Andreas Stichmann debütierte 2008 mit seinem Erzählband Jackie in Silber beim Hamburger mairisch Verlag. 2012 erschien sein erster Roman Das große Leuchten bei Rowohlt, ein Buch, das ungewöhnliche Seitenwege einschlägt und dann doch weniger mit großen Worten als mit seinen Leerstellen überzeugt.
Von Leonie Krutzinna
Es entsteht, wenn man auf ein Rapsfeld starrt, ohne zu blinzeln: Das große Leuchten. Eine Technik, um »gegen diese Panik anzukämpfen, die manchmal kam, wenn ich das Gefühl hatte, jemand anderes würde in mir denken«. Es gilt, die Wahrnehmung verschwimmen zu lassen, um danach umso schärfer zu sehen und so etwas wie Wirklichkeit überhaupt ausmachen zu können.
Zwischen Wahrheit und WahrnehmungIch-Erzähler Rupert fehlt die verlässliche innere Stimme, mit der die meisten Menschen durchs Leben gehen, die Orientierung gibt und das Denken und Handeln zusammenhält. Ausgestattet mit dieser Veranlagung schickt Autor Andreas Stichmann seinen Protagonisten auf eine Reise, die entsprechend dem Innenleben der Figur gleichermaßen desorganisiert und unzuverlässig erzählt ist.
Den Ausgangspunkt nimmt der Trip, als Rupert seine Mutter mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne findet. Fortan lebt Rupert bei Frances, einer Hippie-Freundin seiner Mutter und deren Sohn Robert und richtet sich dort in seinem Leben zwischen Sarkasmus und Herablassung ein. Bis er schließlich in der aus dem Iran stammenden Ana seine erste große Liebe findet.
Doppelt verglastDie beiden tauchen ab, führen ein Bonnie und Clyde-Leben zwischen Bauwagen und Tankstellenüberfällen, bis Rupert mehr und mehr klar wird, dass er sich eigentlich doch ein bürgerliches Leben in geordneten Verhältnissen wünscht. »Einsteigen« heißt das Kapitel, in dem Rupert in das Idyll einer Kleinfamilie einbricht und für das Stichmann für den Bachmannpreis nominiert wurde. Die Sehnsucht nach doppelt verglasten Fenstern, nach Gerümpel im Keller, nach Wäscheständern und Klaviermusik überbordet plötzlich das Verlangen nach Freiheit und Jugendsünde.
Stichmann entwickelt seine Story um die Themen Liebe, Freundschaft, Familie und so entpuppt sich Das große Leuchten sehr schnell als klassische Adoleszenz-Geschichte, als gern, aber eben schon vielfach zuvor gelesener Coming of Age-Roman. Keine Frage, die Handlung wird geschickt montiert, der Plot schlägt teils bizarre Seitenwege ein, um dann aber eben doch häufig in Allgemeinplätze überzugehen.
Zum Beispiel die Familienkonstellationen: Robert und Rupert sind vaterlos aufgewachsen, Anas Vater ist traumatisiert und dazu Alkoholiker. Allzu leicht lassen sich so die Versagerväter als Erklärung für die Anpassungsstörung der Jugend bemühen. Schlimmer noch steht es aber um die Frauenfiguren. Sie bekommen keine Erzählstimme, sie bringen sich um wie Ruperts Mutter oder stehen wie Francis verbittert und verhärmt da. Wahrnehmbar sind sie überhaupt nur durch Ruperts Erzählerbrille. Und diese ist leider unangenehm ›patriarchal‹ konstruiert. Ana muss man deshalb irgendwie cool finden, wie so alles an ihr abprallt, wie ihr egal ist, mit wem sie schläft, wie sie auf den Tankstellenboden pinkelt, säuft oder in Pornos mitspielt.
Ablenkende AntipathieLeider kann Ruperts Charakterwandel vom Bad Boy hin zum dann doch irgendwie konservativen Familienmenschen das auch nicht wieder hinbiegen. Und auch wenn man die erzählerisch angelegte Sympathielenkung nicht teilt und den Roman nicht identifikatorisch liest, so lenkt die Antipathie gegenüber Ana, wenn man sie erst einmal entwickelt hat, von den wiederum gelungenen Seiten des Buches ab. Denn Ana schreit in Großbuchstaben zu laut und überartikuliert aus dem Buch heraus, sodass die leisen, aber an sich starken Stimmungen übertönt werden.
Diese Stimmungen und die Leerstellen sind es jedoch, die der Story ihre Größe geben, das offene Ende, das nicht nur die erzählte, sondern auch die reale Welt in Unsicherheit hüllt. Gerade dieser Abgrund, an den Stichmann seine Leserschaft am Ende stellt, gibt dem Großen Leuchten seine Tiefe.