Impressum Disclaimer Über Litlog Links
Positionen
Neue Meinungsmacher?

Unter dem Titel »Jetzt reden wir« – Buch-Blogger: Die neuen Meinungsmacher der Literatur? veranstalteten wir eine Podiumsdiskussion im Literarischen Zentrum Göttingen. Es debattierten Harun Maye und Stefan Mesch. Ihre Eingangsstatements publizierten wir vorab hier auf Litlog.

Von Stefan Mesch und Harun Maye

53 Fragen von STEFAN MESCH

Theodore Sturgeon sagt: 9 von 10 Dingen sind Schrott. In jeder Kunstgattung, in jedem Genre, in jeder Produktpalette, in jeder denkbaren Kategorie. Theodore Sturgeon sagt: Das ist nicht schlimm. Das gehört dazu.

Aber heißt das, ich muss 10 Bücher lesen, um eines zu lieben?

Aber heißt das, ich muss 100 Bücher anlesen, um 10 zu finden, die ich lesen will?

Aber heißt das, ich muss 1000 Büchern hören, um 100 zu finden, die ich anlesen will?

Oder sind, von 1000 Büchern, 100 eigentlich recht gut, gelungen, lesenswert?

Wie viel muss ich über ein Buch wissen, um zu denken: »Super. Will ich lesen!«?

Wie viel muss ich wissen, um zu denken: »Super. Das kann ich ignorieren. Ich darf sterben, ohne vorher 5 bis 10 Stunden mit diesem Autor verbringen zu müssen.«?

Lese ich Rezensionen, weil ich ein Buch lesen will? Oder weil ich hören will, dass ich es nicht lesen muss?

Wie lange gebe ich einem Buch […Film? …Serie?], um mich zu überzeugen? Letztes Jahr las ich über 1000 Romane an – aber nur ca. 90 zu Ende. Von fast 50 würde ich heute sagen: »Ich wünschte, ich hätte sie doch nicht gelesen. Ich wünschte, ich könnte in der Zeit zurück reisen und mir selbst sagen: Stefan – spar dir dieses Buch.«

Wie viele schlechte Bücher kann ich lesen, bevor meine Stimmung kippt und ich mich frage, ob Literatur AN SICH schlecht ist?

Wie vielen schlechten Fantasy-Büchern, Vampir-Romanzen, Lyrikbänden, Krimis darf ich mich aussetzen, bevor ich sage: »Dieses Genre ist nichts für mich«?

Wie viele Vampir-Romanzen müsste ich als Kritiker lesen, um einen Artikel für Nicht-Vampir-Romanzen-Fans schreiben zu können mit einer Empfehlung wie: »Falls Sie nur EINE Vampir-Romanze lesen: Nehmen Sie diese«?!

Will ich als Leser auf dieses große, versteckte Vampir-Romanzen-Highlight hingewiesen werden? Oder kann ich Genres links liegen lassen, mein ganzes Leser-Leben lang, ohne Angst, viel zu verpassen?

Wer hätte größere Chancen, das Vampir-Romanzen-Highlight zu entdecken: Der Vampir-Romanzen-Fan oder der Vampir-Romanzen-Skeptiker? Und wessen Artikel dazu würde ich lieber lesen?

Lesen Fantasy-Fans lieber die Empfehlungen anderer Fantasy-Fans? Lese ich selbst, als Nicht-Fan, lieber die Rezensionen von Nicht-Fans? Experten? Amateuren? Kennern? Außenseitern? Für welche Leserschaft schreibe ich Rezensionen? Für möglichst viele Leute, die, im Zweifelsfall, sehr, sehr wenig Grundwissen, Geduld und Interesse mitbringen? Sind das die »besten«, nützlichsten Rezensionen?

Welchen Nutzen möchte ich aus einer Rezension ziehen? Wann reicht ein einfaches »2 von 5 Sternen. Blödes Buch. Langweilige Figuren. Schlechter Stil«?

Will ich als Rezensent tendenziell mehr Leser zu Büchern bringen – oder Leser vor schlechten Büchern bewahren?

Will ich ein Buch kaufen und lesen, das einen Goodreads-Score unter 3.2 hat? Unter 3.5? Unter 3.8? Einen Film sehen, den IMDb unter 6.0 wertet? Unter 7.0?

Werden Bücher, die kollektiv als Ramsch gewertet werden, diskriminiert? Ins Abseits gedrängt – vom kollektiven Geschmacksdiktat einer Mehrheit?

Wie viele Lieblingsbücher anderer Menschen lese ich und denke: »Hm.«?

Wessen Lieblingsbücher würde ich am liebsten lesen?

