Vor Gier nach Emilia Galotti ist der Prinz so verblendet, dass er den Tod ihres Gatten und letztlich sogar ihren eigenen in Kauf nimmt. Am Göttinger DT feierte Lessings prominentestes bürgerliches Trauerspiel kürzlich Premiere.
Von Stefan Walfort
Einen größeren Unfug bekam die theaterinteressierte Welt kaum je vorgesetzt: Emilia Galotti als »ein liebloses Drama«, als eines, das »uns nichts mehr an[geht]«, das »unerträglich geworden« ist und die »Schaubühne als literarhistorische Anstalt« verkümmern lässt. So lautete vor über hundert Jahren ein Urteil der Kritikerlegende Siegfried Jacobsohn. Das Stück berühre das Publikum nicht, ganz im Gegensatz zu Schillers Kabale und Liebe, »weil hinter seinen Versen ein Herz schlägt ‒ während hinter Lessings Prosa ein Kopf arbeitet«.1 Doch Kabale und Liebe ist gar nicht in Versen gedichtet; welch ein Fauxpas! Außerdem war das Thema, das Emilia Galotti in die Katastrophe münden lässt: die Macht der Männer, Frauen als Knetmasse behandeln zu dürfen, zu Jacobsohns Zeit längst nicht abgefrühstückt. Viele Zeitgenossen predigten eine angeblich von der Natur vorgesehene Ungleichheit von Männern und Frauen, oft gestützt auf krude Thesen von Meinungsführern aus der Medizin wie Richard von Krafft-Ebing und Paul Julius Möbius oder aus der Philosophie wie Otto Weininger oder bereits Arthur Schopenhauer.
All die Affirmation misogyner Ansichten blieb nicht unwidersprochen. Auf dem Theater hielt beispielsweise Arthur Schnitzler als einer der prominentesten wie provokantesten Spötter über die Macker-Moral dagegen. Dessen Dramen waren Jacobsohn vertraut. Umso schwerer ist nachzuvollziehen, warum er die Aktualität des Themas übersah. War er 1913, als er die fragwürdigen Passagen zu Papier brachte, völlig von Blindheit geschlagen? Misogynie war allgegenwärtig. Und sie ist es noch immer ‒ unter anderem, weil sich regressive Kräfte bisher stets einer stärkeren Lobby gewiss sein konnten als emanzipatorische. Darüber hinaus gehorcht Emanzipation nie simplen, von Linearität ausgehenden Fortschrittsnarrativen. Das hat mit einer Fülle von Ursachen zu tun: »Gegen die Unabhängigkeit der Frau wirken […] so viele Faktoren zusammen, daß nie gleichzeitig alle außer Kraft treten«,2 so konstatierte Simone de Beauvoir 1949 in ihrem Standardwerk Das andere Geschlecht, mit dem sie die Tradition, die die Bedürfnisse von Frauen der Deutungsmacht der Männer unterwirft, von der Urgeschichte bis zur Moderne nachzeichnete. Geändert hat sich daran bislang nichts.
Die derzeitige Me-too-Debatte zeigt nur einen winzigen Ausschnitt aus dieser Dynamik. Einerseits rückt sie ein paar der alltäglichen Facetten patriarchaler Herrschaftsansprüche ins allgemeine Bewusstsein. Darauf ließe sich aufbauen. Andererseits spült die Debatte diverse Kuriositäten an die Oberfläche: Berichte über die Übergriffe des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein waren teils von antisemitischen Topoi durchzogen.3 Auch kann gegenwärtig gar nicht oft genug an die Perfidie erinnert werden, mit der die neurechte Szene Zerrbilder von Migranten als notorische Grapscher in Umlauf bringt, um von der eigenen patriarchalen Ideologie abzulenken. Darüber, dass die Saat aufgeht, kann angesichts von rasant steigenden Zustimmungswerten für die AfD niemand mehr hinwegtäuschen. Der Befund erschüttert. Dagegen tut es gut zu sehen, wie Maik Priebes Regieteam am DT auf das im 18. Jahrhundert herrschende ‒ und wohlgemerkt männlicher Definitionsmacht entspringende ‒ Ideal vorehelicher Unberührtheit der Frauen zurückweist und es destruiert. Was das Publikum zu sehen bekommt, ist eine Weiblichkeit, die von eigener Tatkraft rege Gebrauch macht, statt sich länger zur Passivität verdammen zu lassen. Dazu bedarf es nur eines denkbar einfachen Kniffs: Alle männlichen Rollen werden von weiblichen Schauspielerinnen übernommen, alle weiblichen von Männern.
