Der paradiesische Zustand auf Erden währt nie lange. Monika Lennartz erzählt im Deutschen Theater vom Erdbeben in Chili. Die Übernahme aus dem Maxim Gorki Theater in Berlin verwandelt Heinrich von Kleists Erzählung in einen Abend des Rückblicks – zunehmend eindringlich und am Ende auch beklemmend.
Von Simon Caspari
Auf der Bühne ein Teppich, ein Hocker und eine Truhe. Stille. Hinter einem weißen Vorhang die Umrisse des Pianisten Karim Said am Flügel. Dann betritt Monika Lennartz die Bühne und beginnt zu erzählen. Von einer Katastrophe. Von einer Naturgewalt, die das Leben von Menschen brutal dahinrafft, und von Menschen, die dasselbe tun.
Chili 1647Lennartz, in der Rolle einer namenlosen Erzählerin, berichtet in dem knapp 60-minütigen Einpersonenstück Das Erdbeben in Chili vom Hauslehrer Jeronimo, der sich in seine Schülerin Josephe verliebt. Josephe ist die Tochter eines Adeligen, weshalb die nicht standesgemäße Beziehung skandalisiert, und sie als Sünderin zum Tode verurteilt wird. Auch Jeronimo findet sich in einer Gefängniszelle wieder. Gleichzeitig bricht ein Erdbeben über die Stadt St. Jago herein. Jeronimo und Josephe können entfliehen und sich retten. Gemeinsam besuchen sie am nächsten Tag eine Messe, doch gerade der Naturkatastrophe entronnen, erwartet die junge Familie dort ihr Schicksal.
Ein stiller Augenblick: Monika Lennartz als Erzählerin
Medien der ErinnerungLennartz agiert als eine sich-Erinnernde, aber nicht als Figur aus der Erzählung, wie sie im Interview mit Philip Hagmann vom Deutschen Theater betont. Eher als jemand, der von der Geschichte um Josephe und Jeronimo gehört hat. Gleich zu Beginn öffnet sie die Truhe auf der linken Bühnenseite und wird sie nicht mehr schließen. In ihr befindet sich eine Sammlung an Gegenständen, welche die Erinnerungen an die Tragödie in sich tragen. Lennartz artikuliert diese Erinnerungen und agiert als Erzählerin und Kommentatorin zugleich.
Mithilfe der Requisiten, welche Lennartz im Verlauf des Stücks an verschiedenen Stellen auf der Bühne platziert, nimmt die Geschichte mehr und mehr Kontur an. Bereits beim Rezitieren der ersten Sätze führt sie die beiden Hauptfiguren durch gerahmte Porträts ein, welche sie in der Bühnenmitte aufstellt. Sie führen den Zuschauern vor Augen, wessen Schicksal an diesem Abend behandelt wird. Auch jener Ring, welcher Jeronimo nach dem Erdbeben an Josephe erinnert, gelangt wenig später an die Hand von Lennartz. Das paradiesische Tal, welches Kleist mit dem «Tal von Eden» gleichsetzt, entsteht auf der rechten Bühnenseite. Es wird repräsentiert durch einen weißen Sonnenschirm sowie ein kleines Holzpferd. Würden diese Requisiten ohne Textzusammenhang betrachtet werden, so dächte man wohl an einen sonntäglichen Ausflug ins Grüne: Das elysische Tal als locus amoenus.
Der Monolog wird durch Musikpassagen des Pianisten Said unterteilt. Die gezielt gesetzten musikalischen Einwürfe des Musikers geben dem Publikum Zeit, das Erzählte zu rekapitulieren: Sie bieten allen im Raum eine Atempause inmitten des tragischen Bühnengeschehens, in der sich die Erzählerin selbst in die Position einer Zuhörerin begibt und lauschend schweigt. Der Zuschauerschaft zugewandt, jedoch in Richtung Saids blickend, scheint es so, als würde auch sie sich innerlich noch einmal mit dem vorangegangen Teil beschäftigen.
Wirkung und DeutungKleists Novelle spitzt sich während des Gottesdiensts in der Dominikanerkirche zu. Aus der angedachten Dank- und Bittmesse wird eine Hetze auf die Hauptfiguren, deren sündiges Verhalten für die Zerstörung der Stadt verantwortlich gewesen sein soll. In der sich innerhalb der Erzählung steigernden Virtuosität der Sprache ist es gerade jene Schlusskatastrophe, in welcher Lennartz‘ Gesten die meiste – die beste – Wirkung erzielen. Sie fällt das Urteil über die Verliebten: Lennartz imitiert den Keulenhieb durch einen Schlag mit der Handfläche auf ihren Oberschenkel – in einem lauten Knall wird die gemeinsame Zukunft augenblicklich ausgelöscht.
Monika Lennartz führt durch die Geschichte
Über den gesamten Abend und darüber hinaus lässt Lennartz ihre Zuschauer in der Deutungsposition. Eine feste Lesart fordert das Stück, welches 2001 gemeinsam von Lennartz und dem Schweizer Regisseur Erich Sidler, heute Intendant am Deutschen Theater, am Berliner Gorki Theater erarbeitet wurde, nicht. Das ist auch gut so! Die zeitlose literarische Vorlage lebt geradezu von ihren mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten, was sie zum Paradebeispiel der Diskursanalyse macht.
In der insgesamt puristisch gestalteten Inszenierung übernimmt Lennartz die Kleistsche Technik, auf nüchtern-sachliche Weise dramatische Zustände zu beschreiben, aus der Schriftlichkeit in die Mündlichkeit. Die langen, verschachtelten Sätze meistert sie, dennoch könnten Nichtkenner der Novelle Schwierigkeiten haben, der Geschichte zu folgen. Die Befürchtung einer drohenden Langatmigkeit, welche sich in Einpersonenstücken zeitweilig einstellen will, zerstreut sich aufgrund untermalender Gestik sowie der zunehmenden Konturgewinnung der Geschichte aufgrund der Requisiten. Der nicht nur auf emotionaler Ebene stärkste Moment des Stücks ist die Ermordung Josephes und Jeronimos. Spätestens jetzt evoziert Lennartz eine Anteilnahme der Zuschauerschaft am Schicksal der Hauptfiguren – trotz des Abstands ihrer Rolle zum Geschehen.
Nach dem letzten rezitierten Satz wird die Bühne dunkel. Ein letztes Mal stimmt Said melancholische Töne an: ein runder Abschluss des Stücks. Ob man mit den Protagonisten mitleidet, über religiösen Fanatismus und gesellschaftliche Solidarisierung sinniert oder alles simultan im Blick hat: Das Erdbeben in Chili regt auf verschiedenen Ebenen zum Nachdenken an.