2018 publizierte der Göttinger Wallstein Verlag den Essay Tier werden von Teresa Präauer, in dem sie auf beinahe 100 Seiten der etablierten Hierarchie zwischen Mensch und Tier den Pelz abzieht. Alteingesessene Denkmuster werden entblößt, die eigene Wahrnehmung herausgefordert.
Von Noreen Scheffel
Wer hat schon einmal über das Tier in sich sinniert? Kafkas Gregor Samsa hatte wohl keine andere Wahl als sich seiner animalischen Seite in gewissem Rahmen hinzugeben. Wahrscheinlich hätte er gerne einmal einen Blick in Tier werden geworfen oder es zumindest seinen Familienmitgliedern zur Lektüre empfohlen – sein Insektendasein wäre dann vermutlich allen Beteiligten deutlich weniger gespenstisch erschienen. Ganz freiwillig hingegen und ohne Scheu setzt sich Präauer mit Gedanken rund um die Grenze zwischen tierischen und menschlichen Eigenschaften auseinander, denn genau diese Kluft ruft, kräht, schreit oder bellt noch nach Definitionsversuchen.
Ihre Argumentation eröffnet Präauer mit einer akustischen Kulisse: Unter anderem ertönen Gesprächsfetzen, fahrende Autos und ein weinendes Kind. Dadurch wird die auf den ersten Blick abstrakte Thematik regelrecht in die praktische Lebenswelt der Lesenden integriert. Doch Präauer belässt es nicht dabei, sondern schlägt vor, die alltäglichen Geräusche zu entfremden und
Teresa Präauer, geb. 1979, ist österreichische Schriftstellerin und bildende Künstlerin. Neben zahlreichen Stipendien gewann sie unter anderem den aspekte-Literaturpreis 2012 und den Erich-Fried-Preis 2017.
Und was sind das wohl für Wesen? Zwielichtige Gestalten, die sich irgendwo im Schatten dieser uneindeutigen Zone herumtreiben? Präauer versucht innerhalb ihres Textes deutlich zu machen, dass sie in variantenreicher Ausführung vorkommen. Die mythologischen Harpyien sind dabei nur ein Beispiel – was ins Auge sticht, ist, dass der Mensch selbst auch dazu zählt. Vielleicht bereitet dieser Gedanke zu Beginn des Essays noch Unbehagen, er wird aber im Laufe der Lektüre immer nachvollziehbarer. Ein Mischwesen muss nicht unbedingt äußerlich durch eine hybride Erscheinung definiert sein. In vielen Fällen – wie etwa beim Menschen – meint diese Bezeichnung eher einen unbewussten Prozess, durch den etwas Tierisches im eigenen Verhalten zugelassen wird. Es handelt sich um etwas Wahrnehmbares, aber nicht Beschreibbares.
Die Sache mit dem BlickwinkelVielfältig werden diese Mischwesen und Grenzverwischungen durch Bezüge auf kulturelle, rechtliche und soziale Sphären charakterisiert. Dabei wird auf Beispiele zurückgegriffen, die sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart betreffen. Vor allem die Kunst kommt nicht zu kurz: Auf spielerische Weise beschreibt Präauer Gemälde, Fotografien und auch literarische Texte, sodass die Wesen aus diesen Werken im inneren Auge der Lesenden zum Leben erwachen. So kann man Bilder drehen und wenden, von links nach rechts oder von oben nach unten betrachten und das Resultat wird immer ein anderes sein. Ist es ein Vogel mit menschlichem Gesicht oder ein Mensch mit Vogelkörper? Erzählt dieses Bild von einer Vermenschlichung oder wird man tatsächlich Zeuge des »Tier Werdens«? An diesem Punkt kristallisiert sich die besondere Leistung des Essays heraus: Das Spiel mit ungewöhnlichen Perspektiven, auf welches man sich gerne einlässt.
Wenn […] nicht ich das Tier dressierte, sondern, umgekehrt, das Tier mich, würde in der Folge ich zum Tier?
Der von Menschenhand verfasste Essay regt zu der Sichtweise an, dass Texte immer auch aus der tierischen Perspektive heraus gelesen und geschrieben werden können, beispielsweise indem der Text beim Vorlesen durch ein Reduzieren auf Vokale einen neuen, fremden Rhythmus gewinnt. Die Autorin knüpft mit ihren Überlegungen an bereits existierende Erkenntnisse an – zum Beispiel an die biologische Perspektive. Laut dieser gehört der Mensch zu den Tieren. Dies allerdings grenzt sie prägnant formuliert zu theologischen, ethischen und philosophischen Perspektiven ab, welche dazu neigen, Menschen und Tiere voneinander getrennt zu betrachten. Unter anderem schlussfolgert Präauer daraus, dass die biologische Ähnlichkeit die Menschen dazu bewegt, zumindest sprachlich eine umso deutlichere Unterscheidung gegenüber den Tieren vorzunehmen.
Im Anfang war das Wort.Die Menschheit ist der Sprache mächtig: Sie kann Laute bilden, sie kann Wörter kreieren, Sätze formulieren, Bedeutung vermitteln – welch ein Kinderspiel muss es dann sein, sie als Instrument zu nutzen, um ein einfaches Tier zu imitieren? Selbstbewusst zieht Präauer die menschliche Sprachfähigkeit ins Kreuzverhör und lässt nicht locker, bis sie ein einleuchtendes Geständnis macht. Imitieren ist noch nicht Sein – Sein aber immer irgendwie auch Werden. So befindet sich alles im Wandel und unterliegt einer Tätigkeit, keiner bloßen Zustandsbeschreibung. Der Mensch könnte jedoch niemals den Zustand eines Tieres komplett authentisch nachahmen. Und die Handlung des »Tier Werdens« impliziert, dass es keinen Zwang gibt, zwischen tierischer und menschlicher Sphäre zu wählen.
Diese These eröffnet eine Prozesshaftigkeit, die sich in der Struktur des Essays spiegelt. Zwischenüberschriften, einzelne Kapitel oder Ähnliches gibt es nicht. Präauer hantiert mit fließenden Übergängen, die die Message des Essays schließlich erneut in einer Geräuschkulisse ausklingen lassen. Nach dem letzten Satz lässt man das Buch sinken, klappt es zu und betrachtet das haarige Cover. Wie ein künstlicher Pelz – orange-bläulich mit fremdartigen Strukturen – ummantelt es Präauers Text, und irgendwo zwischen den ausgereiften Überlegungen und den behaart-glatten Buchdeckeln beginnt man sich zu fragen, wo der eigene Gregor Samsa denn nun steckt.