Joachim Lottmann schreibt in seinem Werk Endlich Kokain über den unterhaltsamen Lebenswandel eines spießigen Gutmenschens, der im Kokainsrausch zum lang erhofften Lebensglück gelangt. Begleitet wird er dabei von skurrilen Gestalten einer amüsant überzeichneten Wiener Kunstszene.
Von Matthias Niedzwiedz
Endlich Kokain ist die Geschichte eines »Lebendigwerdens«, wie es der Autor Joachim Lottmann in einem Brief an seinen Verleger Helge Malchow vor der Veröffentlichung seines neuen Romans kaum treffender hätte formulieren können. Es ist die Geschichte eines Mannes, der mit seiner trostlosen Vergangenheit abrechnet und endlich anfängt, sein Leben hemmungslos zu genießen. Sein spießiger Charakter und seine kontrollierte Art haben ihn das ganze Leben lang daran gehindert. Das Mittel zur neuen Glückseligkeit: Kokain.
Lebenswandel – und zwar sofort!Der Mann, um den sich der Roman dreht, ist der 53-jährige Stephan Braum, der in Wien lebt und an starkem Übergewicht leidet. Sein Zustand ist so schlimm, dass ihm ein Arzt prognostiziert, nur noch höchstens drei Jahre zu leben. Als Braum zufällig den Tipp bekommt, dass allein die radikale Zunahme von harten Drogen das Gewicht reduzieren lässt, packt er die Gelegenheit beim Schopfe und lässt sich auf eine Kokain-Diät ein. Denn eines ist sicher: Als ein im »Elefantenkörper« steckender und frühpensionierter TV-Redakteur des ORF möchte er nicht auf ewig in Erinnerung bleiben.
Der Autor Joachim Lottmann verzichtet an dieser Stelle erfreulicherweise auf unnötiges Vorgeplänkel und leitet den Lebenswandel seines Helden sehr schnell ein. Erst wenige Seiten sind gelesen, als der Protagonist in einer Toilette eines Drogenlokals bereits das erste Mal Koks durch seine Nase zieht und sich anschließend im Rausch befindet. Da Stephan das Projekt wissenschaftlich angehen und jederzeit die volle Kontrolle über seinen Verstand besitzen möchte, legt er ein Tagebuch an, in dem er seine Erfahrungen über die Auswirkungen der Droge auf seinen Körper festhält. Das ist von Lottmann geschickt eingefädelt, denn durch die wiederkehrenden Tagebucheinträge, die im Verlauf des Romans immer umfangreicher werden, erhält der Leser einen tiefen und detaillierten Einblick in die Gefühlswelt und in die Handlungen des Kokainisten – über seine Dosierungen, seine Rauschzustände, sein gesteigertes Selbstbewusstsein, seine Gewichtsveränderungen oder seine Begegnungen mit attraktiven, verrückten und bizarren Gestalten. Die Sucht ist für Braum nicht der Anfang vom Ende, sondern der Beginn eines neuen und noch nie dagewesenen Lebens.
Eine verschnupfte Szene zum WohlfühlenBraum ist sogar irgendwann eine der gefragtesten Personen in der Wiener Kunstszene, die ihn dank seines regelmäßigen Kokainkonsums von nun an automatisch umgibt. Lottmann skizziert hier eine Welt von Künstlern und Intellektuellen, die alle dem weißen Pulver verfallen sind. Braum kommt sich in dieser Welt auf Anhieb nicht fremd oder verloren vor. Denn Süchtige erkennen sich
Den Gipfel der überzeichneten Darstellung stellt allerdings die Figur von Braums gutem Freund Josef Hölzl dar, der als einer der beliebtesten und erfolgreichsten, aber auch sexsüchtigsten Künstler gilt und nicht erkennt, dass seine in der Nationalgalerie hängenden Werke gar nicht von ihm stammen:
»Ich hab’ da wieder einmal ne ganz neue Kurve genommen, ich hab’ da was gespürt … frag’ mich nicht, wie mir das immer wieder gelingt!«
An der Person Hölzl lernt der Leser schließlich auch kurzzeitig die Schattenseiten des Drogenrausches kennen. Dieser reizt seine exzessive Lebensweise mit dem Koks nämlich so lange aus, bis er ins Koma fällt und dem Tod damit sehr nahe kommt. Wer an dieser Stelle erwartet, dass die Geschichte nun endlich eine Wendung bekommt, eine moralische Dimension annimmt oder dass bei Braum bezüglich seines eigenen Drogenkonsums ein Umdenken stattfindet, der hat falsch gedacht. Im Gegenteil: Braum profitiert sogar von der Abwesenheit Hölzls, indem er dessen Galerie als Nachlassverwalter weiter leitet und damit (illegal) viel Geld macht. Für den Kokainisten bleiben negative Konsequenzen größtenteils aus. Der Stoff macht ihn weiterhin dünner, selbstbewusster, erfolgreicher. Als Leser mag man sich wundern, wie schnell Braum plötzlich mit diversen Kontakten aus der Kunstszene vernetzt ist. Alles scheint einfach zu gehen. Kürzere Entzugserscheinungen nach unfreiwilligem Nicht-Konsum scheinen dagegen eher Lappalien im Vergleich zu dem Leid vor seinem Lebenswandel zu sein. Eine kritische Reflexion über den eigenen Drogenmissbrauch findet kaum statt.
Mit der Vergangenheit abrechnenVielmehr rückt Lottmann letztendlich das Zurücklassen der Vergangenheit seines Helden in den Vordergrund: Wie Braum etwa den ORF-Intendanten in einem Telefonat energisch zurechtweist und vom Filmemachen über bereits feststehende Weltbilder für das linksliberale Gutmenschentum nichts mehr wissen will; wie er seinem ebenso spießigen wie auch geizigen Bruder bei dessen Besuch in Wien nicht mehr die volle Beachtung schenkt; wie er sich an Bildern seiner ehemaligen Freunde und Bekannten erfreut, weil er froh ist, mit solch langweiligen Menschen nichts mehr zu tun haben zu müssen; oder wie er die lange Zeit mit seiner Ex-Ehefrau als eine verlorene Zeit einschätzt. Man könnte den Eindruck haben, dass Joachim Lottmann mit seinem Roman mitteilen möchte, dass wir nicht zurückblicken, nicht nach der Pfeife anderer tanzen müssen, sondern dass wir das tun sollen, was uns Spaß macht oder einfach: dass wir leben sollen. Denn es ist ja schließlich eine selbsternannte Geschichte des »Lebendigwerdens«. Dass Braum zu seinem positiven Lebenswandel ausgerechnet durch das Mittel Kokain gelangt, erscheint fragwürdig. Aber genau diese Kombination aus menschlicher Entwicklung und skurriler Drogenszene macht den Roman so unterhaltsam. Einer, bei dem man fast selbst in einen euphorischen Rausch verfällt.