Bei seinem Auftritt im Deutschen Theater verweigert Kracht wie immer jeden expliziten Kommentar zum Werk. Und doch kann er es nicht vermeiden, durch Textauswahl und Selbstdarstellung mehr zu sagen als gar nichts.
Von Adrian Bruhns
Christian Kracht hat im Rahmen des Literaturherbstes am Sonntag, den 23.10., im Deutschen Theater aus seinem Roman Die Toten gelesen. Auftritte des Autors sind selten geworden und es war sein erster Lesungsbesuch in Göttingen seit zehn Jahren. Trotzdem bedankte sich Kracht zu Beginn seiner Lesung artig, er freue sich, wieder hier zu sein. Außer diesem Eröffnungseinzeiler, einiger hustenbedingter »Pardons« und »Entschuldigungs« und dem abschließenden »Danke« war das alles, was Kracht außerhalb seiner Erzählerstimme sagte. Publikumsfragen wurden weder gestellt noch beantwortet. Kracht stellt damit jedoch performativ, ob beabsichtigt oder nicht, selbst die Frage: Lesungen, was soll das überhaupt? Welchen Mehrwert hat es, einen Text, der auch für sich stehen könnte, aus dem Mund des Autors zu hören? Im Falle dieser Kracht-Lesung, auch wenn der Text in keiner Weise kommentiert wurde, erfährt man doch einiges, was das selbständige Lesen ohne Kracht als Person nicht in gleicher Weise leistet.
Etwa zur semantischen Struktur des Textes: Krachts ganzes Werk bietet sich hervorragend für raumsemantische Interpretationen an. Seine fünf Romane (ganz abgesehen von seinen sonstigen Texten) thematisieren immer wieder die Sinnsuche im Reisen, wohl am explizitesten in seinem weiterhin unerreichten 1979, worin sich der Protagonist die instantane Erleuchtung durch Umwandern des heiligen Berges Kailash erhofft. Auch Die Toten ist ganz wesentlich durch Ortswechsel strukturiert, Protagonist Nägeli reist von der Schweiz über Deutschland nach Japan und zurück; dem Leser sei zu interpretieren überlassen, welche Bedeutungen der Text diesen Orten zuweist. Dieses für Krachts Werk zentrale Thema des Sinn- durch Ortswechsels unterstrich er in seiner Lesung subtil. Kracht stellte sich selbst als Reisenden dar, indem er nicht verweilte, nicht einmal Mantel und Schal ablegte; so betritt er die Bühne als sei er soeben angekommen und verlässt sie nach absolvierter Lesung sogleich. Beim Lesen sitzt er wie auf dem Sprung, nach vorne gelehnt, beide Füße fest auf dem Boden. Aber auch im gelesenen Inhalt betont er insbesondere die topographischen Beschreibungen im Text ̶ einzig diese begleitet er mit verdeutlichenden Gesten.
Erhellend sind insofern auch die rezeptionsästhetischen Aspekte einer solchen Lesung, die sich in der Zusammensetzung des Publikums ausdrücken. Kracht wurde mit vielen Labels besetzt, und es ist weder mit Blick auf die öffentliche Wahrnehmung noch auf sein Verhalten ganz klar, wer eigentlich sein Zielpublikum sein soll. Dementsprechend war das Publikum ungewöhnlich durchmischt. Wer regelmäßig an Göttinger Lesungen teilnimmt, weiß, dass die Besucher solcher Veranstaltungen ziemlich homogen sind. Es ist das Bildungsbürgertum mittelinks, abhängig vom jeweiligen Gast entweder der Generation 55+ oder 55-. Deutlich seltener bringt ein Gast wie Kirchhoff, Scheck oder Mosebach ein konservatives Publikum in die Veranstaltung. Bei Kracht waren alle, die Jungen und die Alten, links und rechts. Hingegen kaum anwesend war das Deutsche Seminar oberhalb des unterdurchschnittlich bezahlten niederen Mittelbaus. Wenn dort überhaupt jemand Interesse an zeitgenössischer Literatur hätte, dann müsste man das fast als Kommentar verstehen.
Die Frage »Warum Lesungen?« stellt und beantwortet Krachts Auftritt insofern: Auch über explizite Kommentare von Autorinnen in Reaktion auf Publikumsfragen hinaus vertiefen Lesungen das Verständnis von Text und Autor angesichts dessen Verhalten und der Reaktion des Publikums. Einen Theorienstreit dazu, ob Text- und Autorverständnis auch aufeinander bezogen sein sollten, erspare man sich hier. Krachts Werk jedenfalls wurde nie ohne Ansehen seiner Person rezipiert, und wenn die Weise, auf die er sich beim Lesen demonstrativ zurückgenommen hat, eines zeigt, dann dass er sich dessen sehr bewusst ist.