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Systematisch lassen sich die Beiträge zur ersten Sektion in drei Gruppen einteilen. Eine erste Gruppe bilden diejenigen Beiträge, die konkrete Modelle zur Beschreibung von Kanonbildung vorschlagen. Im späteren Verlauf der Tagung wurde insbesondere das Modell, das Elisabeth Kampmann (Siegen) in ihrem Vortrag »Der Kanonisierungsprozess in den Dimensionen Dauer und Reichweite« vorstellte, wiederholt aufgegriffen. Kampmann unterschied in ihrem Modell mit »Publizität«, »Etabliertheit« und »Kanonizität« drei Status der Kanonbildung, die anhand der Maßstäbe »Dauer« und »Reichweite« voneinander abgegrenzt werden. Ihr Modell reflektiert damit die Beobachtung, dass bestimmte Texte (wie beispielsweise das Werk Christian Fürchtegott Gellerts) in der Literaturwissenschaft seit Jahrhunderten anerkannt, gleichzeitig aber in der Öffentlichkeit kaum verbreitet sein können. Diese wären mit Kampmann aufgrund ihrer zwar dauerhaften Tradierung aber zugleich ausgesprochen geringen Reichweite als etabliert, nicht aber als kanonisch einzustufen. Andererseits können Texte wie beispielsweise saisonale Bestseller ökonomisch überaus erfolgreich sein und dennoch nicht weiter tradiert werden, weshalb ihnen zwar Publizität, nicht aber Etabliertheit oder Kanonizität zugeschrieben werden könne.

Ein systemtheoretisches Beschreibungsangebot von Kanonbildung entwickelte Dominic Berlemann (Siegen) in seinem Vortrag »Kanonbildung, literarische Wertung und der Nebencode des Literatursystems am Beispiel von Gert Ledigs Luftkriegsroman Vergeltung«. Ausgehend vom Bochumer Modell literarischer Kommunikation analysierte Berlemann Kanonbildung als zirkuläre, sich selbst verstärkende Selektion von Werken durch Rezipienten anhand des Hauptcodes »interessant/langweilig« und des Nebencodes »wertvoll/wertlos«. Am Beispiel der Rezeption des Luftkriegsromans Vergeltung von Gert Ledig verdeutlichte Berlemann, wie diese Selektionen im Einzelnen von temporär gültigen Erwartungshaltungen geprägt werden, worunter im untersuchten Fall vorrangig moralische sowie politische und nur marginal ästhetische Wertmaßstäbe fielen. Im Anschluss an den Vortrag wurde u.a. diskutiert, wie Prozesse der De- und Re-Kanonisierung mit einem solchen systemtheoretischen Zirkelmodell gefasst werden können.

Ebenfalls zusammenfassen lassen sich die Beiträge von Leonhard Hermann und Benjamin Specht, die sich beide mit dem Problem auseinandersetzten, welcher Stellenwert Textmerkmalen als Faktoren der Kanonbildung zugeschrieben werden kann. Leonhard Herrmann (Leipzig) schließt in seinem Vortrag »Konstrukt, Kanon, Epoche?« ebenso wie Berlemann an Luhmanns Systemtheorie an und versteht Kanones als semantische Codes. Am Beispiel der nicht erfolgreichen Kanonisierung des Ardinghello von Wilhelm Heinse in der deutschen Klassik und dessen Aufnahme in einen Gegenkanon beschrieb Herrmann historische Kanonisierungsprozesse als systemische Inklusions- und Exklusionsvorgänge. Ob ein Text zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in einen Kanon aufgenommen werde, entscheiden laut Herrmann erstens soziale Bedingungen, zweitens die Fähigkeit von Texten, auf diese Bedingungen zu reagieren, und drittens die motivische, formale und vor allem semantische Anschlussfähigkeit von Texten an den semantischen Code des bestehenden Kanons. In der Diskussion zu Herrmanns sowie zu Berlemanns Beitrag blieb jedoch offen, welcher inhaltliche Mehrwert in der systemtheoretischen Beschreibung von Kanonphänomenen gegenüber bestehenden Kanonmodellen liegt.

