Die britische Kolonialherrschaft über Indien, die Unabhängigkeit des Landes 1947 und die Grausamkeiten der Indisch-Pakistanischen Kriege: Durch seinen Protagonisten Saleem Sinai erzählt der preisgekrönte Autor Salman Rushdie die Geschichte Indiens im 20. Jahrhundert. Nun wagt sich die kanadische Regisseurin Deepa Mehta an die Verfilmung von Midnight’s Children. Ein Ding der Unmöglichkeit?
Von Thale Hapke
Ein Feuerwerk um Mitternacht. Indien hat sich der britischen Herrschaft entledigt. In der Nacht der Unabhängigkeit im August 1947 werden in der Stunde nach Mitternacht 1001 Kinder geboren, die Mitternachtskinder. Aus dem bereits 1981 veröffentlichen Roman Midnight’s Children von Salman Rushdie entstand seit 2008 der gleichnamige Film. In Deutschland ist Mitternachtskinder seit März 2013 auf der Leinwand zu sehen.
Es wird die Geschichte von vier Generationen erzählt, die sich vor dem real-politischen Hintergrund der Unabhängigkeit Indiens und somit der Entstehung des muslimischen Staates Pakistan ereignet. So wird beispielsweise der religiöse Konflikt zwischen Muslimen und Hindus immer wieder aufgegriffen. Die muslimische Familie Sinai lebt auch nach der Abspaltung des muslimischen Staates Pakistan im hinduistischen Indien und erlebt die abweisende Haltung gegen ihre religiöse Minderheit im Land. Zudem ist die Kolonialherrschaft Englands in Indien ständig präsent, etwa wenn auch Saleems Eltern britische Bräuche wie den Nachmittagstee übernehmen, um sich der wohlhabenden Schicht anzupassen. Und auch die von Indira Gandhi angeordnete Kastration zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums – Jahre nach der Unabhängigkeit – ist Thema der Geschichte, wenn Saleem selbst und viele der anderen Mitternachtskinder gejagt und auf brutale Weise kastriert werden. So wird die Premierministerin grausam und zugleich mit der Regierung einer so komplexen Nation hoffnungslos überfordert gezeigt.
»The world is not ideas, the world is things«Die Mitternachtskinder Saleem und Shiva, als Babys im Krankenhaus vorsätzlich vertauscht, vertreten gegenteilige Vorstellungen über die Zukunft ihres Heimatlandes. Saleem hat die Vision, dass alle Mitternachtskinder gemeinsam Indien auf einem friedlichen Weg zu einer besseren Zukunft verhelfen können. Shiva, der als Sohn eines mittelosen Straßenmusikers aufwächst, vertritt stattdessen den Standpunkt »The world is not ideas, the world is things« und geht gegen Saleems Vorstellungen an, sodass die beiden zu Rivalen – reich gegen arm – werden.
Im Roman baut Salman Rushdie mühevoll jeden Charakter mit viel Liebe fürs Detail gekonnt auf. Eigenarten wie Saleems ständig laufende Nase oder die Lust am ›Schuhe-in-Brand-setzen‹ seiner Schwester schaffen eine sorgfältige und zugleich amüsante Figurenzeichnung. Im Film macht sich die kanadische Regisseurin mit indischer Herkunft Deepa Mehta das Medium zunutze, indem sie die verschiedenen Erzähl- und Zeit-Ebenen des Romans besser zugänglich macht. Die Schauplätze sind originell gewählt, die Darsteller verkörpern ihre Rollen erfrischend. So gibt der Film einen lebendigen Überblick über die Geschichte Indiens und versucht bei der Umsetzung der Charaktere der Romanvorlage gerecht zu werden. Doch dem Buch kann er nicht wirklich Genüge leisten.
Gekürzt erzähltRushdie ist für den weit gefassten Begriff Magischer Realismus bekannt. In Mitternachtskinder zeigt sich dieser durch die Darstellung von Unerklärlichkeiten und mythischen Elementen als Realität. So verliert Saleems Mutter, Amina im Roman aufgrund emotionaler Belastungen ihre Hautfarbe bis sie fast durchsichtig ist und Saleem besitzt die Fähigkeit mit den anderen Mitternachtskindern telepathisch zu kommunizieren. Im Film sind jedoch nur einige dieser Elemente, die dem Magischen Realismus zu zuschreiben sind, überzeugend umgesetzt, mehrere durchaus charakterprägende Eigenheiten, wie zum Beispiel Aminas Erblassen, wurden nicht übernommen. Doch gerade das gibt dem Roman etwas Besonderes, sodass man – inbesondere wenn man das Buch kennt – genau diese vertiefenden Elemente vermisst. Der knapp zweieinhalb Stunden dauernde Film kann folglich mit der Tiefe des 750 Seiten langen Romans nicht mithalten.
Der Autor der bekannten Satanischen Verse, Salman Rushdie, hat über 30 Jahre nach Veröffentlichung seines Romans Midnight’s Children nicht nur das Drehbuch für den Film geschrieben, sondern spricht in der Originalfassung sogar den Erzähler als Stimme aus dem Off selbst. Rushdies humorvolle Sprachgewandtheit sowie etliche Neologismen seines Werkes wurden leider nur vereinzelt in den Film integriert. Der Verlauf der Geschichte ist gut – sogar besser verständlich – als im Roman, Rushdies Erzählweise im Film aber so stark gekürzt, dass man leider nur wenig mit den Charakteren mitfühlt.
Der inhaltlich komprimierte Film von Deepa Mehta ist als unterhaltsamer Überblick über die Geschichte Indiens sehr zu empfehlen, doch offensichtlich scheint eine filmische Umsetzung mit genügend Tiefe von Rushdies Roman Midnight’s Children ein Ding der Unmöglichkeit zu sein und der Grund, weshalb sich die letzten 30 Jahre zuvor keiner an den vielschichtigen und wortgewandten Roman herangetraut hat.