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Reihe: Jenseits des Kanons
Mundart, Migration, Marxismus

Emerenz Meier schrieb bairische Mundart und wurde zu einer lokalen Bekanntheit. Dann wanderte sie in die USA aus, widmete sich dem Kommunismus und pointierte die Sozialkritik ihrer Texte. Ihr Werk lädt ein, auch vermeintlich randständige Literatur in ihrer Zeit zu erschließen.

Von Hartmut Hombrecher

Hätte Göthe Suppen schmalzen
Klöße salzen
Schiller Pfannen waschen müssen,
Heine nähn, was er verrissen,
Stuben scheuern, Wanzen morden
Ach die Herren
Alle wären
Keine großen Dichter worden.1

In diesem auf kariertem Papier hingeschriebenen Gedicht steuert die Schriftstellerin Emerenz Meier ein nicht nur zur Entstehungszeit um 1900 wenig beachtetes Thema an: inwiefern weibliche Care-Arbeit die Produktion von Literatur behindert oder sie zugleich inspiriert. Dichtung – oder zumindest ›große‹ Dichtung – wird hier als etwas verstanden, das Zeit und Muße erfordert und zwischen den alltäglichen Tätigkeiten im Haushalt keinen Platz finden kann. Dass dabei im Gedicht nicht nur ein Klagen über die missliche Situation weiblicher Literaturproduktion enthalten ist,2 sondern auch ein feiner Spott für die im Geniekult geprägte Überhöhung der männlichen Dichter mitschwingt, ist kaum zu übersehen: Durch die Verquickung mit gar nicht künstlerischer Haushaltsarbeit werden »die Herren« von ihrem Sockel gehoben, »Göthe« wird sogar in einer Assonanz mit dem Schmalzen der »Klöße« verbunden.

Solche Verfahren sind typisch für das Werk von Emerenz Meier – und sie wurden in der Öffentlichkeit wie in der Forschung bisher nur wenig beachtet. Das ist bedauerlich, denn Meiers Werk gibt in vielerlei Hinsicht Einblick in marginalisierte Literaturen ihrer Zeit: in die nicht-avantgardistische und nicht-intellektuelle Literatur jenseits der urbanen Zentren ebenso wie in die Arbeiterliteratur, in die Mundartliteratur und in die so genannte ›Migrationsliteratur‹. Damit gehen fraglos Positionen einher, die aus Sicht des 21. Jahrhunderts nur als Irrwege zu bezeichnen sind. Doch in der Breite zeigen sich auch die Gründe, derentwegen Meier zu jenen Dichterinnen der Jahrhundertwende gehört, die heute nahezu vergessen sind. Um diese Gründe nachzuvollziehen und Prozesse von Kanonisierung zu reflektieren, lohnt sich auch ein Blick in die Biographie der Schriftstellerin.

Die Dichterin des Bayerischen Waldes

Meier wurde 1874 in Schiefweg im unteren Bayerischen Wald geboren.3 Ab den 1890ern begann sie, Gedichte und Erzähltexte zu verfassen und in (meist lokalen) Zeitungen sowie Zeitschriften zu publizieren. 1897 erschien dann ihr erstes und einziges Buch Aus dem bayerischen Wald, ein Band mit vier Erzählungen. Viele ihrer Texte sind ganz oder anteilig in Bairischer Sprache verfasst und thematisieren – zumindest vordergründig – das Leben im Bayerischen Wald.

Auch wenn sie in Niederbayern mit dieser Kunst einige Berühmtheit erlangte und es sogar Postkarten sowie Jahrmarktkitsch mit ihrem Konterfei gab, konnte sie keinen ökonomischen Gewinn aus ihrer Arbeit ziehen. Da ihre Eltern und Geschwister ebenfalls unter wirtschaftlichen Problemen litten, beschloss man, sukzessive nach Chicago auszuwandern und in Amerika ein neues Leben aufzubauen. Emerenz Meier folgte 1906 als letzte ihrer Familie gemeinsam mit der Mutter. Auch in den USA kam man aber nicht aus dem wirtschaftlichen Elend heraus. Die Schriftstellerin sprach in Chicago offenbar recht reichlich dem Alkohol zu und starb 1928 an einer chronischen Nierenentzündung im Alter von nur 53 Jahren.