Benjamin Specht (Stuttgart) entwickelte in seinem Vortrag »Polyvalenz – Autonomieästhetik – Kanon« am Beispiel von Goethes Gedicht Gingo Biloba die These, dass sich in der Goethezeit Polyvalenz als ästhetischer Wert und entscheidende Bedingung der Kanonisierung herausbildete. Anhand der sozialen Rahmenbedingungen, nämlich der autonomieästhetischen Zurückweisung zweckrationaler Rezeptionshaltungen, lasse sich für das historische Beispiel der Goethezeit die erfolgreiche Tradierung von Goethes mehrdeutigem und gleichzeitig Mehrdeutigkeit reflektierendem Gedicht erklären. Im Hinblick auf beide Vorträge ist jedoch kritisch anzumerken, dass die abstrakten Begriffe »Anschlussfähigkeit« und »Polyvalenz« terminologisch geschärft und textanalytisch konkreter gefasst werden müssen.

Eine dritte Gruppe innerhalb der ersten Sektion bildeten Vorträge, die anhand von Fallstudien auf die Individualität einzelner Kanonphänomene aufmerksam machten und damit die Möglichkeit der Entwicklung eines universal anwendbaren Beschreibungsmodells von Kanonisierungsprozessen problematisierten. Rainer Grübel und Natalia Zhivolupova setzten sich in ihren Beiträgen mit radikalen politisch motivierten Umbrüchen des russischen Kanons im 20. Jahrhundert auseinander und wiesen damit auf die interkulturellen Unterschiede von Kanonbildungsprozessen hin.

Anhand der grundlegenden Differenz von Leselisten der Jahre 1984 und 2010 verdeutlichte Rainer Grübel (Oldenburg) in seinem Vortrag »Kanon, kulturelles Bewusstsein und kulturelles Gedächtnis«, dass sich Konzepte wie etwa das der längerfristigen Tradierung auf den gegenwärtigen russischen Kanon nur bedingt anwenden lassen. Grübel grenzte die monokanonisch geprägte, Gegenkanones als subversiv bekämpfende Sowjetunion von polykanonischen Kulturen wie Frankreich und Deutschland ab und stellte heraus, wie fundamental sich das Kanonverständnis der jüngeren russischen Generation von dem des Sozialismus unterscheidet.

Natalia Zhivolupova (Nischni Nowgorod) beschrieb in ihrem Vortrag »The Sacred and Profane Love for Lenin« am Beispiel von Waldimir Majakowskis Werk die Tragweite der politischen Umbruchsituationen im 20. Jahrhundert für Kanonisierung und Dekanonisierung. Im historischen Verlauf blieb die positive Wertung und Tradierung von Majakowskis Werk zwar relativ stabil, diese Wertung wurde jedoch auf unterschiedliche kulturelle Paradigmen gegründet: Während Majakowski zunächst als Futurist tradiert wurde, funktionalisierte ihn die sowjetische Kultur klar als sowjetischen Dichter. Später verschwand der Name Majakowski in Folge dieser kulturpolitischen Funktionalisierung zunächst von den Leselisten, um anschließend erneut unter dem Label des Futurismus literarisch rehabilitiert zu werden.

