Thoms’ Schreibcontainer konfrontierte seine Zuschauer mit dem Konsum von Waren und Werten inmitten des Göttinger Innenstadtpanoramas, dessen Erscheinungsbild sich zu verändern scheint. Er ließ Raum für Visionen von Lebens- und Stadtentwürfen, politische wie individuelle.
Von Julia Frese
Wer im Februar über den Johanniskirchplatz spaziert ist, hat ihn mit Sicherheit bemerkt: den knallroten Container mit der Aufschrift »Stadt in Zukunft«. Man kam nicht umhin, sich zu fragen, wer oder was sich in ihm verbarg. Handelte es sich um eine Neuauflage von Big Brother mitten im Herzen der Universitätsstadt? Nicht ganz. Antje Thoms, die zwei Wochen lang in der »mobilen Bühne« campierte, ging es nicht darum, sich selbst zur Schau zu stellen. Sie kam, um zu beobachten. Wie die Menschen um den Bühnenstandort über die Zukunft dachten, bewegte und erfragte sie.
Verarbeitet hat sie ihre Eindrücke in szenischen Texten, die die Atmosphäre der Göttinger Innenstadt einfangen sollten. Drei Schauspieler des Deutschen Theaters führten ihre Impressionen unter dem Titel Schreibcontainer II: Jenseits des Hamsterrads in der »mobilen Bühne« auf. Bereits im November hatte der »Schreibcontainer« für den ersten Teil des Projekts einige Wochen lang am Jonaplatz im Stadtteil Grone gestanden; im März hatten Interessierte die Gelegenheit, die dritte Folge in Bovenden mitzuerleben; und am 22., 24. und 24. April zeigt Regisseur Nico Dietrich den mobil bebühnten »Schreibcontainer IV« am JuzI.
Beim Betreten von Antje Thoms’ Waggon sah der Zuschauer zunächst nichts als Werbeprospekte: der Fußboden von Flyern übersät, die Wände mit ihnen tapeziert, die Sitzbänke eingekleidet in die neusten Sonderangebote beim Supermarkt um die Ecke. Thoms’ Innenstadt-Szenen griffen das Thema Konsum in satirischer, ja anklagender Weise auf: Um die Zukunft macht sich doch von euch sowieso niemand Gedanken, ihr jagt doch nur dem nächsten Kaufrausch nach, schien sie dem Publikum zurufen zu wollen. Dass der Appenzeller diese Woche nur 99 Cent kostet, ist alles, was euch interessiert. Die Darstellerin Sybille Weiser reichte eine Dose mit Keksen herum, ihr Kollege klimperte überdreht auf einem Keyboard herum. Nehmt euch doch! Macht es euch gemütlich! Wer möchte schon über ernste Themen nachdenken?!
Die Zuschauer folgten arglos dem Angebot(enen) und bekamen tatsächlich einige unterhaltsame Alltagsgeschichten geboten. Um den letzten Nachbarschaftsstreit ging’s da, in dem schon niemand mehr so recht weiß, wie er überhaupt angefangen hat: mit einer Mausefalle, einem Katzenfänger oder doch einem totgeschossenen Hund? Es folgte eine auf gar keinen Fall frustrierte Single-Frau, die nur deshalb drei Mal am Tag zum Essen in die Innenstadt fährt, weil sie das Abwaschen hasst, nicht etwa aus Einsamkeit. Kurz darauf wurde der Schauplatz des Geschehens in das Außerhalb des Containers verlagert. Durch das Fenster sah man einen einsamen Demonstranten mit leerem Transparent hineinspähen. Die beiden Schauspieler ließen sich erst vorurteilsbeladen über ihn aus, luden ihn dann jedoch scheinheilig zu Kaffee und Gebäck ein, als er den Container betrat.
Auf die geballte Ladung konsumkritischer Alltagsphilosophie sollte an jedem der drei Aufführungsabende eine Publikumsdiskussion mit einem Experten für die Göttinger Innenstadtplanung folgen. Am Premierenabend übernahm Kulturdezernentin Dagmar Schlapeit-Beck diese Rolle, an den zwei darauffolgenden Termine hatte das Deutsche Theater Karen Hoffmann aus dem Fachbereich Planung, Bauordnung und Vermessung der Stadt Göttingen, Göttingens Bürgermeister und den verkehrpolitischen Sprecher der Grünen Ulrich Holefleisch eingeladen. Krankheitsbedingt fiel der letzte Termin allerdings leider aus.
Dagmar Schlapeit-Beck nannte den Zuschauern im Anschluss an die Aufführung konkrete Beispiele für die zukünftige Gestaltung der Göttinger Innenstadt und sprach sich für mehr Kultur und Belebtheit im öffentlichen Raum aus. Die abnehmende Dichte an Einzelhändlern in der Fußgängerzone erklärte die Kulturdezernentin damit, dass es sich bei dieser Form von Einkaufskultur um »ein historisches Modell« handele. Die Zukunft des Einkaufens gehöre den Malls in den Außenbezirken.
Einen seltsam anmutenden Kontrast bildete dieses Aufeinanderfolgen von revolutionärem Idealismus und nüchterner politischer Realität. Immerhin erwachte das Publikum nun aus seiner Schockstarre. Den Vorwurf des kritiklosen Konsumentendaseins wollte es nämlich nicht wortlos hin- oder annehmen. Es schloss sich eine leidenschaftliche Diskussion gegen die Schließung von Programmkinos und die Eröffnung von Großketten an. Von blinder Kaufwut war in diesem Plädoyer jedenfalls keine Spur. Und deshalb konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Antje Thoms letztlich beim anwesenden Göttinger Innenstadt-Publikum offene Türen einrannte. Ihre Gesellschaftskritik war durchaus berechtigt, wäre aber möglicherweise an anderer Stelle wirkungsvoller gewesen.