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Kurzwarenhölle

Von Berliner Bohème, glücklichen Momenten beim Kurzwarenhändler und guten Gründen, sich einmal eingehender mit der Flachsverarbeitung zu befassen, erzählt Julia Franck in ihrem Roman Die Mittagsfrau. Die Jury des Deutsches Buchpreises konnte das überzeugen. Christoph Heymel hingegen bleibt skeptisch.

von Christoph Heymel

Die Preisträgerin des Deutschen Buchpreises 2007 überzeugt, so die Begründung der Jury, durch »sprachliche Eindringlichkeit, erzählerische Kraft und psychologische Intensität«. Eine durchaus schlüssige Begründung für eine derartige Preisvergabe, die sich der Fischer-Verlag in der jüngsten Auflage noch schnell auf den Buchdeckel geschrieben hat.

Der Prolog erfüllt die benannten Kriterien tatsächlich glänzend: Stettin 1945. Peter lebt mit seiner Mutter in den Trümmern des endenden Krieges. Sie will in Richtung Westen fliehen, weg von der Verzweiflung, von Vergewaltigungen und Hunger. Doch auf der Flucht lässt die Mutter ihren siebenjährigen Sohn zurück. Erst im Epilog erfährt man, wieder durch Peters Augen, endlich von seinem weiteren Schicksal.

Der erzählerische Rahmen ist fesselnd, die Sprache fließt nur so dahin und erzeugt schon während der ersten Seiten eine ungeheure Spannung. Während man sich in anderen Romanen erst einmal »einlesen« muss, hebt der Prolog den Leser auf einen Gipfel empor, von dem aus er nicht mehr zurück kann, sondern seine Neugier darauf befriedigen muss, wie es soweit kommen konnte.

Frühbiographische Anhaltspunkte

Das knackige Äußere mit einem ebenbürtigen Inneren zu Füllen, schafft die Autorin leider nicht über die ganze Strecke hinweg. Der Roman blickt zurück auf das Leben von Helene, auf ihre Kindheit in Bautzen. Ein liebender Vater, der jedoch im ersten Weltkrieg ein Bein verliert und später stirbt, die ältere lesbische Schwester, in der die Protagonistin ein Vorbild findet und eine realitätsfremde, oft hysterische Mutter, von der Helene keine Liebe erfährt. Ausführlich werden Episoden und Begebenheiten aus ihrer Kindheit und Jugend geschildert, in denen bereits munter nach frühbiographischen Anhaltspunkten für die spätere Entscheidung, den eigenen Sohn zu verlassen, gestochert werden kann.

Nach dem bewegenden Anfang verliert die Erzählung hier deutlich an Tempo und auch sprachlich schaltet Julia Franck einen Gang zurück. Die in der Tat ausgezeichnete Lesbarkeit wird von einigen holperigen Stellen etwas geschmälert und manche Handlungsmodule gehen einfach zu sehr ins Detail, so dass man mitunter erleichtert aufatmet, wenn der Sprung zwischen zwei Kapiteln einmal wieder etwas weiter ausfällt.

Berliner Bohème

Mit sechzehn zieht die Protagonistin mit ihrer Schwester zu deren Tante nach Berlin und aus dem Familien- wird zunehmender ein Entwicklungsroman. Die Zeit in Berlin, die den größten Anteil des Buches einnimmt, ist zugleich leider auch sein schwächster Teil. Fast schon scheint es so, als müssten sich die 20er Jahre, so sie Teil eines Romans sind, in Berlin abspielen. Und so leben die Schwestern das bohème-Leben der Hauptstadt und Helene, nebenher gepeinigt von Tätlichkeiten, der Eifersucht auf die Schwester, die ihre lesbische Liebe auslebt und den sie umgebenen Drogen-Eskapaden, findet in dem jüdischen Philosophen Carl endlich die Liebe ihres Lebens.

Helene wird von Figuren umgeben, die mal mehr, mal weniger scharf gezeichnet sind, in ihrer differenzierten Ausgestaltung aber doch zu den Stärken des Romans gehören. Die Erzählerrolle ist nicht starr auf Helene festgelegt, sondern verfällt mitunter kurzzeitig in andere Charaktere, was den Schilderungen eine reizvolle Dynamik verleiht, die auf Trab hält. Was wiederum stört, ist eine recht eigenwillige Interpunktion, die möglicherweise den Stil der Zeit nachzuahmen versucht und auf die Dauer ein wenig anstrengt. Insbesondere bei der zumeist indirekten Rede, welche in hohem Maße zur Qualität des Romans beiträgt, kann man so leicht einmal ins Schleudern geraten.