Einen ähnlichen Verlauf wechselnder Etikettierungen als Ausgangspunkt verschiedener Autorkanonisierungen zeichnete Harro Segeberg (Hamburg) in seinem Beitrag »Von Kanon zu Kanon« am Beispiel des Autors Ernst Jünger nach. Insbesondere angesichts der starken politischen Überzeugungen, die Jüngers Werk prägt, überrascht es, dass Jüngers Werk kanonisiert und dabei vom Autor Jünger z.T. widersprüchliche Bilder tradiert wurden. Jünger wurde entsprechend den jeweiligen Zeitumständen u.a. als militärischer Fachautor des Ersten Weltkriegs, als nationalrevolutionärer Autor, dem der Nationalsozialismus nicht radikal genug war, sowie als Kritiker des Nationalsozialismus verstanden. Anhand von Jüngers Kriegstagebuch In Stahlgewittern zeigte Segeberg, dass diese radikalen Umdeutungen auf eine in Jüngers Werk erzeugte Überparteilichkeit zurückzuführen seien. Diese Überparteilichkeit werde im Werk nicht nur dezidiert geäußert, sondern resultiere vor Allem auch aus einem Schreibprinzip des »Writing and Rewriting« (John King), das eigentlich im Widerspruch zu konventionellen Vorstellungen kanonischer Werktradierung steht.

Sektion II:  Kanon in Institutionen

Die von Matthias Beilein einführend formulierten Fragestellungen der zweiten Sektion waren, welchen Stellenwert Kanones gegenwärtig für unterschiedliche Institutionen haben, welche Funktion diesen Institutionen in Kanonisierungsprozessen zukommt und wie sich Wandlungen institutioneller Wertmaßstäbe im Zusammenhang mit technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen beschreiben lassen. Der hierbei zugrunde gelegte Institutionsbegriff lenkt den Blick auf handelnde Gruppen im Gegensatz zu individuellen Akteuren und umfasst sowohl privatwirtschaftliche als auch öffentliche Einrichtungen der Literaturvermittlung.

Unter dieser Vorgabe konzentrierten sich die meisten Beiträge auf den Aspekt, inwiefern verschiedene Institutionen als Kanonisierungsfaktoren wirken. Mit ihrem Vortrag »Edition als Kanonisierungsfaktor? Ein analytischer Beitrag zur Debatte um die ‚Macht der Philologie‘« versuchten Annika Rockenberger (Berlin) und Per Röcken (Marburg), die im Vortragstitel aufgeworfene Frage systematisch zu reformulieren und somit einer empirischen Untersuchung zugänglich zu machen. Ihrer Auffassung nach ist hierzu ein funktionalistisch-intentionalistisches Modell, das Kanonbildung als Ergebnis Interesse geleiteter Handlungen literaturvermittelnder Akteure auffasst, wegen seiner groben Vereinfachung ungeeignet. Demgegenüber sei der pluralistische Ansatz, den Literaturkanon als ein Phänomen der »invisible hand« (Simone Winko), also als Prozess nichtintendierter Aggregation einzelner Wertungshandlungen auf der Mikroebene aufzufassen, zwar eindeutig vorzuziehen, habe allerdings den Nachteil, keine qualitativen Unterschiede treffen zu können. Rockenberger und Röcken schlugen deshalb vor, auf einer Mesoebene verschiedene Typen kanonrelevanter Akteure und Handlungen auch im Hinblick auf ihr hierarchisches Verhältnis untereinander zu beschreiben und ein Instrumentarium zur Bestimmung von deren jeweiliger Wirksamkeit zu entwickeln, wofür sich das Kriterium der Menge an generierten kommunikativen Anschlusshandlungen anbiete. Für die kanontheoretische Modellbildung ist dies als ein hochinteressanter Beitrag anzusehen, der allerdings dringend einer empirischen Erprobung – beispielsweise auf dem Feld der Editionspraxis – bedarf.

