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Nackte Unterhaltung

Im September veranstaltete das Literarische Zentrum den Auftakt des Herbstprogramms mit einer Diskussion über schlechten Sex. Die Reihe »Hausbesuche« führte in den Parthenonsaal des Instituts für Früh- und Urgeschichte, wo Ina Hartwig und Rainer Moritz einen fröhlichen Austausch über ihre liebsten literarischen Sexstellen führten.

Von Eva Tanita Kraaz

»Zwischen die schönen Nackten« ludt das Literarische Zentrum am 7. September zum Hausbesuch ein. Drei Räume voller strahlend-weißer Antikenästhetik oder »die heiligen Hallen« wie Daniel Graepler, der Kustos der Sammlungen des Archäologischen Instituts den Parthenonsaal nennt. Er wirkt gespannt ob der Suche nach schlechtem Sex, die hier stattfinden soll. Eigentlich, bekräftigt Graepler, sei Aphrodite, deren Skulptur zur Linken der RednerInnen aufgestellt ist, auch nicht die Richtige für misslungene Erotik.

Buch


Rainer Moritz
Wer hat den schlechtesten Sex?
Eine literarische Stellensuche

Randomhouse (DVA), München, 2015
240 Seiten, 17,99€

 
 
Um Sexdarstellungen in der Literatur soll es gehen und dazu haben die Diskutierenden gemeinsam mit der Zentrumsleiterin Anja Johannsen ihre liebsten Stellen geschriebener Erotik mitgebracht. Die geladenen Autoren sind heute Ina Hartwig, die Literaturkritikerin aus Franklfurt und Rainer Moritz, der Literaturhausleiter aus Hamburg. In einem Gestus, der zwischen Nostalgie und Belächeln schwankt, legt der Rainer Moritz den jugendlichen Beginn seiner Suche nach literarischem Sex dar. Zunächst fiel ihm da das Aufklärungsheft Wo kommen die kleinen Buben und Mädchen her in die Hand. Die unbefriedigt gebliebene Neugier schickte ihn dann auf eine Schnitzeljagd, die ihn zu Dafoe und Hesse führte.

Pornografie oder Erotik

Moritz kommt zu der Feststellung, dass »Sexstellen als Gradmesser für Autorenqualität« dienen könnten. Dem stimmt Hartwig zu. Auf dem Tisch zwischen den beiden stehen die Rotweinflasche und das Buch von Moritz. Ihre ersten literarischen Sexbegegnungen hätten verschiedener nicht sein können: Der Auslöser von Hartwigs Suchbegeisterung war der zufällige Fund eines Pornohefts im Alter von 12 Jahren. Die damalige Bestürzung: »Sowas gibt es?« habe mittlerweile das Eingeständnis einer eigenen »Gattung: Pornografie« abgelöst.

Ohne überhaupt eine der vorbereiteten Stellen gehört zu haben, entspinnt sich zwischen den beiden ein reges Gespräch. Das reicht von der Unterscheidung zwischen erotischer und pornografischer Literatur – dass bloße Pornografie auch lustvoll sein könne, sei »Unsinn« – bis hin zu den literarischen Ausformungen der »Entkleidungsfrage«. Im Einklang belächeln beide die viel benutzte Wendung: »… und sie rissen sich die Kleider vom Leib.« Erst als Johannsen sich dazwischen meldet, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Vorleserin des Abends.

Zwischen Gemüseabteilung und Einrichtungshaus

Die ehemalige Göttinger DT-Schauspielerin Imme Beccard kündigt daraufhin augenzwinkernd den ersten Auszug an: »In meinen Regieanweisungen steht: Mit der Wurst beginnen, um gleich mal die Verklemmungen zu lösen.« In Patrick Hofmanns Roman Die letzte Sau beschreibt ein Junge aus einer Voyeursperspektive den Sex seiner Cousine mit einer Fleischerin. Zur gegenseitigen Befriedigung hinzugezogen werden – naheliegend – Würste. Hartwig und Moritz sind sich einig: Hormanns Text wird seinem Anspruch, frivol zu sein, durchaus gerecht. In einem bübischen Ton entwirft er für den Text den Begriff des »Blutwurst-Dildos« und fügt hinzu: »Blutwurst hat was. Frankfurter Würstchen wären total ungeeignet.« Kulinarische Objekte seien seit Adam und Eva mit Sex verbunden. So ergebe sich eine wiedererkennbare Obst- und Gemüsesymbolik.

Dem eindeutigen Unterhaltungswert dieser Stelle steht ein Auszug aus Tal der Herrlichkeiten von Anne Weber gegenüber. »Grauenvoll!« urteilt Moritz. Der Text thematisiert eine gefühlsintensive Begegnung zweier Liebender – und wählt dafür eine Vielzahl sprachlicher Bilder, wie die eines »lebendigen Stocks« für den Penis. Der Grund für das Misslingen dieser Stelle liegt laut Hartwig in ihrem Ernst: Sie ist nicht ironisch und gerade deshalb »irgendwie peinlich.« Bekräftigend betont Moritz die Rolle des Vokabulars. Das Verb »überschäumen« erinnere eher an eine Waschmaschine, als an Erotik. Immerhin habe er damit aber den Beweis, dass Frauen nicht anders schreiben als Männer, gefunden. Es ginge in Anne Webers Roman martialisch zu, »wie in einem Baumarkt.«

Das Fehlen des pornografischen Vokabulars sieht Hartwig auch in einem Auszug aus Michael Kleebergs Roman Karlmann als Qualitätsmerkmal. Ein männlicher Protagonist antizipiert hier die Gefühlswelt seiner Sexpartnerin, ohne diese sprachlich mit ihr zu thematisieren. Die Konzentration auf das eigene Erleben wird dabei auf das Objekt der Begierde projiziert, wobei eine imaginierte Ebene entstehe. An dieser Stelle nimmt die Ernsthaftigkeit des Gesprächs über die Raffinessen literarischer Konstruktion zu. Die eigene Fantasie werde beim Lesen erotischer Literatur mitunter fremdbestimmt, wodurch des trotz der ersehnten körperlichen Nähe zu einer Distanz zwischen den Sexualpartnern käme. In dem Zusammenhang betont Moritz den Unterschied zwischen einem positiven Entrückungszustand in der Sexualität und dem übermäßigen reflektieren, das wiederum auch ein Hemmnis darstellen könne.