Kathrin Passig beobachtet bei persönlichen Buchgeschenken und im Musik-Social-Network last.fm: Ihre Lieblingsmenschen tragen selten Lieblingsbücher oder Lieblingsmusik in ihr Leben. Selbst wenn zwischenmenschlich sehr viel stimmt / passt: Buch-, Film-, Musikgeschenke und -tipps ihrer Freunde taugen oft gar nichts.

Sind Menschen, die dir am ähnlichsten sind oder am nächsten stehen auch die Menschen mit den besten Empfehlungen?

Und die besten Literaturkritiker auch die Leser, die Wünsche und Geschmack möglichst vieler Menschen / breiter Massen nachvollziehen können?

Falls es mehr Menschen / Leserinnen wie Elke Heidenreich gibt als Menschen / Leser wie DICH – hat Elke Heidenreich dann den Vorteil als Kritikerin, mehr Menschen / Lesern aus dem Herzen sprechen zu können?

Heißt das in letzter Konsequenz, der für die Masse nützlichste Literaturkritiker spricht, erklärt, wertet und empfiehlt für die größte denkbare Leserschaft?

Wie viel muss ich über einen Literaturkritiker / Rezensenten wissen, um seine Maßstäbe, Ansprüche, Sprechposition und Glaubwürdigkeit beurteilen zu können?

Wie viel WILL ich über solche Leute wissen? Sind die Urteile von Leuten, über die ich VIEL weiß, für mich leichter zu gewichten? Falls ja: Hat jeder Kritiker die Aufgabe, sich möglichst exponier- und sichtbar zu machen, für die Leser seiner Texte?

Was wäre mir lieber: eine »100 aktuelle Bücher, die JEDER gelesen haben muss«-Liste… oder eine Liste »100 aktuelle Bücher, die sich jeder sparen kann«?

Was unterscheidet eine Kritik von einer Empfehlung? Gibt es »gute« Bücher, die nicht »empfehlenswert« sind?

Vielleicht sagt eine Kritik: »Schau auf dieses fremde Land. Ich zeige dir die Menschen, die Kultur, die Städte, die Werte, die politischen Konflikte. Ich erkläre, wie dieses Land im Kontext seiner Nachbarn funktioniert.« Vielleicht sagt eine Empfehlung: »Traumstrände! Sonne! Tolles Essen! SO hast du die allerbeste, vergnügte Zeit. Und / aber HIER reise bitte keinesfalls hin.«

Will ich für diese »Bücherwelt«-Reiseführer schreiben oder (politische? gesellschaftskritische?) Reportagen aus den weniger attraktiven »Ländern«? Buchregionen? Nischen? Brennpunkten?

Ijoma Mangold sagt, Buchkritiker treffen eine Selektion. Im Netz schimpften daraufhin Laienkritiker, Blogger und freie Journalisten: »Entlarvt! Die ZEIT-Autoren sehen sich als selbstherrliche Gatekeeper. Und benutzen dabei unreflektiert Nazi-Vokabular wie ‘Selektion’.« Brauchen wir eine Auswahl? Sollte sie von ZEIT-Kritikern getroffen werden? WIRD sie von ZEIT-Kritikern getroffen?

Will ich als Leser / Kritiker neue Bücher ins Gespräch bringen – oder lese ich, um mich an den vorhandenen, laufenden Gesprächen beteiligen zu können?

Habe ich Angst, etwas zu verpassen? Habe ich die Verpflichtung, etwas lesen zu MÜSSEN? Muss ich Harry Potter durchlesen? Ein Lied von Eis und Feuer? Die Blechtrommel?

Muss ich einen Kanon aus 1000, 1500 Büchern lesen, auf die wir uns – als Kultur – verständigt haben? Muss ich Lücken in diesem Kanon begründen? Bin ich ein schlechter Kritiker, wenn ich diese Bücher nicht kenne? Was wäre klüger für meine Ausbildung als Kritiker: im nächsten Jahr 200 möglichst wichtige Bücher abzuhaken – oder 200 völlig unbekannte Bücher neu zu entdecken?

Macht es mehr Spaß, zu loben oder zu verurteilen?

Macht es ANONYM mehr Spaß, zu loben oder zu verurteilen?

Bei Amazon kauft eine Privatperson ein Buch für eigenes Geld, liest es in ihrer Freizeit – und sagt sich dann »Jetzt investiere ich 30 Minuten und schreibe eine Gratis-Rezension«. Als Autor für ZEIT Online kann ich Presse-Exemplare gratis bei Verlagen anfordern. Verbringe drei, vier Tage mit Buchauswahl, Lektüre und Rezension. Verdiene knapp 150 Euro. Ist der Text, den ich schreibe, »wertvoller« als die Amazon-Rezension?