Ihre literarischen Texte sind zum Teil in den besagten Blättern und in Form des Prosabandes überliefert. Weitaus größer ist aber der Anteil der unpublizierten Texte, zum Teil aus ihrem eigenen Nachlass, zum Teil aus den Nachlässen ihrer Freunde und Förderer Auguste Unertl und Hans Carossa.4 Die Aufarbeitung des Nachlasses findet bisher hauptsächlich in Niederbayern statt: Die ortsansässige Literaturwissenschaft und Heimatforschung haben manches zur Erforschung von Emerenz Meiers Werk beigetragen und vor allem dankenswerterweise überlieferte Texte zur

Band 1

/
Emerenz Meier
Gesammelte Werke – Band 1
Grafenau: Morsak und Ohetaler-Verlag 2012
622 Seiten, 24,90€

 

Band 2

/
Emerenz Meier
Gesammelte Werke – Band 2
Grafenau: Morsak und Ohetaler-Verlag 2012
476 Seiten, 24,90€

 
 
Verfügung gestellt.5 Auch ein Meier- und Auswanderer-Museum gibt es in Schiefweg seit 2010, zudem zwei Spielfilme sowie eine Dokumentation über Meiers Leben und eine Reihe musikalischer Verarbeitungen ihrer mundartlichen Gedichte.6 Über Niederbayern hinaus hat kaum eine dieser Initiativen Wirkung gezeigt. Dabei wäre das Œuvre von Emerenz Meier durchaus eine breitere Rezeption wert – insbesondere als Einblick in weniger kanonisierte Literaturtraditionen.

Dass diese bisher nicht stattgefunden hat, mag auch an der schon im 19. Jahrhundert beginnenden Aufnahme als ›Dichterin des Bayerischen Waldes‹ liegen. Bis heute wird Emerenz Meier fast ausschließlich als Heimat- und Volks-, um nicht zu sagen Wald- und Wiesendichterin, wahrgenommen. Die erstaunlich zahlreichen kleinen und kleinsten wissenschaftlichen und journalistischen Arbeiten stellen immer wieder ihre Biographie vor und verweisen auf ihre vermeintlich zeitgenössische Rezeption als ›Naturtalent‹ sowie ihre enge ›seelische Verbundenheit‹ mit dem Bayerischen Wald. Das sind fraglos wichtige Aspekte für viele von Meiers Werken, doch es ist bemerkenswert, dass dabei in dutzenden Publikationen nahezu nie etwas Neues gesagt wird. Obwohl die literarische Qualität ihrer Dichtung häufig angepriesen wird, ist eine Analyse der meisten Texte bisher ausgeblieben. Das gilt sogar für Meiers wohl bekanntestes mundartliches Gedicht:

Wödaschwül’n

Mi’ würgt der Wind, mi’ druckt der Tag –
Hü, meine Öchsl, hü!
Schwül wirds, es kimmt a Wödaschlag.
Hü, meine Öchsl, hü!
Der Acker hat an hirt’n Bod’n,
Der Mähnt koan Gang, der Pfluag an Schod’n –
Hü, meine Öchsl, hü!

Mi’ würgt der Wind, mi’ brennt der Tag!
Hott, meine Öchsl, hott!
Und daß mi’ ’s Mensch iatzt nimmer mag? –
Hott, meine Öchsl, hott!
Es hat – i’ moan’ – sein guat’n Grund,
Und wann i ’hn net derstich, den Hund,
Den schlecht’n, straf mi’ Gott!

Mei’ Mensch is schö’, drum g’fallts eahm guat.
Wüah, meine Öchsl, wüah!
A Messer und fünf Stich’ gibt Bluat.
Wüah, meine Öchsl, wüah!
Zua bis auf’s Heft und umma’draht,
Verfluachter Lump, wia wohl dös taat!
Wüah, meine Öchsl, wüah!

Und bist so schö’, du schwarze Dirn,
Zauf, meine Öchsl, zauf!
Und hast so ’krauste Haar ums Hirn,
Zauf, meine Öchsl, zauf!
Und lachst so süaß und schaust so fei’
Und kannst so falsch und elend sei’!
Zauf, meine Öchsl, zauf!

