Was lernt man so an drei Tagen Social Media Week? Litlog schickte zwei Reporterinnen auf den Kongress, die jetzt alles über Micro-Influencing und Storytelling wissen – und en passant durch peppige Vorträge auf den neuesten Stand gebracht wurden, was coole Memes und GIFs angeht.
Von Eva Tanita Kraaz & Dorothee Emsel
Meine Seele für 1 Kokswasser200 Leute finden im gediegenen Galionsfigurensaal des Altonaer Museums Platz. Das ist einer der Veranstaltungsorte, an denen wir uns drei Tage lang tummeln: wir Mediennarren, Account-Managerinnen und Agenturensöhne. Vor denen wir cholerisch twittern, denn offensichtlich kommt hier das Prinzip der Attraktivitätsvermehrung durch Limitierung (= Raumknappheit) zum Einsatz. Unterdessen zwängt Dr. Carsten Brosda, Hamburger Senator für Kultur und Medien, in seiner Eröffnungsrede schon fröhlich schnackend Luhmann-Zitate in den Veranstaltungskontext. Von der Galerie im Saal haben wir Glücklichen Sicht auf die gegenüberliegende Wand mit den historisch hölzernen Galionsfiguren. Durch ein bisschen Verrenkung und unsere Smartphones haben wir auch die Bühne im Auge: Podium, Couches, eine Projektionsfläche und die Twitterwall.
Die Anliegen der Social Media Week, die seit 2010 zweimal jährlich international an verschiedenen Orten parallel stattfindet, sind Vernetzung, Update und Debatte. Dafür bietet das Programm Vorträge, Workshops und Podiumsdiskussionen. Unternehmen und Werbeagenturen stellen ihre Konzepte für Werbekampagnen vor. Andere ExpertenInnen vermitteln ihre Social-Media-Skills. Die primäre Frage »Wie bringe ich mein Produkt an die Kunden?« führt im Jahre 2018 unumgänglich zu Follower- und Engagement-Strategien und hält in viele Vorträge Einzug.
Inhalte und Learnings1Gar nicht so heimlicher Star ist Daniel Rehn, Account-Manager2 einer Werbeagentur und digitaler Trendscout. Zwischen zwei Vorträgen belauschen die beiden Reporterinnen zwei begeisterte smw-Organisatorinnen: »Er ist der beste beste beste!« Dem dementsprechend vollen Galionsfigurensaal erklärt er in einem Vortrag (Digital Trend Scouting 2018: What’s next in Social?3) die Macht der »Empörung« in gelungenen Social-Media-Kampagnen, in einem zweiten (Vertikales vs. horizontales Storytelling: Was Marken von Marvel, Game of Thrones und Co. lernen können) die Signifikanz seriellen Erzählens bzw. Story-Tellings im Social-Media-Marketing.
Es sei, so Rehn, ein sehr deutsches Phänomen (ablesbar nicht zuletzt am gern gebashten Tatort), die Möglichkeiten des Seriellen nicht auszuschöpfen. Anhand von amerikanischen Serien etabliert er über das Credo »Alle guten Geschichten sind seriell« hinaus spezifischere Wertungskriterien. Die beiden wichtigsten betreffen das horizontale (Plot) und das vertikale (Charaktere) Storytelling: Einzelne Episoden sollten nicht in sich geschlossen sein oder das Narrativ gar auserzählen, sodass ein längerer Spannungsbogen aufrechterhalten werden kann. Die Charaktere (hier: die Produkte oder wahlweise auch InfluencerInnen4) müssen eine gewisse Tiefe aufweisen. Selbstverständlich seien auch Frequenz und Aufbau der Einzelepisoden (hier schlägt Rehn vor, sich am klassischen Fünfakter zu orientieren) von Belang.
An Tag 2 präsentiert der Autor und Journalist Mark Spörrle5 das seit 2015 bestehende Format der ZEIT: Elbvertiefung ist ein Hamburg-spezifischer Newsletter, der die AbonnentInnen über Aktuelles in der Stadt informiert. Das Mini-Magazin wird per Mail verschickt, da, so gemessen, über 80% der Menschen via E-Mail erreicht werden, mehr als durchschnittlich über Social Media. Der Marktkern der Elbvertiefung sei, so Spörrle, dass Meldungen nicht nur gemacht, sondern auch eingeordnet werden sollen. Im Gegensatz zu der stark begrenzten Textlänge eines reinen Marketing-Newsletters könne man sich hier zudem austoben. Und allen, die schon nicht mehr daran glauben, predigt Spörrle Hoffnung: Die Verbindung zwischen Online und Print funktioniere, wenn man es sorgfältig mache.
Beinahe heroisch gestaltet sich der Vortrag von Tanja Krämer: Digital oder analog? So will RiffReporter die journalistische Wende schaffen. Krämer ist neben Christian Schwägerl die Mitbegründerin von RiffReporter, eine Kooperative freier JournalistInnen, die sich zu einer Genossenschaft zusammenschlossen und im November 2017 mit dem Netzwende-Award für nachhaltige Innovation im Journalismus ausgezeichnet wurden.