Um den Staat als kanonbildende Institution ging es in dem Vortrag »Kanon, Koffer, Kunstbericht. Staatliche Literaturförderung und Kanonbildung am Beispiel Österreichs« von Doris Moser (Klagenfurt). Mit Österreichs dezidiert europafreundlich konzipiertem Auftritt als Gastland der Frankfurter Buchmesse von 1995 sowie dem aus Anlass des 60. Geburtstags der Zweiten Republik initiierten, eindeutig am nationalliterarischen Paradigma orientierten »Austrokoffer«-Projekt beschrieb Moser zwei letztlich am Widerstand der Autoren gescheiterte Beispiele für kulturpolitisch motivierte »Kanontexte« (Achim Hölter). Demgegenüber ziele die staatliche Literaturförderung nicht auf die Vorgabe homogener Frames, sondern die Schaffung eines Kommunikationsraums für multiple Sinnangebote als Basis künftiger Kanonbildungsprozesse. Der Beitrag bot einen ebenso anschaulichen wie materialreichen Einblick in die österreichische Literaturpolitik, ließ dabei allerdings die Frage offen, welche Faktoren den Kanon als möglichen Gegenstand politischer Zugriffe überhaupt entstehen lassen.

Mit ihrem Vortrag zur Frage »Worin liegt das Erfolgsrezept der Reihe um den Privatdetektiv Pepe Cavalho? Analyse am Beispiel von Los mares del Sur von Manuel Vásquez Montalbán« näherte sich Imke Borchers (Hamburg) den Prozessen im literarischen Feld Spaniens kurz nach dem Ende der Franco-Diktatur an. Borchers zeigte, dass die Positionierung der populären, zugleich als Gesellschaftschronik lesbaren Krimireihe durch den Autor Montalbán und seinen Verlag Planeta den Bedürfnissen eines liberalisierten und expandierenden Literaturbetriebs gezielt entgegen kam. Die durchschlagende Wirkung dieser Strategie dürfte angesichts der in der Praxis geradezu notorischen Unwägbarkeit des Marktes jedoch schwieriger zu erklären sein. Nach wie vor mangelt es der Literaturwissenschaft an geeigneten Kategorien zur Erforschung literarischen Erfolgs.

Einen erst vor relativ kurzer Zeit entstandenen Institutionstyp behandelte Anja Johannsen (Paderborn) in ihrem Beitrag »‚Refugien innovationsresistenter Minderheitenprogramme‘? Zur problematischen Funktion von Literaturhäusern in Kanonisierungsprozessen«. Die Programme der Literaturhäuser unterliegen nach Johannsen zwar prinzipiell der autonomen Gestaltung durch die Programmleiter, folgten in der Praxis aber häufig den Vorschlägen der Verlage und liefen damit Gefahr, zu einem Marketinginstrument für publikumswirksame Neuerscheinungen zu werden. Was diese Selektionsprinzipien für die literarische Kanonbildung bedeuten, blieb aufgrund des etwas unscharfen Kanonbegriffs indes fraglich.

Eine andere Perspektive auf das Verhältnis zwischen Kanon und Institutionen nahm Anja Heumann (Hamburg) in ihrem Vortrag »Spiel und Anspielung. Der literarische Kanon in journalistischen Texten« ein. Indem sie journalistische Texte der 1990er und 2000er Jahre, die außerhalb des Feuilletons erschienen sind, auf die Verwendung literarischer Anspielungen und Zitate untersuchte, versuchte sie, entgegen verbreiteter Annahmen den nach wie vor hohen Stellenwert eines bildungsbürgerlichen Kanons nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Bedingung von Wertungen nachzuweisen.

In zwei anderen Beiträgen blieb der Bezug zum Sektionsthema hingegen etwas unklar. In seinem Vortrag über »Werkkonflikte und Wertungsmaßstäbe am Beispiel von Michael Köhlmeiers Roman Abendland« demonstrierte Christoph König (Osnabrück) seine Auffassung, dass Konflikte – beispielsweise der zwischen dem Erzählen als die dem Menschen einzig angemessene Form der Darstellung und der praktischen Unvermeidbarkeit resümierender Abstraktion – den konstitutiven Kern »großer« literarischer Werke bildeten. Das entscheidende Wertungskriterium einer kritischen Hermeneutik (Jean Bollack) liege in der Antwort auf die Frage, ob ein Werk bei der Gestaltung solcher allgemeinen Konflikte das Einzelne notwendig und im Zwang erfasse, wohingegen die Literaturkritik schon aus Zeitmangel dazu neige, Konflikte einseitig in die eine oder andere Richtung aufzulösen.