Mi’ würgt der Wind, mi’ brennt der Tag!
Aoh, meine Öchsl, aoh!
Muaß ’s sein, daß i’ dös ewi’ trag? –
Aoah, meine Öchsln, aoh!
Der Dunner kracht, es blitzt und brennt,
Schlag, Herrgott, ein und mach an End! –
Aoh, meine Öchsl, aoh!7

Dass solch ein Mundartgedicht keinesfalls eine heile Welt präsentiert, sondern von unerwiderter Liebe, Leid, Gewalt und Tod spricht, zeigt sich in Wödaschwüln nicht nur im Inhalt, sondern auch in dessen Verbindung zur Form: Es liegt nahe, in der Repetition des von Strophe zu Strophe variierten Kehrverses die ausweglose Last von Ochse und Ich zu erkennen. Helfen kann aus dieser Perspektive nur der »Herrgott«, indem er »an End« mache. Auch in der Strophenform selbst findet sich ein Bezug zum Religiösen, entstammt die siebenzeilige ›Lutherstrophe‹ doch der Kirchenliedtradition. Zugleich bilden Strophenform und Kehrvers ebenso wie die herausgestellte Mündlichkeit eine Verbindung zu Gesang und Klage.

Hinwendung zum Politischen

Damit sind drei wesentliche Aspekte benannt, die in Emerenz Meiers gesamtem Werk durchgehend begegnen: Klage, Religion und Mundart. Eine Rückführung der Klagesituation auf gesellschaftliche Gegebenheiten ist dabei grundlegend schon in den Texten aus der bayerischen Schaffenszeit angelegt. Sie wird jedoch mit Meiers Auswanderung nach Amerika ungemein verstärkt. Aus zahlreichen der in Amerika verfassten Gedichte spricht zudem ein offenbar erst in Amerika entwickelter Antiamerikanismus.

Kennst du das Land, wo Grabsch und Humbug blüh’n,
Die Herzen einzig für den Dollar glüh’n,
Wo Geld vor adliger Gesinnung geht,
Die Schlauheit hoch, die Treue niedrig steht,
Kennst du das Land, dahin, dahin
Würd ich, hätt ich die Wahl, nie wieder zieh’n.

Kennst du die Stadt, mit ihrem großen Dreck,
Ein Wirtshaus steht an jeder Straßeneck
Und in Fabriken schwitzt die Menschenbrut,
Es saugt das Kapital ihr rotes Blut,
Kennst du die Stadt, dahin, dahin,
Laß niemals mich, o ew’ger Vater, zieh’n.

Du Stadt am Michigan, voll Weh und Ach,
Wo manches hoffnungsvolle Herz zerbrach,
Die Sterne nachts am Himmel schau’n mich an,
Was hat man dir, du armes Kind getan?
Kennst du die Stadt, dahin, dahin,
Laß dich von keinen tausend Pferden zieh’n.8

Bis zur wörtlichen Übernahme in »Was hat man dir, du armes Kind getan?« dichtet Meier das berühmte Lied der Mignon aus dem Wilhelm Meister nach, modifiziert es aber ins Negative – und das mindestens ein Jahrzehnt vor Erich Kästners Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn. Die antiamerikanischen Vorwurfselemente sind schnell gefunden: Gewinnsucht, Oberflächlichkeit, Materialismus und Sittenlosigkeit in der ersten Strophe. Ebenso in der zweiten Strophe, zusammen mit der Massenhaftigkeit der »Menschenbrut«. Das Gedicht hat deutlich einen antikapitalistischen Impetus, andere Bereiche werden weitgehend ausgespart. Der hier nur angedeutete Vorwurf der Kulturlosigkeit findet sich allerdings sonst deutlich in Meiers Schriften, etwa in einem Brief an ihre Freundin Auguste Unertl vom 27. April 1921. Meier schreibt dort: »Du fragtest mich einmal nach angesehenen amerikanischen Literaten. Ach es gibt deren eine solche Unzahl, daß es unsereinem schwer fällt, die besten herauszufinden. Denn diejenigen, die berühmt sind, sind beileibe nicht die besten. Sie schmeicheln nur dem hiesigen Tagesgeschmack, der verdorben oder primitiv genug ist. Der Amerikaner ist ein sensationslüsterner, grobsinnlicher Kerl. Seine Heros müssen durchtriebene, gewissenlose Lebemänner, seine Heroinnen abgeschmackte Puppen sein. Das Grausen kommt einem an, wenn man die meistgelesenen Bücher durchblättert.«9


