Thomas Melles Roman 3000 Euro erfasst die Außenseiter des Sozialstaates, die an ihm zugrunde gehen und dennoch weiter leben müssen. Rüdiger Brandis bespricht den Shortlist-Kandidaten, indem er die Lebenswelt der Protagonisten hautnah an sich heranlässt.
Von Rüdiger Brandis
15 Uhr, Berlin Charlottenburg. Ich besuche eine Freundin aus Chile übers Wochenende. Ich steige aus dem Fernbus und muss blinzeln. Das Licht der Wintersonne ist grell und ich fühle mich benommen. Auf dem Weg zur U-Bahn werde ich um eine Spende gebeten. Ein Mann hat seit Tagen nichts gegessen, sein Blick geht fahrig ins Leere, während er seine Hand ausstreckt. Unten am Gleis redet eine Frau lautstark mit einer massiven Betonsäule. Sie folgt mir in die Bahn und steigt wie ich in Mitte wieder mit aus. Meine Freundin holt mich ab. Kurz beobachtet sie die noch immer vor sich hin redende Frau und sagt dann den entscheidenden Satz: In Chile sind die Menschen arm und wohnen in Slums, aber nur hier werden die Bettler verrückt.
Thomas Melle muss eine ähnliche Beobachtung gemacht haben. In 3000 Euro erzählt er die Geschichten zweier sozial Ausgegrenzter, Randfiguren des deutschen Sozialstaates, die sich vielleicht nichts mehr wünschen als endlich aus dem Raster zu fallen und vom System überfahren zu werden, aber doch weiter mitgeschleift werden: Denise und Anton.
Anton sieht sich als Arbeiterkind mit dem gewünschten Aufstieg: Gut in der Schule, Abitur und Grundstudium in Jura blendend absolviert, aber dann ging es nicht mehr weiter. Irgendwie lief das Studium nicht mehr. Der Alkohol war vorher schon zur Gewohnheit geworden und nach und nach verlor Anton die Kontrolle über sein Leben. Erst verließ ihn seine Freundin, der Verlust von Studienplatz und schließlich Nebenjob, Geld und Wohnung folgten. Nun kämpft er um den letzten Rest seiner Würde. 3000 Euro ist sie wert, wegen denen ihn die Deutsche Bank nun vor Gericht zerrt. Erst jetzt treffen wir ihn als Leser. Als umherstreunenden Obdachlosen, dessen letzte Verbindung zum Rest der Welt nur diese 3000 Euro sind. Thomas Melle offenbart uns diese Ausgangssituation seiner beiden Protagonisten erst nach und nach, während er seine Erzählung ganz auf den Alltag von Denise und Anton fokussiert. Das traurige Dasein zweier sozialer Gescheiterter steht klar im Mittelpunkt: Denise, alleine zu Hause, am Computer in Chaträumen mit irgendwelchen Männern. Denise, alleine im Supermarkt, hilflos den Blicken der Männer ausgesetzt, die sie im Internet gesehen haben könnten. Anton, alleine auf der Straße, er denkt über das Sterben, seinen möglichen Selbstmord, nach. Anton, im Wohnzimmer alter Freunde, in deren Augen und Worten er mehr und mehr zum Objekt wird.
Grausame MonotonieAll diese Momente fügen sich in 3000 Euro zu einem schamlos gezeichneten Porträt zweier Randexistenzen der deutschen Gesellschaft zusammen. Dabei sticht vor allem die Atmosphäre der Ausweglosigkeit hervor, die durch Tristesse der Tagesabläufe von Denise und Anton erzeugt wird. Melle entwickelt so zwei Figuren, deren Handlungsmöglichkeiten durch ihre Lebensumstände so stark eingeschränkt wurden, dass ihnen nur noch das Grübeln, eine zwanghafte Beschäftigung mit sich selbst, geblieben ist. Denise ist gefangen zwischen ihren Arbeitszeiten und der Zeit als alleinerziehende Mutter, zusätzlich erschwert durch Lindas Probleme. Im Gegensatz dazu wirken Antons Tage wie verschwendet. Seine Freiheit wird durch die anstehende Gerichtsverhandlung mit der Deutschen Bank, den vielen Mahnungsschreiben und dem Schamgefühl und der Fassungslosigkeit, wie er jemals an diesen Punkt gelangen konnte, beschnitten. Seine daraus resultierende Hoffnungslosigkeit erweckt den Eindruck, dass Anton sich längst seinem Schicksal ergeben hat.
