Nach seinen Debüt-Erzählungen Die Taschen voll Wasser (2005) und dem Nachfolgeroman Räuberhände aus dem Jahr 2007 legt Finn-Ole Heinrich mit Gestern war auch schon ein Tag acht sprachlich schlichte, doch dichte Kurzgeschichten vor. Heinrichs Erzählungen sind Momentaufnahmen, kurze Miniaturen, in denen sich das normale Leben als Leben auf der Kippe erweist.
Von Alena Diedrich
Eine lebenslustige Frau ohne Bein und ihr depressiver zweibeiniger Freund, ein Hooligan, der bald Vater wird, ein Müllmann, dessen temporäre Amnesie Rätsel aufgibt, und ein Kollege, der über ihn rätselt: Die Figuren, von denen Finn-Ole Heinrichs Erzählungen handeln, sind Reflexe ihrer Umgebung. Sie beleuchten eigene Schwächen und fremde Stärken, suchen Überlegenheit und finden keine, denn »dann plötzlich erwacht in mir eine Unsicherheit: Wer verarscht hier eigentlich wen? Ich dachte immer, ich mache mich über Schubert lustig, aber vielleicht lacht Schubert auch, bloß zwei Etagen höher.« Mehr als bei bloßen Antipoden wird die fremde Stärke zum Grund der eigenen Schwäche: Susan fehlt ein Bein, doch eigentlich fehlt ihr nichts, nur ihr Freund hat Probleme mit der neuen Situation: »Ich habe Angst, dass das was ich fühle, Ekel ist. […] Und alles, was ich denken kann, ist, was fehlt, was nicht da ist, was nicht geht.« Doch in Wirklichkeit geht vieles: »Sie rennt auf den Baum in der Mitte des Platzes zu. Keinen, seit ich hier wohne habe ich je daran klettern sehen. Aber jetzt Susan, die Behinderte. […] die Hände am Ast steigt sie hinauf. Hängt sich kopfüber wie ein Kind im Klettergerüst an den Baum. Die Leute gucken. Ich trinke Bier und gehöre nicht dazu.«
Heinrich thematisiert moralische Konflikte, die im Inneren ausgetragen werden, nicht überpsychologisierend, aber scharf beobachtend. Er zeigt Menschen hinter einer persönlichen und einer institutionalisierten moralischen Fassade, die versucht Menschen mit Methoden zu behandeln. Im »Haus Hirte Heim für Schwererziehbare« wendet Henning die Methode schließlich gegen die Therapeuten, eine leere Phrase: »Frau Heinsohn, Sie schreien, logischerweise, Sie haben die Situation nicht unter Kontrolle. Stoppsatz, Frau Heisohn, aus der Situation aussteigen.« – Stark ist, wer sich entzieht, geheimnisvoll und undurchschaubar bleibt. »Wer ist Schubert? Etwa doch ein Geheimnis, ein Phänomen, ein witziger Typ?« Erst die Entzauberung macht das vermeintlich Besondere wieder trivial.
Die längste Erzählung des Bandes heißt »Marta« und erzählt von einer Aussteigerin. Körperlich zerstört durch Krankheit und Drogen, ein Leben im beständigen Übermaß. Marta ist beliebt, wenn sie Partys feiert, aber in Wirklichkeit einsam. Auf den Erzähler Paul, Student der Sozialpädagogik, der sie in der S-Bahn aufgreift und mit nach Hause nimmt, übt sie eine starke Anziehung aus. Es ist der Beginn einer ungewöhnlichen Beziehung, einer Symbiose, wie zwischen Marta und ihrer Ratte Leberecht: »Ich wollte dich noch aufpäppeln und gesund machen, verteidigen und behüten.« – »Doch vielleicht gings nur um mich die ganze Zeit. Vielleicht war ich nur bei dir, weil ich rauswollte, weil ich was brauchte, eine Aufgabe. Vielleicht hab ich dich nur benutzt, Marta, hab deine Party mitgefeiert, deinen Schwung genommen, dich als Droge benutzt.« Auch Marta flüchtet sich in eine Gegenwelt, in ein fiktives Traumwelt-Ostfriesland, in fremde und idyllisch überhöhte Kindheitserinnerungen. Doch am Ende versiegt die Kraft der Vorstellung und Fremdes bleibt fremd. Mit dem Tod Martas kehrt Paul nach Ostfriesland zurück. Die Ratte findet den Erstickungstod in der Tupperdose – und das ewige Leben in den Tiefen des Moores.
Finn-Ole Heinrichs Figuren sind versehrt, körperlich und seelisch. Sie hegen den Wunsch nach Besonderheit und Anerkennung: Der Name als Mantra gesungen – »Elli, Elli!« – dient der eigenen Vergewisserung. Das fehlende Bein wird zum Ganzmacher und der Müllmann Schubert erfindet sich als Zentrum seines bröckelnden Mythos. Doch das beruhigende Sprichwort »Morgen ist auch noch ein Tag« wird bei Heinrich umgewendet in die resignative Erkenntnis, dass Tage um Tage sich aneinanderreihen zu einem Leben, mit dem man eben lebt, weil man kein anderes hat. Es bleibt auf der Kippe, doch damit will man nichts zu tun haben.