Emerenz Meier via Wikipedia, gemeinfrei

In Kennst du das Land wo Grabsch und Humbug blühn wird mit dem blutsaugenden Kapital außerdem ein verbreitetes antisemitisches Bild aufgerufen. Die Verbindung von Antiamerikanismus und Antisemitismus ist generell eng, die jeweils geäußerten Vorwürfe ähneln sich und haben oft auch ideologische Gemeinsamkeiten.10 Die von Emerenz Meier zu diesem Thema überlieferten Äußerungen in einem Brief an Auguste Unertl vom 20. Oktober 1927 sind ambivalent: »Im Übrigen hasse ich die Juden nicht, ich sehe aber doch mit Bangen[,] daß sie sich bald die ganze Welt erobern. Amerika haben sie fast vollständig. Fast alle Millionäre u. gewöhnlichen Kaufleute sind Juden. Mit Lumpensammeln begannen sie, als Beherrscher von Riesenbanken hören sie auf. Sie sind beileibe nicht schlecht u. betrügerisch, nur schlauer als die altgermanische Rasse und unermüdlich am Werk. Die Nachkommen Abrahams[,] Isaks und Jakobs werden einst die Welt regieren, wenns so weitergeht. Vielleicht nichteinmal zum Schaden für die Menschheit. Sind doch die größten Weltverbesserer, Künstler[,] Dichter, Philosophen, Naturforscher, u.s.w. aus ihrer Rasse hervorgegangen.«11

Naturdichtung und Radikalität

Meier hat durch ihren frühen Tod 1928 den Nationalsozialismus nicht mehr miterlebt, und in ihren Texten finden sich sonst auf den ersten Blick kaum nationalistische oder gar völkische Positionen.12 Eine genauere Betrachtung der ideologischen Hintergründe ihrer Dichtung steht aber nach wie vor aus – und wäre doch sicher auch poetologisch interessant. Mit Blick auf ihren Antiamerikanismus ist vor allem bemerkenswert, dass Meier einen Punkt ergänzt, der nicht zu den zentralen Topoi des Antiamerikanismus gehört: die Zerstörung der Natur. Dieser Vorwurf wird in anderen Gedichten noch pointierter ausgeführt und lässt sich freilich auch wieder mit der Lesart der ›Dichterin des Bayerischen Waldes‹ in Verbindung bringen.13

Kurzsichtigkeit

Ist das nicht der Tannwald drüben, dunkel, doch mit blauem Haupte,
Sanft verklärt, den in der Heimat ich, froh pfeifend, oft durchschritten?
»Nein, es sind der Schlächterfirma schwärzliche Gebäulichkeiten,
Und der Rauch kam von dem Frachtzug, der soeben hier vorbeifuhr.«

Jene Burg dort auf dem Berge, schimmernd hell im Abendglanze
Streitest du so leicht nicht weg mir, denn ich kenne Burgruinen!
»Ach, das ist doch ein Fabrikschlot und der Berg die Eisenwerke,
Deren Leute jetzt am Streik sind, – Levi, Brooks und Compagnie.«

Kann ich nimmer meiner Sehnsucht und den kurzen Augen trauen?
Wenigstens schwebt dort ein Lerchlein, lustig trällernd, hoch im Blau’n!
»s ist ein Äroplan, ’ne simple, alltägliche Flugmaschine!
Doch im Baume dort, im grünen, zwitschert allerdings ein Spatz.«14

Mit der dialogischen, antithetischen Form zeigt das Gedicht ein (Selbst-)Gespräch, das in seiner Teilung zwischen emotional-nostalgischer Erinnerung an die verlorene Heimat und rational-analytischer Zustandsbeschreibung der Gegenwart Topoi der modernen Migrationsliteratur aufgreift. Darüber hinaus werden – und zwar explizit »verklärte« – romantische Naturvorstellung und Natursehnsucht gegen eine technisch-kulturelle und alltägliche Realität gestellt. Dabei reiht sich insbesondere die ökokritische Darstellung großindustrieller Produktion als locus terribilis in einen Traditionszusammenhang ein, der keineswegs nur auf die Amerikarezeption beschränkt ist.15