Vor einem sich drehenden, grauen Betonquader lässt Rebecca Klingenberg als Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla, lauter Bittschriften zu Boden segeln. »Wenn wir allen helfen könnten, dann wären wir zu beneiden«, so merkt sie lapidar an. Eigentlich träte nun ein Kammerdiener auf, der die baldige Ankunft Orsinas, der ehemaligen Geliebten des Prinzen, verkündet. Kurz darauf würde er abgelöst durch den Maler Conti, der dem Prinzen ein Porträt Emilia Galottis aushändigt, in das der sich sogleich verknallt. Beide Rollen wurden jedoch gestrichen. Stattdessen dreht sich alles um den Plan des Fieslings Marinelli (Gitte Reppin): Der bietet an, den Hochzeitstross des Grafen Appiani überfallen zu lassen, auf dass Emilia kurz vor der Vermählung der beiden auf des Prinzen Lustschloss Zuflucht suche, Letzterem, der sich längst vor Gier nach ihr verzehrt, also geradewegs in die offenen Arme laufe. Abweichend von der Textvorlage erweckt der Prinz hier nicht den Eindruck, er schlittere von Marinellis Intrigen nur halb überzeugt in das sich anbahnende Unglück hinein. Nein, vom ersten Auftritt an verleiht ihm Klingenberg die Aura eines verbissenen, auf rücksichtsloses Vorpreschen drängenden Herrschers. In ihre Befehle mischt sich im Eifer überbordender Emotionen eine zunehmend schrillere Tonlage.
Graf Appiani (Gaia Vogel) überlebt den Überfall auf seine Kutsche nicht. Auf die Todesnachricht hin gerät der Prinz gegenüber Marinelli in einen kurzen Tobsuchtanfall, packt ihm an die Kehle, stößt ihn zu Boden, fragt rhetorisch, ob er nun allen Ernstes zufrieden sein solle. Laut Text hat Marinelli den Mord von vornherein einkalkuliert. Im DT sind diesbezüglich alle Repliken gestrichen. Der Prinz bohrt auch nicht weiter nach. So genau will er die Details gar nicht wissen. Ihm steht ja der Sinn nur nach Emilia. Erst als die von ihm als geistig minderbemittelt abgestempelte Orsina (Roman Majewski) zur Tür hereinstöckelt und beim Entjungfern Emilias zu stören droht, gefolgt von Emilias vor Zorn bebendem Helikopter-Daddy Odoardo (Gaby Dey), ist das Chaos perfekt. Alle bieten ein Gefühlsdrama voller Emphase. Zu sehen, wie Deys Wangenknochen mahlen, während sie in ihrer Rolle mit aller Kraft die Wut im Zaum zu halten sucht, ist amüsant und einschüchternd zugleich. Vom ersten Auftritt an wirkt sie besonders rastlos, wenn sie über die Bühne fegt, konsequent einen auf Stinkstiefel macht und alle anpampt ‒ allen voran die Gattin Claudia. Wen wundert da noch, wenn es Odoardo mit wenig Überwindung fertigbringt, Emilia den Dolch in den Hals zu rammen, um ein außereheliches Verhältnis seiner Tochter mit dem Prinzen zu unterbinden?
Momente der IllusionsdurchbrechungAlle anderen Darsteller spielen nicht weniger grandios. Im Gegenteil, das Ensemble ist bei der Premiere vom 27. Januar in Topform. Das gilt vor allem für Marius Ahrendt als Emilia. Zwar ist er die meiste Zeit hinter der Betonfassade des Quaders verschwunden. Assoziationen an Gefängnisse blitzen ab und zu auf. Zwischendurch wird sein Gesicht auf die Front projiziert. Die Defloration durch den Prinzen ist darauf zu sehen ‒ symbolisiert durch Wasserstrahlen, deren Druck der im blutroten Kleid klebende Körper hilflos zu ertragen hat, und durch Rosenblätter, die Marinelli vor der Fassade verstreut. Doch zum Schluss, wenn Emilia klatschnass, am ganzen Körper bibbernd und aus lauter Panik vor dem Prinzen mit den Worten: »Solcher Väter gibt es keinen mehr« den Todesstoß erflehend auf Virginius anspielt,4 so ist das schier überwältigend. Auch Volker Muthmann als Claudia ist hervorzuheben. An dessen Klamottenstil geben sich Momente der Illusionsdurchbrechung zu erkennen. Einen bräunlich-roten Pelzmantel, wie ihn für gewöhnlich nur Tanten mit Hang zur Extravaganz tragen, hat er lediglich lässig übergeworfen. Darunter guckt ‒ stark kontrastierend ‒ schlichte Alltagskleidung für Herren hervor. Hier macht Theater nicht nur die eigene Künstlichkeit transparent. Es verweist zugleich auf den Konstruktionscharakter von Geschlechterrollen.
Kurzum: Emilia Galotti am DT ist allererste Sahne. Möge das Stück dazu beitragen, dass sich die Hoffnung der Dramaturgin Verena von Waldow, die sie dem Publikum im Vorgespräch mit auf den Weg gab, eines Tages erfüllt: Der bei Lessing mitverhandelte Ständekonflikt des 18. Jahrhunderts sei zwar überwunden, der Geschlechterkonflikt hingegen noch lange nicht. Vielleicht werde er es in einem der nächsten Jahrhunderte oder womöglich schon vorher sein. Wünschenswert wäre es auf jeden Fall.