Unser Messefreitag: Lasha Bugadzes Literaturexpress macht Halt am Forum der Unabhängigen auf der LBM16 und führt ein in das Gesellschaftsexperiment des bahnfahrenden Autorenkollektivs. Die stellten sich die Frage: für wen schreibt man eigentlich? So bot das Schreibprojekt eine willkommene Gelegenheit, über das »Konstrukt Leser« nachzudenken.
Von Annie Rutherford und Marisa Rohrbeck
Was passiert, wenn man 100 internationale Schriftsteller_innen zusammen in einen Zug steckt und sie quer durch Europa schickt? Das fragt Lasha Bugadze im Roman Der Literaturexpress, übersetzt aus dem Georgischen von Nino Haratischwili. Der Roman – wie man so schön sagt – basiert auf einer wahren Geschichte: Vor 16 Jahren fand dieses Projekt tatsächlich statt – und der Autor war selbst mit von der Partie. Beim Forum der Unabhängigen redeten Autor und Übersetzerin über Zugfahrten, neurotische Schriftsteller_innen und die bisweilen unterschätzte Vorstellung des Autors von seinen Lesern und dessen Einflussnahme auf die Produktion seiner Texte. Eine Beobachtung des Autors hat unser Messeteam dabei besonders beschäftigt.
Lasha Bugadze machte in der Diskussionsrunde deutlich, wie intensiv das Gesellschaftsexperiment »Literaturexpress« für ihn war.
Man war zusammen mit 100 anderen Menschen mit genau denselben Neurosen: Jeder suchte nach einem Leser für seinen Text. Es war eine Welt ohne Leser: eine Schriftstellerwelt. Es war wie Sauerstoff, wenn man mal auf einen Übersetzer oder eine Übersetzerin gestoßen ist oder jemanden aus einem Verlag. Aber man hatte trotzdem die Vermutung, dass auch sie insgeheim zumindest Lyrik geschrieben haben.
Sieht für uns auf den ersten Blick irgendwie nach big brother aus, obwohl der voyeuristische Blick ja gar nicht von außen kommt. Vielmehr geht das Ganze in die andere Richtung.
Annie: Das stimmt! Außerdem hat jede_r Autor_in eine Vorstellung von den Menschen, die ihre Texte lesen – und auch das hat Auswirkungen auf den Text. Es gab eine total interessante Debatte neulich im englischen Sprachraum: Die Autorin Claire Vaye Watkins gestand, bemerkt zu haben, dass sie immer eine männliche Leserschaft mitdenkt, und vor allem irgendwie versucht, dieser Leserschaft entgegenzukommen und fast zu schmeicheln. Dabei meinte sie vor allem die – häufig – älteren, weißen Männer, die Literaturkritiker sind und über die wichtigen Longlists und Ähnliches entscheiden. Und das hatte selbstverständlich eine große Auswirkung auf ihre Texte, sowohl auf die Themen, als auch auf den Stil. Marlon James, der aus Jamaica stammt und neulich den Man Booker Preis gewonnen hat, hatte darauf mit der Erklärung reagiert, dass es für ihn eine imaginierte weiße, weibliche Leserschaft ist, die seine Texte prägt. Beide Autor_innen versuchen bewusst davon wegzukommen – und die Frage entsteht, wie unsere Leselandschaft generell aussehen würde, wenn es mehr Vielfalt in unserer Vorstellung vom Leser bzw. von der Leserin, geben würde.
Marisa: Aber kann man sich von diesen gesellschaftlich geprägten Bildern eigentlich komplett loslösen? Vielleicht ist so ein Experiment gerade dafür interessant, das eigene Konzept vom Leser zu hinterfragen. Quasi eine produktive Selbsterfahrung, die weniger mit dem Leser als mehr mit dem Autor zu tun hat. Oder doch umgekehrt? We are watching it.