Ursprünge zeigen sich schon in Texten zur Zeit der Frühindustrialisierung in den 1730er Jahren.16 Der locus wird von Meier aber erneut antiamerikanisch verwendet: Einmal über die Anknüpfung an die Kritik des Wirtschaftssystems und die explizite Nennung US-amerikanischer Firmennamen, zum anderen durch die Opposition von vermutlich deutscher Wald-Heimat zum Hier und Jetzt des Ichs.17

Meiers Antiamerikanismus (und auch ihr Antisemitismus) speisen sich insbesondere aus ihrer Kapitalismuskritik. Es ist deshalb wenig erstaunlich, aber ohne Frage trotzdem bemerkenswert (und erschwert die ideologische Einordnung ihres Werks zusätzlich), dass sich die bayerische Heimatdichterin mit dieser Kritik in Amerika der kommunistischen Bewegung zuwendet. Sie unterhält Verbindungen zur linksradikalen amerikanischen Arbeiterbewegung und liest neben deutschen Blättern wie dem Simplicissimus auch deren Zeitungen. In einem weiteren Brief an Auguste Unertl vom 15. März 1920 berichtet sie, dass das Leben in Amerika eigentlich ganz schön sein könnte: Die Arbeitszeiten seien akzeptabel, man verhungere nicht, es gebe eine Menge Zerstreuung durch Kinos und Theater. Nur die Prohibition stehe dem glücklichen Leben im Weg und »was nützt das alles. Kapitalistische Herrschaft bleibt. Auch der menschlich gesinnteste Anhänger derselben wird schlauerweise immer dafür sorgen, daß es ein Proletariat gibt, – und uns ungebildeten Massen, die sich nach Belieben zur Verteidigung der Vorrechte und des Besitzes etlicher weniger verwenden lassen, zu Schlächtern und als Schlachtvieh. […] Ich bin fürchterlich radikal gesinnt, war es eigentlich immer, insgeheim.«18

Auch diese in zahlreichen Briefen ausgeführte politische Einstellung findet sich in Meiers Gedichten. Am deutlichsten wohl im Radikalen Rat von 1917/1918, der vom Tonfall deutlich an die anarchistische Lyrik Erich Mühsams erinnert und in dem Meier zu Streik und Herrschermord aufruft. Die Nähe, die das Gedicht dabei zur antiimperialistischen Theorie hat, wie sie zur Zeit des Ersten Weltkrieges in den USA zunehmend Verbreitung fand, ist kaum zu übersehen:

Radikaler Rat

Wer verschuldet diesen Weltkrieg
Sind nicht nur die Potentaten,
Ist auch Werk der frommen Massen,
Inwiefern, will ich verraten:

Diese Welt ist ein Planet nur,
Seine Räumlichkeit bemessen.
Wächst die Menschheit an zu reichlich,
Ist er baldigst abgefressen.

Da die Großen dieser Erde
Doch zweidrittel für sich wollen,
Woher sollen dann die andern
Millionen ihres holen? –

Sehen Sie, das ist die Sache.
Darum fängt man an mit Kriegen
Und erschlägt mit einer Klappe
Viele Millionen Fliegen.

Viele Eltern, viele Kinder,
Viele Kinder, viel Soldaten!
Schränkt Euch ein mit Produzieren,
Und schlagt tot die Potentaten.19

Hürden der Kanonisierung

Ob und in welchem Umfang Emerenz Meiers ungedruckte Texte von anderen gelesen wurden, ist bisher nicht bekannt. Zumindest denkbar ist es, dass sie im privaten Umfeld zirkulierten, in Arbeiterzeitschriften erschienen oder sogar – ähnlich wie bei Mühsam – auch für Flugblätter genutzt wurden. Dass wir trotz der verhältnismäßig guten Nachlassüberlieferung bisher nur wenig über Meiers Texte wissen, liegt fraglos an der fehlenden Kanonisierung ihrer Werke. Man wird weder die Gedichte noch die Erzählungen in die erste Reihe der Literatur stellen müssen, doch spielen bei der ausbleibenden Kanonisierung komplexere Prozesse eine Rolle als die bloße Bewertung der dichterischen Qualität. Es wurde schon angedeutet, dass Texte in bairischer Sprache allein aus Verständnisgründen nur einer kleineren Rezeptionsgemeinschaft zugänglich sind. Hinzu kommt, dass nationalstaatlich spätestens ab dem 19. Jahrhundert versucht wurde, Einsprachigkeit herzustellen.20