Die Distanz in Philipp Roths Das sterbende Tier wirkt da im Vergleich schon um einiges greifbarer. Es handelt sich in erster Linie um eine Frage des Alters: An der ausgewählten Stelle hat ein älterer Mann eine Liaison mit einer 22-jährigen. Die Kommentare des Protagonisten über die Sexpartnerin zirkulieren hier zwischen einem väterlich-belehrenden und einem seniorenhaft-ablehnenden Ton. Es gibt Gesten des Armtätschelns neben Bemerkungen darüber, dass das junge Alter ein Hindernis für sexuelle Hingabe sei. Hartwig fragt ihren Gesprächspartner, ob er den Auszug ausgesucht habe, denn eine »klasse Stelle« für dieses Gespräch sei das allemal. Hier lenkt sie den Fokus auf das Wort »kommen« für die Umschreibung des Orgasmus, dessen Gebrauch sie im literarischen Kontext allerdings für einen Ausdruck »poetischer Impotenz« hält.

Dialektik der sexuellen Befreiung

»Guten Tag, ich bin 33 und mein Gehirn läuft aus.«, heißt es in Im Stein von Clemens Meyer (zur Rezension von Malte Gerloff auf Litlog hier). Die Ich-Erzählerin, eine Prostituierte, gibt hier ihre Gedanken- und Gefühlswelt in einem äußerst frivolen Duktus wieder. So bezeichnet sie ihren Liebhaber beispielsweise recht ungeniert als »Privatlecker«. Hartwig begrüßt es, dass Frauen und insbesondere Prostituierte hier nicht mehr als nur Projektionsflächen männlicher Fantasien dienen, sondern selbst als handelnde Subjekte in Erscheinung treten. Mit bemerkenswerter Akkuratesse werde so der kalte Blick der Freier auf diese zurückgeworfen, ohne dass die Frau dabei ihrerseits als kalt dargestellt wird.

Eine Auseinandersetzung über literarisch-erotischen Slapstick, über die Onanierolympiade in Günter Grass Novelle Katz und Maus sowie deren Verbot deutet auf die Notwendigkeit hin, sich überhaupt schreibend mit der Sexualität auseinander zu setzen . Dabei drängt sich Hartwig die Frage auf: Wie schreibt man über Sexualität nach der Befreiung der Sexualität?

Moritz diagnostiziert kundig einen »ganz anderen Druck«, unter dem Literaten heute stünden. Hartwig spezifiziert diesen als: »Sex haben wollen müssen« und verweist damit auf den Frankfurter Sexualwissenschaftler Sigusch, der die sexuelle Befreiung dialektisch betrachtet. Anhand seiner eigenen Erfahrung beobachtet Moritz auch einen Wandel in der Rezeption: Die jugendliche Aufregung über die berüchtigte Heubodenstelle in Narziss und Goldmund wird durch deren gleichgültiges Überlesen im Erwachsenenalter abgelöst. Der berühmte Gedankenstrich in Kleists Novelle Die Marquise von O… erscheint heute bieder und die sexuell scheinbar unschuldige Stelle des Luftmatratzenaufblaswettbewerbs bei Siegfried Lenz kann boshaft in ein anderes Licht gerückt werden – sie sei in ihrer unfreiwilligen Komik der »beste schlechteste Sex«.

Der schlechteste gute Sex

Wie als hätte es darauf gewartet, hört das Publikum nun endlich, merklich aufgekratzt und lachbereit, eine Passage aus 50 Shades of Grey, in der das sexuelle Erwachen der Protagonistin beschrieben wird. Zum Vergleich wird eine Stelle aus Harold Brodkeys Unschuld herangezogen, die ebenfalls den ersten Orgasmus einer weiblichen Figur behandelt. Hier wird das Thema allerdings weitaus nüchterner angegangen. Es gehe ohnehin nur vermeintlich um ähnliche Dinge, so Moritz. Vielleicht handelte es sich um den versuchten Transfer der selbstverständlichen literarisch-qualitativen Unterscheidung von Trivial- und Hochkultur auf thematischer Ebene. Etwas wehmütig tritt in diesem Zuge die Einsicht ein, dass der zeitliche Rahmen der beherzten Diskussion einen Schluss setzen muss.

Ein buntes Zusammensein fand an diesem Abend statt: witzige, erotische und biedere Literatur, eine grandiose Vorleserin, zwei neugierige und humorvolle Literaturbegeisterte, schlaue sprachliche bis literatursoziologische Erkenntnisse und ein Publikum, dessen Gesichtsmuskulatur viel mitmachen musste. Ein letzter Blick auf die schöne Aphrodite verrät: Zeuge von miesem Sex zu sein, muss keine Auswirkungen auf eine würdevolle Haltung haben.



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 Veröffentlicht am 23. Oktober 2015
 Bild mit freundlicher Genehmigung vom Literarischen Zentrum Göttingen
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