Kurz vor zwölf

Ein Schicksalsschlag ändert den Lauf der Geschichte: Carl kommt bei einem Unfall ums Leben; die nun noch stiller gewordene Protagonistin begräbt alle Pläne auf eine glückliche Zukunft und heiratet den kaltherzigen Nazi-Ingenieur Wilhelm. Nach dem Umzug nach Stettin gewinnt der Roman wieder an Tiefgang und der so gelobten Eindringlichkeit. Helene findet sich in der Rolle der Ehefrau wieder und scheint über eine Weile darin aufzublühen:

Legte Wilhelm ihr sein Hemd hin, wo ein Knopf abgerissen war, lief Helene von einem Kurzwarenhändler zum nächsten, bis sie nicht den einen richtigen Knopf, wohl aber, zurück im ersten Geschäft, ein ganzes Dutzend passender Knöpfe gefunden hatte, so dass sie die übrigen Knöpfe für den einen fehlenden komplett austauschte. Helene empfand eine Dankbarkeit, die sie fröhlich werden ließ.

Doch der Schein trügt: Obwohl sie sich mit ihrer Situation abgefunden zu haben scheint, leidet die junge Frau unter Wilhelm, das Leben wird zu einer regelrechten Ehehölle, die Julia Franck mit auschweifenden Szenen, in denen gefühlskalte und teilweise brutale sexuelle Handlungen beschrieben werden, verdeutlicht. Obwohl hier manchmal weniger mehr gewesen wäre, ist doch die zunehmende Schärfe in diesem Teil des Romans hervorzuheben.

Schließlich kann sich Helene unter Wilhelms schneller wachsendem Antisemitismus auch nicht über ihre Schwangerschaft freuen. Dass es nun kurz vor zwölf ist, wie durch den Prolog bereits erahnt werden kann, lässt keinen Zweifel und die so betitelte Mittagsfrau ist an diesem Punkt zu ihrer Höchstform angelaufen.

Eine Stunde Flachsverarbeitung

Der Steppenwolf, das Parfum, die Mittagsfrau. Ein typischer Romantitel, so wie er sein muss, möchte man meinen. Doch bei Julia Franck muss man etwa genauer hinsehen, um den Bezug zum Inhalt zu finden: Die alte Sage kommt aus der Lausitz, immerhin Helenes Heimat. Sie besagt, dass eine weiß gekleidete Frau mit einer Sichel über den Köpfen derer erscheint, die Mittags arbeiten und diese verflucht. Der Fluch wird gebrochen, wenn man der Mittagsfrau eine Stunde lang von der Flachsverarbeitung erzählt.

Buch-Info


Julia Franck
Die Mittagsfrau
S. Fischer: Frankfurt 2009
432 Seiten, 19,90 €

 
 
Ein ziemlich mühsamer und langwieriger Vorgang, bevor am Ende endlich die Wolle kardiert und anschließend versponnen werden kann. Diese Arbeitstechnik ist inzwischen wohl etwas angestaubt, wie auch viele Bilder in Francks Roman, funktioniert aber nach wie vor gut. Und so ist es auch nicht unbedingt falsch, die Autorin mit dem Deutschen Buchpreis zu bedenken, denn der Roman ist durchaus solide, unterhält und bereichert die Reihe der Protagonistinnen um eine Figur, die ihresgleichen sucht. Zwar verflucht sie auch, bleibt dabei aber immer still und leise. Vielleicht ist das nicht innovativ und der Roman nicht richtungsweisend, dennoch aber insgesamt ein ordentliches Stück Handwerk, was besonders durch den elliptischen Erzählstil bedingt ist und bunt verziert wurde, auf der Innenseite aber einige Macken aufweist.

Für stürmische Herbstabende ist die berührende Geschichte in jedem Fall eine gute Wahl, die Massentauglichkeit beweist auch ein Blick in die Bestsellerliste, dem Buchpreis sei Dank. Julia Francks Roman wird gelesen, das ist schön, er hat es verdient, weil er gut ist. Kleine Macken sind nämlich verzeihlich und lediglich das, was einen nur guten vom tatsächlich großen Roman unterscheidet.



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 Veröffentlicht am 21. Juni 2010
 Kategorie: Belletristik
 Bild vom S. Fischer Verlag
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