Wie viel wertvoller – und für wen: Für Leser? Für Verlage?

Empfehlungen. Rezensionen. Literaturkritik. Produktbewertungen. Große Texte für ein breites Publikum. Fans. Blogs. Persönliche Buchtipps. Kuratieren – für die Massen oder für den Einzelnen: Gibt es von allem genug? Gibt es von irgendwas ZU VIEL? Stehen sich diese Formen gegenseitig im Weg?

Viele meiner Freunde »glauben« nicht an Rezensionen: Spezifische Geschmacksurteile spezifischer Menschen, die so oft falsch liegen wie richtig.

Viele meiner Freunde »glauben« auch nicht an längere Texte im Feuilleton, die Bücher einordnen und kontextualisieren. Denn falls sie das Buch lesen wollen, »machen sie sich lieber selbst ein Bild«. Und falls nicht, ist ihnen der Feuilleton-Text in 9 von 10 Fällen völlig egal.

Freundin Wiebke schreibt: »Rezensionen helfen mir nur, wenn sie kritisch sind. Zwischen einem ´anspruchsvollen und großartigen´ Roman und einem ´großartigen und anspruchsvollen´ Roman kann ich nicht unterscheiden.« Ich setze dagegen: Mir reicht das schon. Im Zweifelsfall lese ich beide Bücher an.

Freundin S. denkt, eine Elektro-Zahnbürste erfüllt eine Funktion. Wenn sie diese Funktion sehr gut erfüllt, bekommt sie auf Amazon von vielen Menschen möglichst viele Sterne. Ein Buch erfüllt keine derart klare Funktion – und falls es zu vielen Amazon-Kunden ZU gefällig etwas »liefert«, das deren Lektüre-Zweck »gut erfüllt«, wird sie schnell skeptisch / unzufrieden.

Kann ich Blogger UND Feuilleton-Autor sein? Kritiker UND Fan? Experte UND Leser, der den Massengeschmack im Auge behält? Kann ich Sternchen verteilen UND Listen bloggen UND lange Texte schreiben? Jeweils andere Formen – für jeweils andere Leser?

HARUN MAYEs Kritik an der Kritik

»Fatalerweise hat sich das Feuilleton dieser Form – nennen wir es
besser Literaturbesprechung, denn Literaturkritik findet ja kaum noch
statt – stilistisch und personell weitgehend angepasst. Man hat sich
in den Redaktionen offenbar auch für eine Inflation von Starporträts
in farbigen Bildern, eine Deflation von Kritik und die Renaissance des
Adjektivs entschieden.

Man schreibt nicht ausgehend von Problemstellungen, sondern von Themen und Persönlichkeiten oder ganz schlicht den eigenen Befindlichkeiten. Wichtig sind das Leben, die Individualität oder Geschichte eines Künstlers oder Genres. Das führt zu einem motivierten und intimen Verhältnis zwischen dem Schreibenden und dem von ihm Beschriebenen.

Die Titelgeschichten handeln nicht mehr von den Konstruktionen der Literatur, sondern von Fame- und Fangeschichten. Der Journalist trifft den Autor, Künstler oder Schauspieler. Das ist schon der ganze Text. Den Anekdoten fügt man eigene Anekdoten hinzu. Meet & Greet. Oft hat man den Eindruck, dass der Wille zum Interview die festangestellten oder freien Fragesteller so sehr beherrscht, dass sie ganz vergessen haben, was sie eigentlich fragen wollten.«1

  1. unveröffentlichter Ausschnitt aus einem Interview mit Oliver Jungen in der FAZ vom 14.10.2011; zitiert und veröffentlicht von und bei Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Berlin 2013, S. 279-280.


Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 23. Mai 2014
 Foto von Litlog
 Teilen via Facebook und Twitter
 Artikel als druckbares PDF laden
 RSS oder Atom abonnieren
 Keine Kommentare
Ähnliche Artikel
  • Hungrig bleibenHungrig bleiben Ein Bericht zur Podiumsdikussion über Buch-Blogger von Miriam Gräfenstein.
  • Buh!Buh! Ein Gespenst geht um im deutschen Literaturbetrieb. Ein Essay von Peer Trilcke.
  • Ins Netz gegangenIns Netz gegangen Print oder digital? Ein Abend über Literaturvermittlung im Zuge des Medienwandels.
  • Ein Podcast zum JubiläumEin Podcast zum Jubiläum Litlog wird zehn und zu diesem Anlass präsentieren wir unseren ersten Podcast.
  • Fluch der SemantikFluch der Semantik Alle reden von »den Piraten«. Archäologie eines Begriffs - ein Kommentar von Ole Petras.
Keine Kommentare
Kommentar schreiben

Worum geht es?
Über Litlog
Mitmachen?