Günter Scholdt (Saarbrücken), der zum Thema »Innere Emigration und literarische Wertung« sprach, kritisierte die literaturwissenschaftliche Exklusion einer großen Gruppe von Autoren aufgrund politischer und moralischer Verurteilungen. Leider verstellte die bewusst kämpferische Polemik des Beitrags den Blick auf die institutionellen und sozialgeschichtlichen Ursachen dieser Dekanonisierung, und auch die »genuin ästhetische Perspektive«, unter der die entsprechenden Werke nach Scholdts Auffassung durchaus einen Platz im literaturwissenschaftlichen Kanon beanspruchen könnten, wurde nicht konkretisiert.

Der Vortrag über »Die Veränderungen literarischer Kanones durch Books on Demand« von Wolfram Göbel (München) leitete schließlich unmittelbar zu den Themen von Sektion III über. Durch die digitale Drucktechnik, so Göbels zentrale These, verlieren die traditionellen Instanzen der Kanonbildung ihre Alleinstellung. Die Publikumsverlage gewährleisteten nicht länger eine effektive Selektion, da jeder Autor selbst ohne großen Aufwand zu seinem eigenen Verleger werden könne, und an die Stelle der Beratung durch die Buchhändler träten private Kaufempfehlungen im Internet. Diese Entwicklungen böten durchaus Chancen für wissenschaftliche und literarische Publikationen mit geringen Absatzchancen, aber ihre längerfristigen Auswirkungen auf die literarische Kanonbildung seien freilich nicht vorherzusehen.

Sektion III: Markt, Medien und Communities

Unter der Prämisse, dass sich die sozialen, ökonomischen und medialen Faktoren, die auf den Prozess der Aufmerksamkeitsverteilung für Literatur einwirken, verändert haben, wurde in der dritten Sektion den daraus resultierenden Wertungsroutinen nachgegangen. In der Einführung in die Sektion formulierte Claudia Stockinger in Anschluss an Gerhard Schulzes Entwurf der »Erlebnisgesellschaft« die These, dass Literatur ihren eigenen Wert erzeugen müsse, indem sie auf die Steigerung ihrer Erlebnisqualität setze. Wie wirkt sich dies jedoch auf das Marktverhalten der Autoren, der Verlage und nicht zuletzt auch der Rezipienten aus? Welche Konsequenzen hat die Ausrichtung auf pluralisierte Nutzungskontexte und diversifizierte Adressatengruppen für die Ästhetik literarischer Texte?

Bezüglich der veränderten Rahmenbedingungen warf Stockinger außerdem die Frage auf, welche Auswirkungen gerade die neuen technischen Entwicklungen auf die Zukunft des Buches sowie die Produktion, Vermittlung und Rezeption von Literatur haben. Damit sind Veränderungen, die die materielle Gestalt des literarischen Textes (Digitalisierungsprojekte, E-Books) und die damit einhergehenden sich verändernden Lesegewohnheiten betreffen ebenso angesprochen wie die sich ausbildenden neuen Kommunikationsformen über Literatur im Internet (Bewertungssysteme der Internetgroßhändler, Blogs, Foren, Social Networks).