Über Paid Content6 und die damit verbundene Sicherung von Genossenschaftsgebühren können freie JournalistInnen über die Plattform RiffReporter ihre Themen-Expertisen ausbauen (die z.T. so speziell sind , dass sie über Verlage publiziert vielleicht lediglich einmal im Jahr die Möglichkeit zur Veröffentlichung einbrächten). Zudem ersetzt dieses Erlös-Modell das ewige Hinterherrennen der »Freien« nach projektbezogener Entlohnung. UserInnen im Netz bezahlen, so Krämer, für vertiefte Angebote, die in den klassischen Medien zu kurz kommen. Auch das erklärt die Ansammlung zielgruppenspezifischer Projektideen auf RiffReporter, die sich unter geltenden journalistischen Qualitätskriterien, so das Ziel, irgendwann finanziell eigenständig tragen sollen.
Unerlässlich: Pro Programmpunkt gibt es einen Hashtag, sodass wir uns mit dem Rest des Publikums live austauschen können. Es bleibt ein großes Rätsel, weshalb diese Möglichkeit selbst auf einem Social-Media-Kongress letztlich fast ausschließlich zum Zitieren des gerade Gesagten genutzt wird. »Empört euch!« war doch sogar das Plädoyer des ersten gefeierten Rehn-Vortrags. Das funktionierte ganz hervorragend bei der vielfach angeführten Werbekampagne, für die Flüssigwaschmittel als Accessoire bei einer Clubnacht auf einschlägigen Instagram-Accounts platziert wurde. »Kluge Persiflage auf Influencer-Marketing oder einfach nur stumpf?«, es wurde leidenschaftlich diskutiert. Ähnlich engagiert sind lediglich die Tweets zum Interview über die Bundeswehr-Webserien und zur Podiumsdiskussion der Erbsenproteinfraktion. Für letztere bekundeten vier Mitarbeiter großen Enthusiasmus für ihren oberfränkischen Fleischersatzarbeitgeber.
Eine der Reporterinnen echauffiert sich selbstgerecht-tweetend über die Inkonsequenz der vegetarischen Firmenideologie – ist der Aufhänger der Diskussion doch schamlos emotionalisierendes Fleischindustrie-Footage und die in den Titel integrierte Frage ein Epiphanie-Souvenir aus dem Chinaurlaub: »Warum essen wir eigentlich keine Hunde!?«7
Währenddessen beklagt eine Kommunikations-Agentur richtig die Form des Vortrags als »Dauerwerbesendung«8. Eine Kritik, die an einigen Programmpunkten angebracht werden könnte, so auch an Nicolas Diekmanns Vortrag Fernet Brancas »Life is bitter«: gezielte Polarisierung, segmentierte Communitys, dem allerdings durchaus ein gewisser Mehrwert durch Unterhaltsamkeit und latent beängstigende Informationen zugesprochen werden kann. Die Präsentation triggert nämlich unsere tiefsitzende Angst (und Kenntnis), dass jede/r Einzelne für Werbekampagnen aus der Masse herausgebuddelt und zielgruppenspezifisch zusammengepappt werden kann (»DU BIST MANAGER. FÜR SOCIAL MEDIA« titelte eines der Fernet-Branca-Werbebanner auf Facebook. Life is eben bitter). Vermutlich aber auch ein sehr vorhersehbares Vorkommnis, ist doch das Naturell der ReferentInnen, gepaart mit der Notwendigkeit zur Strategieerklärung, das tatsächliche werberische Vorgehen nachzuerzählen.
Besagtes Flüssigwaschmittel ist übrigens noch längst nicht das Ende der Fahnenstange! Die Salami, mit der sich eine Instagrammerin für ein Gewinnspiel in der Badewanne fotografierte, ist unter WerberInnen auch ein echter Aufreger. Ertappt kichern wir also über den drei Jahre alten (schon damals cringeworthy) Night-Time-Routine-Sketch von Carolin Kebekus. Aber was sollen die lieben InfluencerInnen denn tun?
Dass sich das täglich Avocado-Toast9 nur mit Cross-Influencen für verschiedene Unternehmen finanzieren lässt, führt unvermeidlich zum Glaubwürdigkeitsverlust. Der Trend geht deshalb zum Micro-Influencen10. Ja, vielleicht seid schon bald ihr das, liebe LeserInnen, mit euren popligen 2-300 Instagram-AbonnentInnen. Mit ein bisschen Glück werdet ihr in der Sache eurer unleugbaren Authentizität wegen schon bald von einem Unternehmen angesprochen!