Dieses monolingual paradigm führt nicht nur in kolonialen Kontexten zu einer Abwertung von gegebener Mehrsprachigkeit, sondern wirkt sich auch auf den sozialen und politischen Status von sogenannter ›Mundartliteratur‹ aus. Viele der Gegenbewegungen zur Mehrsprachigkeit waren indes von völkischem Gedankengut geprägt und haben auf die Wahrnehmung der von ihnen verteidigten Literatur abgefärbt: ›Mundartliteratur‹ wird auch heute noch häufig als volkstümelnd, regressiv oder reine Unterhaltungsliteratur angesehen. Für die öffentliche Rezeption der entsprechenden Texte kommt

Reihe

Die ausgetretenen Pfade des literarischen Kanons verlassend setzen die Autor*innen dieser Reihe sich mit Dichterinnen, Denkerinnen, Schriftstellerinnen auseinander, deren Werke oft ganz zu Unrecht im Schatten kanonischer Texte liegen und hier in Teilen neu entdeckt werden können. Weitere Beiträge folgen hier.

 
 
erschwerend hinzu, dass sie durch ihre Sprache und oft auch Themen tatsächlich häufig regional verwurzelt sind. Insbesondere die verbreiteten identifikatorischen Lesarten der Texte funktionieren deshalb für viele Leser*innen, die eine entsprechende regionale Verwurzelung nicht teilen, nur schlecht. Damit wird über die wissenschaftliche Rezeption hinaus auch die populäre Rezeption beschränkt.

Für Emerenz Meier gilt diese Begründung allerdings nur bei einem Teil der Texte, denn immerhin sind uns heute auch viele lyrische und erzählerische Werke bekannt, die trotz kleinerer mundartlicher Einsprengsel21 vor allem standardsprachlich verfasst sind. Hier kommen dann andere Prozesse zum Tragen, die das Ausbleiben einer Kanonisierung begünstigen. Viele davon sind in den Produktionsbedingungen der Literatur zu finden: Mehrere von Meiers Texten beklagen selbst die Schwierigkeiten weiblicher Literaturproduktion, denn die erwartete Fürsorge und strukturelle Abhängigkeit von Männern erschwerten nicht nur die Bildung, sondern auch die Muße. Schon urban lebender Schriftsteller zu sein, war um 1900 nicht leicht, Schriftstellerin aus bäuerlichem Milieu nahezu unmöglich.

Darüber hinaus ist auch migrantische Literatur Marginalisierungsprozessen ausgesetzt: Wenn Meier in Amerika schrieb, schrieb sie auf Deutsch, ohne vor Ort ein Publikum zu haben. Die Kontakte nach Deutschland waren aber – zumal in wirtschaftlich schwieriger Situation – nur eingeschränkt aufrechtzuerhalten. So kommt es, dass die meisten von Meiers Texten uns heute nicht als Drucke zu Lebzeiten, sondern als Manuskripte vorliegen, zum Teil stenographiert. Auch solch eine Überlieferung muss die Rezeption nicht verhindern, berühmte Gegenbeispiele sind Franz Kafka und Fernando Pessoa. Doch schließt sich der Kreis zur ›Migrations-‹ und ›Mundartliteratur‹ an dieser Stelle, denn die zentrale Frage ist: Wer hat ein Interesse daran, ein entsprechend überliefertes Werk zu erforschen oder seine Erforschung zu fördern und die Texte zu popularisieren? Hängen die migrantischen Texte oft in einem In-Between nationaler Denkmuster fest, wird die ›Mundartlieratur‹ häufig auf ihren regionalen Wirkungskreis reduziert. An Werk und Biographie Emerenz Meiers zeigt sich deshalb ohne Frage auch, wie wissenschaftliche und öffentliche Rezeption ineinandergreifen und dazu führen können, dass Werke in den literarischen Kanon aufgenommen werden – oder eben nicht.