Im direkten Anschluss an die in der Sektionseinführung aufgeworfene Frage nach neuen Wertungsroutinen im Internet ging Thomas Wegmann (Berlin) in seinem Vortrag mit dem Titel »Digitale Epiphanien« der Frage nach, inwiefern sich Literaturkritik im Web 2.0 von der traditionellen Literaturkritik des Hochfeuilletons unterscheide. »Web 2.0« bezeichne nicht nur die Einführung neuer Techniken, sondern auch einen fundamentalen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung und Nutzung des Webs, wo Produktion, Publikation und Rezeption synchron verlaufen. Genauer nahm Wegmann den Internethändler Amazon als einen »virtuellen Fachverkäufer« in den Blick und stellte die dort existenten Formen der Literaturbewertung vor. Er warf die Frage auf, ob sich diese dort manifesten Bewertungen überhaupt noch unter dem Terminus Literaturkritik subsumieren lassen oder ob man es nicht viel eher mit einer gänzlich neuen Bewertungskultur zu tun habe.

Diese neue Bewertungskultur sei vor allem durch den Wechsel vom »Wie« zum »Was« gekennzeichnet: Es werde nicht mehr diskursiv dargelegt, wie ein bestimmter Text funktioniert, sondern nur noch erwähnt, ob er gefallen und welchen Eindruck er hinterlassen hat. Damit sei Literaturkritik im Web 2.0 nicht mehr die »Vollendung des Werks« (Walter Benjamin), sondern sie werde durch Bedürfnisse des Lesers/Users geprägt, sich selbst darzustellen. Wegmann selbst schickte seinem Vortrag vorweg, dieser sei theoretisch unterkomplex. Um die formulierten Thesen zu sichern, hätte es zumindest einer exemplarischen und vor allem methodisch angeleiteten Analyse der Wertungshandlungen bedurft.

Auch der Beitrag von Stephan Porombka (Hildesheim) diskutierte, inwiefern neue Kommunikationsmöglichkeiten im Internet die Wertungsroutinen von Literatur verändern. Unter dem Titel »Books & Faces« beschäftigte sich Porombka mit Literaturkritik innerhalb des Social Networks Facebook. Unter den Bedingungen des Web 2.0 werde Literaturkritik epidemisch: Jeder könne nun Literaturkritiker sein, was ein zunehmendes Verschwinden der traditionellen Literaturkritik zugunsten einer kleinteiligen, kürzeren und prägnanteren Kritikkultur zur Folge habe. Das Forum Facebook sei ein Ort der »Halböffentlichkeit«. Seine Nutzer stünden durch »weak ties« (Mark Granovetter), d.h. in nicht zu schwachen und nicht zu starken Beziehungen miteinander in Verbindung. Die Funktionsweise von Facebook als »Stimulationsnetzwerk«, wo jeder das, was ihn gerade selbst stimuliert, anderen zu deren Stimulation verfügbar macht, bestimmt wesentlich die Formen der dort zirkulierenden Literaturkritik. Dies verleiht ihr aber auch einen äußerst kurzlebigen, kaum nachhaltig wirkenden Charakter.

Aus den individuellen Freiheiten, die Facebook dem Einzelnen lässt, resultiert, dass es die eine Art, sich mit Literaturkritik zu beschäftigen, dort nicht gibt. Stattdessen gebe es viele netzwerkgebundene Literaturkritiken. Porombka schloss seinen Vortrag mit einigen generellen Bemerkungen über die Perspektive des Literaturwissenschaftlers: Die literaturkritischen Texte dürften nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssten innerhalb ihrer Nutzungskontexte gesehen werden – Literaturkritikanalyse müsse Netzwerkanalyse sein. Konkretisierende Vorschläge zur forschungspraktischen Umsetzung dieser Forderung blieben jedoch leider aus.

Thomas Ernst (Luxembourg) zeigte in seinen Vortrag »Wer hat Angst vor Goethes Pagerank«, inwiefern die digitale Welt des Internets mit ihrem spezifischen Aufmerksamkeitsmanagement eine Demokratisierung der Literaturbewertung und daran anschließend eine Ausdifferenzierung einzelner, auf bestimmte Leseszenen bezogenen Kanones bewirkt. Im Mittelpunkt standen Wertungshandlungen durch Google Pagerank und in Blogs, dort zum Beispiel durch sogenannte Blogstipendien.

