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Poetikvorlesung
Lawinenhund auf Spurensuche

Marcel Beyer, der »Materialist unter den Lyrikern«, führt in seinem neuen Gedichtband Graphit lyrische Arbeiten aus 13 Jahren zusammen. Zwischen grauen Buchdeckeln entfaltet Beyer sein Verständnis von Literatur und Geschichte. Über Materialität, Medialität und Mineralität der Gedichte.

Von Alena Diedrich

Materialität

In 24 Zyklen und 13 Einzelgedichten schreibt Beyer über Historisches und Biologisches, Musikalisches und Literarisches. Er erzählt von einer durch Flora und Fauna belebten Landschaft, in der ein Dichter seine Umwelt beobachtet und kommentiert. Doch steht er nicht inmitten einer friedlichen Idylle, sondern findet sich mit einem Bein in den Ruinen der Überlieferung wieder. Zwischen den ramponierten Trägermedien Fotografie, Musik, Film und Literatur, dort, wo alles in Einzelteile zerlegt ist, spüren Beyers Gedichte eine neue literarische Ordnung auf:

wo […] die Welt sich
faltet. Ja, alles faltet sich,
Dach, Haus und Straße,
Bett und Schrank, hier falten

alle Bücher und Papiere sich
wie von allein zusammen.

Im Zyklus Das Rheinland stirbt zuletzt beschreibt Beyer den Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009 und die Zerstörung der archivarischen Ordnung – »wie / sich die Welt vom einen / auf den anderen Augenblick / selbst zerlegen kann«. Die Bergung der verschütteten Dokumente, das Herstellen einer Neuordnung aus dem unsortierten Pool der Archivalien, wird zum Ausgangspunkt einer intertextuellen »Spurendichtung […] mit / Mundschutz, Atemmaske«:

[…] Tatsächlich bringen
sie jetzt Lawinenhunde

ins Gelände, zwei Huskies,
die werden sich gleich
mit rauher Stimme
durch die Papiere arbeiten.

Ein solcher Lawinenhund, ein »Sprachhund«, ist Beyer selbst, »dort / zwischen Stahlbeton und / Ofenrohr und Mörtelstaub / und Inkunabeln: sein / Arbeitsfeld.«

Beyer ist einer, der aufräumt. Einer, der sich in den Schutt hinunter und verbal bewaffnet in die Schlacht wagt: »Gedichte / müssen wie ein Schuss ins / Auge sein.« Der Dichter, ein Aufrührer, »[j]edes Wort ein Diversant.« So wendet sich Beyer in seinen Gedichten wie in seinen Romanen Flughunde (2012) und Kaltenburg (2008) den finsteren historischen Zeiten zu. »Ich / bin ein Mann, / der tief in Schützengräben / blickt und nichts vergessen kann«. Er spürt der Überlieferung dort nach, wo sie als »Reservoir der schiefen Bilder« hervortritt und wo sie versucht, sich durch künstlerische Darstellung zu rehabilitieren: »[…] Und gut, / ich gebe zu, einer / der Kosmonautenhunde // hatte bei der Landung eine / Schramme, doch / Nirgendwo sieht man auf /Belka-Strelka-Bildern Blut.« Darstellung ist dabei eine Bedingung von Historizität überhaupt, da sie immer nur nacherzählbar und somit auf Medien angewiesen ist:

Denn der Winter ist dunkel, und
der Schnee ein schwindendes
Objekt, weil man zu spät
kommt, jedesmal zu spät, wenn

man ihn filmen will.

Medialität

Beyer, 1965 geboren, in Kiel und Neuss aufgewachsen, ist in der lyrischen Moderne und Gegenwart beheimatet: Thomas Kling, Volker Braun, Wolfgang Hilbig, Elias Canetti, Georg Trakl, Gottfried Benn und Ezra Pound werden am Ende des Gedichtbandes als Vorbilder genannt. Film und Fernsehen (von Sergei Eisenstein bis zum DDR-Sandmännchen) sowie Musik – »Lambada ist die / Sprache, die ich meine« – bettet er in seine Gedichte ein. Und auch szenische Darstellung, Klang und Rhythmus gehören zu seinem festen Repertoire, das mit Sprachvarianzen, Dialekt und Etymologie angefüllt ist.

Buch-Info


Marcel Beyer
Graphit
Suhrkamp Verlag, Berlin, 2014
207 Seiten, 21,95 €

 
 
Als ein Dichter der großen Form beherrscht Beyer Stimmungswechsel und Stimmvariationen. Präzise gesetzte Binnenreime erzeugen Spannung und Geschwindigkeit im Lesefluss. Keine »Flucht in den Endreim«, sondern eine fast leise Poetizität zieht sich durch die freien Verse, die die Lyrikgeschichte nie außer Acht lassen. Als »Schneimeister« führt uns Beyer »mit lässiger Hand vor, wie man in / Neuss am Rhein / Maschinenschnee zu / Schneekunst macht« und wie es der »Schnittmeister« vor ihm tat: »Zuletzt der Schneeauftrag, ein / lichtaufsaugendes Gemisch / aus Naphtalin und Kreide«, das sich über die Geschichte legt. Durch diesen »Schneesturm keucht / sie hier, die Schrift« und legt frei, was verschüttet ist.

Mineralität

Als »Schattenspur« unter der weißen Fläche der historischen Landschaft – und auf dem Papier – sieht Beyer seine Gedichte wie die seiner literarischen Vorgänger und dichtenden Mitstreiter:

[…] Einmal quer durchs
Jahrhundert führt, am Pistenrand
hier, eine Schattenspur: Graphit.

Das dem Gedichtband seinen Titel gebende Graphit ist ein Mineral – Kohlenstoff in seiner reinsten Form – und bekannt aus Schreibgeräten. Als Bleistiftmine ist Graphit wischfest und lichtecht, doch nur mit Hilfsmitteln wieder auslöschbar. Der Bleistift eignet sich daher für den Entwurf, doch da Graphit Kristalle bildet, glänzt die mit dem Stift gezogene Linie und ermöglicht die Darstellung feiner Schattierungen. So zieht Beyer seine »Schattenspur«: lichtecht, lesbar, haltbar im postmodernen Geröll der literarischen Überlieferung.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 10. November 2014
 Min graphite von Daniel Schwen via Wikimedia Commons (kleine Bilder) und Pencil front end von Saurabh R. Patil via Wikimedia Commons
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