  1. Staatliche Bibliothek Passau, Nachlass Emerenz Meier, SPA-Hss EM 1/1, S. (53).
  2. Als biographisch motiviert wird der Text in diese Richtung z. B. gelesen von Kaspar, Peter 2014: Emerenz Meier und der Dialekt. Dokumentation eines wandelbaren Verhältnisses im zeitgenössischen Kontext. Diss. Regensburg 2013, S. 33. Die Arbeit ist auch Online einsehbar.
  3. Das Geburtsjahr 1874 geben zumindest die meisten Biographien und Nachschlagewerke an. Eine auf den 14. Mai 1902 datierte Bescheinigung des Bezirksamts Wolfstein, das der Dichterin bezeugt, sich »des besten Leumundes« zu erfreuen, nennt als Geburtsdatum allerdings den 25. Juli 1875 (Staatliche Bibliothek Passau, Nachlass Emerenz Meier, SPA-Hss EM 1/12).
  4. Es ist Hans Göttler zu verdanken, dass sie inzwischen in einer zweibändigen Werkausgabe zur Verfügung stehen – editorisch nicht immer einwandfrei, aber dafür auch unter Dechiffrierung diverser stenographischer Passagen in Meiers Handschriften. Vgl. Meier, Emerenz 1991: Gesammelte Werke, hrsg. von Hans Göttler. Grafenau: Morsak.
  5. Vgl. etwa Praxl, Paul (Hg.) 2012: »Ich bin fürchterlich radikal gesinnt«. Die unbekannte Emerenz Meier. Passau: Klinger; Fegert, Friedemann 2014: Emerenz Meier in Chicago. Auswanderung und Leben ihrer Familie in Amerika. »Amerika ist nicht mehr das Land, das von Milch und Honig fließt«. Freyung: Lichtland; Wickham, Christopher J. 2004: Erzählter Wald. Notizen zur frühen Erzählkunst von Emerenz Meier, in: Greule, Albrecht / Hochholzer, Rupert / Wildfeuer, Alfred (Hg.): Die bairische Sprache. Studien zu ihrer Geographie, Grammatik, Lexik und Pragmatik. Festschrift Ludwig Zehetner. Unter Mitarbeit von Ulrich Kanz. Regensburg: Vulpes, S. 201–212.
  6. Zu den Filmen selbst ist inzwischen erste Forschung erschienen. Vgl. Nies, Martin 2014: »Rufmord an einer Bayerwald-Ikone«. Biografische Metafiktion, Heimat-Dichtung und Emanzipation im Emerenz Meier-Film Wildfeuer (1991), in: Decker, Jan-Oliver / Krah, Hans (Hg.): Skandal und Tabubruch – Heile Welt und Heimat. Bilder von Bayern in Literatur, Film und anderen Künsten. Passau: Stutz, S. 315–335.
  7. Staatliche Bibliothek Passau, Nachlass Emerenz Meier, SPA-Hss EM 1/6, S. (1–2). Eine abweichende, vermutlich frühere handschriftlich festgehaltene Version des Textes findet sich in Staatliche Bibliothek Passau, Nachlass Emerenz Meier, SPA-Hss EM 1/1, S. (26–27).
  8. Meier, Emerenz 1991: Kennst du das Land, wo Grabsch und Humbug blüh’n, in: Meier, Emerenz: Gesammelte Werke, Bd. 2: Gedichte, Briefe, Vermischtes, hrsg. von Hans Göttler. Grafenau: Morsak, S. 176.
  9. Brief Emerenz Meier an Auguste Unertl vom 27.04.1921, in: Meier, Emerenz 1991: Gesammelte Werke, Bd. 2: Gedichte, Briefe, Vermischtes, hrsg. von Hans Göttler. Grafenau: Morsak, S. 74.
  10. Zur Verbindung von Antisemitismus und Antiamerikanismus vgl. z. B. Beyer, Heiko / Liebe, Ulf 2010: Antiamerikanismus und Antisemitismus. Zum Verhältnis zweier Ressentiments, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (3), S. 215–232.
  11. Brief Emerenz Meier an Auguste Unertl vom 20.10.1927, in: Praxl, Paul (Hg.) 2012: »Ich bin fürchterlich radikal gesinnt«. Die unbekannte Emerenz Meier. Passau: Klinger, S. 87–88.