»Anton ist eigentlich schon Vergangenheit: So sah er sich in den letzten Wochen, so hatte er sich innerlich längst zu den Akten gelegt. Ein Untoter streift durch die Stadt.«
Diese hoffnungslose Monotonie wirkt besonders zu Beginn des Buches schwer. Die Inhalte von Antons Monologen und Reflexionen wiederholen sich und das beschworene Gefühl des Stillstands funktioniert etwas zu gut, da es den Lesefluss zum Teil ausbremst. Sehr schön wird jedoch der Kontrast zwischen Antons und Denises Gedankenwelt deutlich, indem Melle Anton immer wieder in gesellschaftliche Betrachtungen abrutschen lässt, wobei Denise, inspiriert durch Film und Fernsehen, von alternativen Geschichten ihres Lebens träumt. Auf diese Weise bekommt man als Leser eine sehr intime Sicht auf Anton und Denise geboten.
Nur einige kurze Abschnitte brechen die ansonsten atmosphärische Dichte von 3000 Euro. So wirken die Beschreibungen von Antons Begegnungen mit anderen Obdachlosen zum Teil konstruiert und erinnern an populäre Filmbilder. Gleiches gilt für Denises Verhandlungen mit einem Pornoproduzenten, die schließlich darin enden, dass Denise sich für einen zweiten Dreh zur Verfügung stellt. Teile dieses Abschnittes wirken wie aus einem billigen Porno entnommen. Dieses Bild fügt sich zwar logisch in die Erzählung ein, seine Umsetzung bricht die eigentlich verstörende Szene jedoch durch komische Elemente auf.
»Dann greift sie nach hinten und beginnt, im Schritt des Darstellers herumzureiben. Sie weiß noch nicht, ob sie ihm den Penis abbeißen oder blasen wird. Doch, sie weiß es. Mit der anderen, noch freien Hand nimmt sie das Geld entgegen und riecht daran.«
Lediglich Denises verstörende Gedanken retten die Szene von einem gänzlich comichaften Einbruch des Erzählstils. Abgesehen von diesen kleinen atmosphärischen Brüchen zeichnet Melle aber ein nachvollziehbares Bild zweier Existenzen, denen man in Deutschland tagtäglich begegnet. Der Obdachlose und die alleinerziehende Mutter sind dominante Zeichen unserer Zeit, die die düsteren Seiten des deutschen Sozialsystems verkörpern, über die viel geredet wird, aber die dennoch gerne übersehen werden. Melle hat auf diese Weise mit Anton und Denise Prototypen geschaffen. Er sagt: Das wird aus uns, wenn wir uns nicht ganz so verhalten, wie es die zahlreichen Regeln von uns verlangen. Selbst wenn du es schaffst, die Regeln des Regelbruches zu befolgen, richtig dazugehören wirst du nie wieder.
Wirkungsmacht der Alltäglichkeit»Er [Anton] hat sich völlig verloren, und es ist nicht mehr rückgängig zu machen. Sollten die Schulden durch ein Wunder irgendwann abbezahlt sein, so wird das sein Ich noch lange nicht betreffen. Es bleibt unten, kaputt und zerschossen. Was kann da noch kommen?«. Diese Vorstellung ist es, die Anton und Denise immer weiter von der bürgerlichen Norm der Gesellschaft ausgrenzt und ihren Verstand langsam schwinden lässt. Dabei wird jedoch niemandem die Schuld zugewiesen. In 3000 Euro ist niemand und jeder verantwortlich. Das Ergebnis ist ein wahrlich deprimierendes Bild der Abgründe unserer Gesellschaft.
Ich bin das ganze Wochenende in Berlin. Nach einem Konzert am Samstagabend gehen wir feiern, nichts Besonderes: ein paar Bars, dann in eine Disko. 70 Euro später ist mein letztes Geld für diesen Monat ausgegeben. Noch anderthalb Wochen, bis ich wieder Gehalt bekomme. Während ich am Sonntagnachmittag in Charlottenburg auf meinen Bus warte, überlege ich, wie ich die restlichen Tage überbrücken werde. Ich schaue einem Mann dabei zu, wie er zwei Flaschen aus dem Mülleimer neben mir fischt. Ich denke an Melle und an diesen Text und frage mich, was ich wohl als Anton oder Denise machen würde und weiß keine Antwort.