Der Vortrag mit dem Titel »Für alle meine Freundinnen« von Steffen Martus (Kiel) ist als ein Plädoyer dafür zu verstehen, Literatur und die Wertung von Literatur innerhalb des multimedialen Zusammenhangs zu betrachten, in den diese eingebettet sind und auf den sie reagieren. Am Beispiel des populären Sachbuchs Moppel-Ich von Susanne Fröhlich illustrierte Martus das als symptomatisch eingestufte positive Verhältnis der Autorin zur Ökonomisierung der Kultur, das sich beispielsweise am Bestsellermarketing (»Ich bin eine Bestsellerautorin«) als sich selbst verstärkender Erfolgsfaktor ablesen lässt. Ebenfalls als typisch für die »neue Literatur für Frauen« stufte Martus den »hybriden Gattungszusammenhang« von fiktionalen und faktualen Gattungen ein, wie ihn das Sachbuch Moppel-Ich durch die Mischung von fiktiven und faktischen Textsorten bereits in sich trägt, und der sich innerhalb der multimedialen Paratexte fortsetzt. Wie diese neuen multimedialen Wertungsroutinen systematisch beschrieben werden können, blieb offen.

Fotis Jannidis’ (Würzburg) Vortrag über die »Kanonisierung von Computerspielen« hätte besser den Titel »Die Wertung von Computerspielen« verdient, denn Jannidis schickte seinen Ausführungen voraus, dass dieses populäre digitale Medium eigenen Wertungskriterien unterliege und man deshalb in diesem Bereich nicht sicher von der Existenz eines Kanons oder gar mehrerer Kanones ausgehen könne. Dementsprechend vorsichtig blieben seine Thesen darüber, welche Wertungen als Kanonindikatoren zu gelten haben. Der erste Teil des Vortrags beschrieb, in welchen Punkten sich Computerspiele von Literatur unterscheiden.

Der zweite Teil des Vortrags stellte die verschiedenen Wertungsinstanzen im Bereich des Computerspiels vor. Hier hob Jannidis besonders die Tatsache hervor, dass innerhalb der Computerspielwertung eine Offenlegung der Bewertungsmaßstäbe dominiert. Auf Skalen werden Faktoren wie etwa »Gameplay«, »Grafik« und »Bedienung« gemessen und daraus eine Gesamtsumme errechnet. Interessant wäre es gewesen, ausgehend von Jannidis’ Beschreibung der Besonderheiten des Mediums Computerspiel und der in diesem Bereich existenten Wertungsinstanzen zu thematisieren, warum Wertungen von Computerspielen eine andere Oberflächenstruktur besitzen, als das beispielsweise bei Literatur der Fall ist.

Inwiefern »intrinsisch motivierte« Paratexte vom Autor kalkuliert dazu eingesetzt werden, die von ihm produzierte Literatur besser, das heißt aufmerksamkeitswirksamer, im Markt zu platzieren, illustrierte der Vortrag »Extrinsisch oder was?« von David-Christopher Assmann (Bonn/Florenz) am Beispiel der Romane Erinnerungen an meinen Porsche von Bodo Kirchhoff und Sanssouci von Andreas Maier. Assmann unterschied zwischen »Paratexten durch Legenden« und »Paratexten durch Gerücht«. Interessant an den Beobachtungen ist vor allem, wie Autoren als Beobachter des Literaturbetriebs auf diesen reagieren und durch verschiedene verbale und nicht-verbale Handlungen kommentieren. Ob es sich dabei freilich um »neue« Wertungsroutinen handelt, oder ob eine diachrone Untersuchung Derartiges nicht auch schon erheblich eher nachweisen könnte, bleibt offen. Es wäre für die Fragestellung der Sektion ertragreich gewesen, stärker herauszuarbeiten, wie nun explizit die neuen, sich herausbildenden Kommunikationsformen über Literatur im Internet die Ausbildung dieser ästhetisch zu lesenden Paratexte befördern und beeinflussen.