  12. Ihr Freund Hans Carossa dagegen gehört zu den am schwierigsten zu bewertenden Persönlichkeiten der nationalsozialistischen Literatur. Vermeintlich in innerer Emigration stehend lehnte er manche Würdigungen ab, andere nahm er an, pflegte gute Kontakte zu hohen NSDAP-Funktionären und nutzte diese zum Teil, um verfolgten Kollegen zu helfen. Adolf Hitler ließ ihn u. a. neben Gerhart Hauptmann, Agnes Miegel und Ina Seidel auf die Sonderliste der sechs wichtigsten Schriftsteller setzen. Zugleich enthielt sich Carossa weitgehend politischer Äußerungen. Ausnahmen gibt es aber auch hier, insbesondere ein Gedicht im 1941 zu Hitlers Geburtstag erschienen Band Dem Führer. Worte deutscher Dichter. Vgl. Carossa, Hans 1941: Kein Künstler, kein Dichter unserer Tage soll es bedauern. In: Velmede, August Friedrich (Hg.): Dem Führer. Worte deutscher Dichter. o.O.: o.V. (Tornisterschrift des Oberkommandos der Wehrmacht; 37), S. 14. Franz Schoenberner schrieb allerdings bereits im Juni 1939 ohne weitere Bestimmung an Hermann Kesten, er habe »vom geistigen Selbstmord Carossas« erfahren ((Brief Franz Schoenberner an Hermann Kesten vom 24.06.1939), in: Schoenberner, Franz / Kesten, Hermann 2008: Briefwechsel im Exil 1933–1945, hrsg. von Frank Berninger. Göttingen: Wallstein, S. 144–148, hier: S. 144). Auch Auguste Unertl scheint dem Nationalsozialismus verbunden gewesen zu sein. Sie versuchte auch, das Werk von Emerenz Meier 1934 für nationalsozialistische Propaganda zu vereinnahmen. Vgl. Berlinger, Joseph 2010: (Art.) Meier, Emerenz, in: Kühlmann, Wilhelm (Hg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, Bd. 8: Marq – Or. 2. Aufl. Berlin / New York: de Gruyter, S. 109–110.
  13. Vgl. z. B. Peinkofer, Max 2005: »Mein Wald – mein Leben«. Lebensbild der Dichterin Emerenz Meier. Grafenau: Samples.
  14. Staatliche Bibliothek Passau, Nachlass Emerenz Meier, SPA-Hss EM 1/6, S. (33–34).
  15. An Meiers Gedicht könnte man genauer genommen auch den Perspektivismus in der Weltsicht zeigen. Das heißt in diesem Fall insbesondere die Interpretation ein und desselben Phänomens als locus amoenus, also als topisch gewordener lieblicher Ort, und als dessen Gegenteil, als locus terribilis, dem schrecklichen Ort.
  16. Heinrich Detering hat erst jüngst erneut auf Carl von Linnés Rezeption der Kupferbergwerke im schwedischen Falun hingewiesen, in der er eine ›Höllenfahrt‹ erkennt. So ausgeprägt und komplex ist die Darstellung bei Meier dagegen nicht. Vgl. Detering, Heinrich 2020: Menschen im Weltgarten. Die Entdeckung der Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt. Göttingen: Wallstein, S. 89–124.
  17. Anders versteht das Gedicht Czezior, Patricia 2018: Emerenz Meier, »des freien Waldes freies Kind«. Eine (Heimat-)Dichterin zwischen Idyll und Fremde, in: Beiträge zur bayerischen Geschichte, Sprache und Kultur 1, S. 103–128, hier: S. 103–104.
  18. Brief Emerenz Meier an Auguste Unertl vom 15.03.1920, in: Meier, Emerenz 1991: Gesammelte Werke, Bd. 2: Gedichte, Briefe, Vermischtes, hrsg. von Hans Göttler. Grafenau: Morsak, S. 234.
  19. Staatliche Bibliothek Passau, Nachlass Emerenz Meier, SPA-Hss EM 1/6, S. (37).
  20. Vgl. Gramling, David 2016: The invention of monolingualism. New York (u.a.): Bloomybury; Yildiz, Yasemin 2012: Beyond the mother tongue. The postmonolingual condition. New York: Fordham.
  21. Vgl. Kaspar 2014: Emerenz Meier und der Dialekt, S. 112–135.


Metaebene
 Veröffentlicht am 5. Juni 2020
 Kategorie: Wissenschaft
 von Sophie Taeuber-Arp via Wikimedia Commons gemeinfrei
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