In drei Tagen Social Media Week haben die Reporterinnen ihre Markenbindung jedenfalls nicht nur durch die Vorträge, sondern auch durch dezente Produktplatzierung vertiefen dürfen. Kokswasser11, faire Biolimo und Energieriegel lagen in der Premiumlounge aus. Vor dem Galionsfigurensaal wartete schönes Servicepersonal mit prallen Tabletts voll Miniburgern mit innovativen Erbsenproteinpatties auf. Den vollgeschlagenen Bauch bezahlten die Reporterinnen mit dem schlechten Gewissen, der Aufforderung, in ihren Social Media Accounts über ihre Produktbindung zu informieren, nicht zu folgen. Der mehr oder weniger heimliche gastronomische Star der Veranstaltung war eh das Franzbrötchen zu 1,50€ das Stück.
Auch deine Mutter nutzt KI!Warum wir uns nun in den Vortrag Künstliche Intelligenz ist das, was wir daraus machen – Lasst uns unsere Zukunft aktiv gestalten! von Andre Kiehne (Microsoft Deutschland) über die böse böse KI gesetzt haben, wissen wir auch nicht so genau. Vielleicht, weil die dystopische Vorstellung von Terminatoren im Operationssaal unseren Optimismus noch nicht gänzlich niedergerungen hat – ja, vielleicht ist Artificial Intelligence ja doch nicht so mean wie alle sagen. Wir lassen uns zwar unterrichten über das, was alles geht, aber nicht einwickeln, auch nicht durch die Erweiterung unseres alltäglichen Spaßspektrums via HoloLens12, entwickelt von Microsoft. Die probieren die beiden Reporterinnen nämlich in dem Teil des Altonaer Museums aus, der norddeutsche Bauernstuben des 18. und 19. Jahrhunderts ausstellt. Nach der bauernfängerischen Mixed-Reality-Demo als Einstieg in die Welt der Supi-Brille wurde uns sehr engagiert der Nutzen der Augmented Reality zu medizinischen (ein bis ins kleinste Detail rekonstruiertes menschliches Herz erscheint im Raum) oder ingenieurstechnischen Zwecken präsentiert (wir scheuen uns noch – ganz hinterwäldlerische Germanistinnen – durch den falschen Motorenblock zu schreiten). Pornofans müssen sich leider noch gedulden: Vorrangig für Microsoft sind die »seriösen« Nischen, aber blöd sind die EntwicklerInnen ja auch nicht; durch die hohen Preise sollen Lüstlinge in Schach gehalten werden.
We are not the stupid ones!Learnings für die Teilnehmenden finden sich nun also allerorten, sollte es aber auch für die VeranstalterInnenseite geben. Beispielsweise werden Inhalte unter divers gestalteten Titeln doppelt präsentiert (so u.a. bei Kristina Kobilke: Closer – wie eine eigene Markencommunity auf Instagram mehr Nähe zu Ihren Kunden schafft und Visual Storytelling auf Instagram). Das ist besonders ärgerlich, weil TeilnehmerInnen aus durchschnittlich ca. 23 Vorträgen und ungefähr 18 Workshops pro Tag auswählen müssen, die sich natürlich zeitlich überlagern. Credo repeated: Empört euch!
Zudem: Müssen wir uns Coaching-Regeln der Stunde null um die Ohren hauen lassen? Anna Domascan führt im Vortrag Meine Welt vs. Deine Welt – moderne Kommunikation in Gemeinschaften doch tatsächlich grundlegende Kommunikationsmodelle an (und zwar von folgendem Kaliber: Wenn ich nicht spreche, kommuniziere ich nonverbal). An solchen Stellen erfolgt beinahe unbemerkt ein Knowledge-Outsourcing: Die beiden Reporterinnen rollen (sicher nicht als einzige) mit ihren Augen, denn sie selbst wissen schon viel und gucken dann doch doof, als etliche andere ihre Handy-Hände in die Luft recken, um die Bullet-List der Watzlawik-Axiome abzufotografieren.
Diverse andere ReferentInnen wiederum verkaufen den Pudelkern ihrer Ausführungen wie folgt: »Der wichtigste Punkt ist, dass Sie sich über die Inhalte definieren können, die Sie auch weitergeben wollen«. Ach was!
Seife statt MartiniDie Networking-Komponente des Events geht den Reporterinnen allerdings komplett flöten. Erst spät bemerken sie: Die intimsten Vernetzungs-Gespräche finden auf den Damentoiletten statt. Zwischen Papierhandtuch und Seifenspender fallen »Bist du nicht die, die…«-Sätze. Ist okay und passt ja auch: das Being-In-Between, die Abhandlung von Notwendigkeiten zwischen Stulle und Skateboard. Wir wissen nicht, wie viele Menschen sich auf der #SMWHH Abschlussparty einfinden und connecten, wir selbst gammeln da schon mit affirmativ gestalteten Teetassen (»Bett ist das, was du draus machst«) auf den jeweiligen Sofen. Die Reporterinnen überlassen die After-Hour-Parties zugunsten ihres bibliotheksverwöhnten Ruhepensums eben vorerst den Ally MacBeals dieser Welt und verarbeiten den kulinarischen, fancy, spicy, edgy Input, Input, Input.