Fazit

Die dreitägige Tagung überzeugte vor allem durch eine konstruktive Diskussionskultur, die angesichts ihres breiten inhaltlichen Spektrums und Untersuchungszeitraums positiv überraschte. So wurde beispielsweise über Goethes Gedicht Gingo biloba ebenso lebhaft diskutiert wie über Literatur als Mittel der Identitätskonstruktion in der Internet-Community Facebook. Als inhaltliches Fazit der Tagung können verschiedene systematische Ergebnisse hervorgehoben werden:

Bei der Diskussion über gegenwärtige Wandlungsprozesse der Literaturvermittlung im Kontext der Digitalisierung wurde z.B. die Notwendigkeit einer nicht prognostischen, sondern rein deskriptiven wissenschaftlichen Perspektive deutlich, die gegenüber Krisen-Rhetorik und Medien-Enthusiasmus gleichermaßen Distanz bewahrt. Weiterhin ordneten mehrere Beiträge die Wertungs- und Vermittlungsforschung in die literaturwissenschaftliche Forschungslandschaft ein und verdeutlichten dabei, dass die Untersuchung von Wertungsphänomenen keinen isolierten Bereich der Literaturwissenschaft darstellt, sondern sich in ihrer Analyse klassisch literaturwissenschaftliche Methoden und z.B. soziologische Zugänge verbinden. Damit werden auch literaturtheoretische Grundfragen in wertungsanalytischen Untersuchungen wieder relevant. Wenn man z.B. nach der Bedeutung von Textmerkmalen für Wertungsprozesse fragt, muss immer mitberücksichtigt werden, dass Textwertungen Selektionen von Textmerkmalen und Interpretationen vorgeschaltet sind und hierdurch auch Fragen der Bedeutungsgenerierung und Bedeutungszuschreibung aufgeworfen werden. Im Rahmen der Tagung wurden daher neben medientheoretischen, klassisch hermeneutischen und feldtheoretischen u.a. auch kognitionspsychologische und evolutionsbiologische Ansätze diskutiert.

In den Tagungsdiskussionen wurden jedoch an vielen Stellen noch zu erledigende »Hausaufgaben« der Wertungs- und Kanonforschung formuliert. So wurde z.B. darauf hingewiesen, dass die einzelnen Beiträgen zugrunde gelegten Kanonbegriffe zu schärfen seien und außerdem immer transparent gemacht werden müsse, von welchem Kanon hinsichtlich Bezugsgruppe und historischem Kontext gerade gesprochen werde. Außerdem wurde wiederholt herausgestellt, wie wichtig es wäre, die wertungsanalytischen Ergebnisse durch repräsentative empirische Studien zu validieren, auch wenn eine solche Fundierung aus pragmatischen Gründen auch in den meisten Beiträgen ausblieb. Die Forderung nach empirisch breit angelegten Studien, die auch in der Forschung seit Jahren formuliert wird, sollte in den nächsten Jahren endlich umgesetzt werden.

Ein klarer Dissens zwischen den Teilnehmern bestand im Hinblick auf die historische Reichweite des Kanonbegriffs. Während manche ihn für ein Konzept der Vergangenheit halten, dessen Anwendung auf die digitalisierte Gegenwart der Literaturvermittlung einen unangemessenen Anachronismus darstellt, gehen andere davon aus, dass sich in Zukunft neuartige, plurale und medienspezifische Formen der Selektion und Kanonisierung herausbilden werden. So bleibt die Frage, ob »Kanon gestern war« oder »Kanon immer ist«, ein offenes Problem literaturwissenschaftlicher Forschung.

Ein Sammelband mit zentralen Vorträgen der Tagung ist in Planung.



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 Veröffentlicht am 9. April 2010
 Kategorie: Wissenschaft
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